Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der kroatischen Tageszeitung Večernji list anlässlich des offiziellen Besuchs in der Republik Kroatien ein Schriftinterview gegeben, das am 20. März erschienen ist.
Viele Kroaten sind auch weiterhin nostalgisch gegenüber Deutschland wegen der Unterstützung der kroatischen Unabhängigkeit, aber auch weil in Deutschland viele Kroaten Arbeit gefunden und sich somit ihre Existenz gesichert haben. Was aber sollte heute die Basis für die Beziehungen der beiden Länder sein? Wie bewerten Sie die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit Kroatiens und Deutschlands?
Für mich ist das keine Nostalgie. Für mich ist diese besondere menschliche Verbundenheit, sind 370.000 Kroaten in Deutschland das, was den ganz besonderen Charakter der deutsch-kroatischen Beziehungen ausmacht. Und das ist ja keine Einbahnstraße: Viele Deutsche schätzen Kroatien, ob als Urlaubsziel mit reicher Geschichte und mediterranem Flair oder als attraktiven Standort für deutsche Firmen. Unsere wirtschaftliche, kulturelle und politische Zusammenarbeit ist sehr eng. Mit dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union hat sie noch einmal einen kräftigen Impuls bekommen. Mein erster Besuch als Bundespräsident in Ihrem Land hat eine klare Botschaft: Kroatien ist für Deutschland ein wichtiger und wertvoller Partner. Zugleich steckt in unseren Beziehungen noch viel Potenzial. So sind unsere direkt aufeinanderfolgenden EU-Ratspräsidentschaften im nächsten Jahr eine große Chance, unsere gute Zusammenarbeit weiter auszubauen.
Als größten Vorteil der EU-Mitgliedschaft bezeichnen die Kroaten die Mobilität, die Freizügigkeit innerhalb der EU. Diese Mobilität ist aber bisher fast eine Einbahnstraße. Was tut Deutschland, damit seine eigenen Arbeitskräfte die Mobilität am besten nutzen und man von Brain Circulation spricht, wohingegen in Kroatien vor allem von Brain Drain die Rede ist?
Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit in der Europäischen Union bedeuten vor allem zusätzliche Chancen für jeden Einzelnen. Sie ermöglichen kulturelle Bereicherung und persönlichen Erfahrungsgewinn. Diese Mobilität ist zugleich ein wesentliches Element des gemeinsamen Binnenmarktes, dessen offene Grenzen auch Kroatien zugutekommen. Ich weiß, dass Deutschland das Ziel vieler Kroatinnen und Kroaten ist und dass Fragen der Abwanderung bei Ihnen auch kontrovers diskutiert werden. Entgegen einer weit verbreiteten Wahrnehmung wandern aber nach Deutschland nicht nur Menschen ein, sondern es wandern auch viele aus. 2017 etwa haben über eine Million Menschen Deutschland verlassen. Unabhängig von dieser Entwicklung geht es in allen EU-Staaten darum, den Menschen im eigenen Land eine glaubwürdige und attraktive Perspektive anzubieten – und zwar durch überzeugende Reformen und Rahmenbedingungen. Deutschland unterstützt Kroatien dabei, wo immer es möglich ist, zum Beispiel durch Kooperation bei der dualen Berufsausbildung.
Müssen die Kroaten Angst vor dem Euro haben? Die Kritiker des Euro sagen, die gemeinsame Währung sei vorteilhaft nur für die größten Volkswirtschaften, vor allem Deutschland.
Der Euro hat immer seine Kritiker gehabt. Aber er ist Teil des europäischen Projekts und Ausdruck der tiefen Überzeugung, dass eine gute Zukunft für uns Europäer nur gemeinsam möglich ist. Für den Euro-Beitritt gibt es vereinbarte Kriterien, deren Erfüllung für die Stabilität aller Volkswirtschaften von großem Vorteil ist. Ich denke, das Beispiel Ihres Nachbarn Slowenien zeigt, dass auch kleinere Volkswirtschaften von den Vorzügen der gemeinsamen europäischen Währung profitieren. Wir freuen uns jedenfalls, dass Kroatien dem Euro beitreten möchte und daran arbeitet, die Kriterien zu erfüllen.
Wie sehen Sie die Zukunft der EU? Sollte es mehr oder weniger Integration der Mitgliedsstaaten geben? Kann das europäische Integrationsprojekt überleben, wenn wir einerseits die Abschaffung von Grenzen durch Schengen haben, andererseits aber an den europäischen Grenzen Zäune hochgezogen werden? Ist eine stabile EU möglich, wenn die Einkommensunterschiede innerhalb der EU so groß sind? Das Durchschnittseinkommen in Kroatien ist dreimal niedriger als in Deutschland.
In den kommenden Monaten steht für Europa viel auf dem Spiel. Wir stehen mit dem Brexit erstmals vor dem Austritt eines Partners aus der EU. In zwei Monaten finden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Die Bürgerinnen und Bürger werden über sehr unterschiedliche Entwürfe für Europas Zukunft entscheiden. Meine Überzeugung ist: Nur als wirklich einige und gleichberechtigte Gemeinschaft werden die Staaten Europas in der Welt von morgen Gehör finden und unserer Stimme Gewicht geben. Wir brauchen daher eine starke, handlungsfähige EU mit gemeinsamen Institutionen. Der Rückzug ins Nationale ist weder die richtige Lehre aus den Kriegen der Vergangenheit noch das richtige Rezept für die Herausforderungen der Zukunft – von der Migration über den Klimawandel bis hin zur Digitalisierung. Er ist auch nicht das richtige Rezept, um die Lebensbedingungen in Kroatien und in Deutschland schneller einander anzugleichen. Ich wünsche mir, dass die Menschen in Kroatien, in Deutschland und überall in der EU die Wahlen zum Europäischen Parlament nutzen, um dieser Idee eines starken Europa ein starkes Mandat zu geben.
Wie lange wird das Thema Migration im Fokus sein? Ist es möglich, eine gemeinsame europäische Antwort zu finden? Bisher gibt es sie nicht. Kroatien lässt z.B. an den EU-Außengrenzen keine Migranten einreisen. Auch wenn es die Migranten bis nach Kroatien schaffen, wollen sie nicht in Kroatien bleiben, sondern in Richtung Westen weiterreisen, meistens nach Deutschland. Wie sollten sich Kroatien als Ersteinreiseland und Deutschland als Zielland hier positionieren?
Der Umgang mit den Herausforderungen von Flucht und Migration hat viele unserer Gesellschaften stark polarisiert und auch innerhalb der EU zu tiefen Gräben geführt. Eine gemeinsame europäische Antwort ist deshalb dringend nötig. Mich leiten dabei drei Gedanken. Erstens darf uns die Not von Menschen niemals gleichgültig sein. Im Gegenteil: Wir müssen noch mehr tun, um Frieden zu stiften und die Lebenschancen gerade in vielen Ländern Afrikas zum Besseren zu wenden. Zweitens gilt, dass wir politisch verfolgten Menschen nur dann auch in Zukunft gerecht werden können, wenn wir unterscheiden, wer tatsächlich politisch verfolgt oder wer auf der Flucht aus wirtschaftlicher Not ist. Auch wenn sich hinter beiden Fluchtgründen harte menschliche Schicksale verbergen, führen sie nicht zu dem gleichen Anspruch auf Aufnahme in Europa. Und drittens: Wir müssen legale Zugänge nach Europa definieren, die die Migration nach unseren Maßgaben kontrollieren und steuern. Um in diesen Fragen zu praktischen europäischen Lösungen zu gelangen, müssen alle Beteiligten auf ideologische Zuspitzungen verzichten. Auch wenn es schwer ist, meine ich doch, dass wir in Europa im Bemühen um eine faire Lastenverteilung bei der Aufnahme von Menschen, die aufgrund von politischer Verfolgung oder Bürgerkrieg Schutz suchen, nicht nachlassen sollten.
Hier in Kroatien ist erneut die Debatte um den Za-dom-spremni
-Gruß [von Ustascha im Zweiten Weltkrieg sowie im Kroatienkrieg von paramilitärischen Verbänden (HOS) verwendet] in den Vordergrund gelangt – es gibt keine Klarheit, wie mit Symbolen totalitärer Regime umzugehen ist. Wie hat Deutschland die eigene Vergangenheit aufgearbeitet – sowohl die nationalsozialistische als auch die kommunistische? Gibt es diesbezüglich auch rechtliche Regelungen?
Deutschland hat vor dem Hintergrund seiner eigenen schmerzhaften Geschichte anderen Ländern keine Ratschläge zu erteilen. Ich kann aus unserer Erfahrung heraus nur sagen, dass die selbstkritische Aufarbeitung der Vergangenheit nach dem politischen und moralischen Zusammenbruch von Holocaust und Zweitem Weltkrieg die Voraussetzung für das Geschenk der Versöhnung war – mit Frankreich, mit Polen und vielen anderen, denen das nationalsozialistische Deutschland unerträgliche Gewalt angetan hat. Besonders dankbar sind wir heute für die guten Beziehungen zu Israel. Aber dieser Prozess der Aufarbeitung ist nicht abgeschlossen, und er darf sich nicht nur auf die Vergangenheit richten. Er muss auch die Zukunft in den Blick nehmen. Das Zeigen und Tragen der Symbole des nationalsozialistischen Regimes ist in Deutschland strafrechtlich verboten. Diese Regelung gehört zu unseren Lehren aus der Unrechtsherrschaft. Zu diesen Lehren gehört aber auch das konsequente Eintreten gegen alle Formen von Fremdenhass und Antisemitismus.
Der Populismus ist in Europa im Aufschwung. Wie gegen Populismus kämpfen? Wie gehen wir mit Staatsleuten um, die sich des Populismus bedienen bzw. populistisch agieren?
Wir leben in einer Zeit schneller technologischer und gesellschaftlicher Veränderung. Das löst bei Menschen Verunsicherung, Sorgen und sogar Ängste aus. Darüber müssen wir offen und auch kontrovers debattieren, wie es einer Demokratie angemessen ist. Dabei gilt zugleich das Gebot des Respekts im Umgang miteinander – das schließt Herabsetzung, Hass und Bedrohung anderer Menschen aus. Die größte Herausforderung für Politiker ist es, konkrete Lösungen für drängende Probleme zu finden und zugleich überzeugende Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Wir brauchen Zuversicht und Mut sowie einen genauen, differenzierenden Blick, der auf die Kraft der Vernunft setzt.
Die Fragen stellte Sandra Veljković