Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat ein Interview gegeben, das am 17. September erschienen ist:
Herr Bundespräsident, wie sehen Sie Ihre Rolle als Staatsoberhaupt in dieser Zeit, in der die Weltordnung einen fundamentalen Umbruch erlebt und auch Deutschland politisch sehr gespalten ist?
Wir leben, wie Sie sagen, in Zeiten des Umbruchs – international, aber auch bezogen auf die Entwicklungen in Europa und Deutschland. Gerade in diesen Zeiten, in denen uns viele vermeintliche Gewissheiten verlorengehen, die Polarisierung zunimmt, sehe ich meine Aufgabe darin, Orientierung zu vermitteln. Das bedeutet für mich: für Gesprächsbereitschaft und Respekt über Meinungsunterschiede hinweg zu werben und deutlich zu machen, dass wir alle – Politik und Gesellschaft – für mehr Zusammenhalt arbeiten müssen. Dazu gehört, Probleme und Konflikte klar zu benennen und zu lösen. Denken Sie zum Beispiel an die nicht immer einfache Integration von Flüchtlingen. Dazu braucht es eine lösungsorientierte Politik, gerade auf kommunaler Ebene, und eine aktive Bürgergesellschaft. Bei meinen Reisen durch Deutschland erlebe ich, wie viele Menschen im Land anpacken und dafür sorgen, dass die Bundesrepublik eine lebendige Demokratie bleibt. Eine starke Demokratie und ein durchsetzungsstarker Rechtsstaat gehören für mich zusammen.
Herr Bundespräsident, was erhoffen Sie sich von Ihrem Besuch in Finnland und was sind Ihre Schwerpunkte und Erwartungen mit Blick auf die deutsch-finnischen Beziehungen?
Deutschland und Finnland sind auf eine ganz besondere Weise verbunden. In unserer schnelllebigen Zeit ist es gut, wenn wir uns gelegentlich an die tiefen Wurzeln der finnisch-deutschen Freundschaft erinnern – in der Kultur, in der Wirtschaft, auch im deutschen Beitrag zur finnischen Unabhängigkeit vor hundert Jahren. Heute sind wir in fast allen Fragen gleichgesinnte Partner. Wir suchen intensiv und oft in direkter Zusammenarbeit nach Lösungen. Ich bin sicher, dass dieser Staatsbesuch dazu beiträgt, diese vielen, auch persönlichen Verbindungen zwischen Finnland und Deutschland zu stärken. Deshalb freue ich mich auf die drei Tage in Ihrem Land, und ich bin Präsident Niinistö dankbar, dass er sich viel Zeit nimmt für einen intensiven Austausch. Wir werden über die Zukunft unserer Gesellschaften in der Digitalisierung sprechen, über das Verhältnis zu Russland, über die Zukunft Europas. Und ich freue mich auch darauf, Oulu zu besuchen, einen Teil Finnlands, den ich bisher noch nicht kenne. Dort werden die Folgen technologischer Innovationen für unsere Gesellschaft und der Klimaschutz Schwerpunkte sein. Da können wir Deutsche viel von Finnland lernen.
Nach dem Brexit ist die EU auf der Suche nach sich selbst. Es gibt unterschiedliche Pläne für einen Neustart der EU. Deutschland ist der größte EU-Staat. Für wie kritisch halten Sie die Lage, wohin möchten Sie die Debatte führen und was für eine Rolle sollte Finnland künftig in der EU spielen?
Die Welt um Europa herum verändert sich dramatisch. Russland definiert seine eigene Zukunft eher in Abgrenzung zu Europa als in Kooperation, Chinas Aufstieg verschiebt die globale Kräftebalance, Großbritannien verlässt die EU, und die USA zweifeln an ihrer eigenen Rolle. Das alles bleibt nicht ohne Folgen für den Kurs der Europäischen Union. Hinzu kommen die Krisen der vergangenen Jahre, die zu Brüchen und Fragmentierungen innerhalb der EU geführt haben, in der Finanz- und Eurokrise ebenso wie beim Umgang mit Flucht und Migration. Für mich ist entscheidend, dass wir die elementare Bedeutung des inneren Zusammenhalts der EU nicht aus dem Blick verlieren. Solange uns diese Bedeutung klar vor Augen steht, bin ich zuversichtlich, dass wir auch für die schwierigsten praktischen Fragen konkrete Lösungen und Kompromisse finden können. Kritisch wird es für mich dort, wo dieser innere Zusammenhalt Europas für kurzfristige innenpolitische Positionsgewinne grundsätzlich in Frage gestellt oder ganz bewusst gegen Brüssel
Stimmung gemacht wird. Das gemeinsame Europa kann nur mit offenen Gesellschaften funktionieren. Und unsere einzelnen Staaten können in der Welt von morgen nur im europäischen Verbund bestehen. Allein werden wir zum Spielball, und unser Gesellschafts- und Sozialmodell werden wir so nicht erhalten können. Das gilt für Finnland, aber genauso für Deutschland als größten EU-Staat. Ich sehe unsere beiden Länder hier im selben Boot. Finnland hat bei der Wahrung des europäischen Zusammenhalts ein wichtiges Wort mitzureden.
Die Weltordnung erlebt einen fundamentalen Umbruch. Es gibt dafür viele Anzeichen: von der ständigen Auseinandersetzung über die Finanzierung der NATO über unterschiedliche Vorstellungen, wie mit der Migration umzugehen ist bis hin zu wachsenden Anzeichen von Autoritarismus in Osteuropa. Herr Bundespräsident, scheitert Europa? Und welche Art von Politik ist jetzt nötig?
Wir haben in Europa Institutionen geschaffen, die uns nicht nur die wohl längste Friedensphase in der Geschichte unseres Kontinents gebracht haben, sondern die es uns auch noch ermöglichen, so eng wie nie zuvor zusammenzuarbeiten. Und schließlich – das ist das Wichtigste – die uns erlauben, unsere Differenzen vernünftig und friedlich beizulegen. Ich lasse das Argument nicht gelten, dass Kompromisse immer faul
sein müssen, nur weil alle Seiten nachgeben, damit sie zustande kommen. Und ein Scheitern Europas
ist für mich auch keine Option. Die EU ist immer nur so gut wie die Mitgliedstaaten sie gemeinsam gestalten – meiner Ansicht nach ist jetzt der richtige Moment, um diese Erkenntnis für einen neuen Aufbruch zu nutzen. Mindestens aber für Kompromisse in wichtigen Fragen des Umgangs mit den Krisen in unserer Nachbarschaft, mit den Herausforderungen von Flucht und Migration, d.h. mit neuen Ansätzen in der gemeinsamen europäischen Asylpolitik, aber auch im Einwanderungsrecht.
Es heißt, ohne ein außen- und sicherheitspolitisch engagiertes Deutschland, das Europas Rolle in der Welt stärkt und Spaltungen im Innern Europas verhindert, wird es uns nicht gelingen, den derzeitigen Herausforderungen zu begegnen. Was bedeutet die neue stärkere Rolle Deutschlands konkret und sollte Deutschland selbstkritischer seine eigene Position neu ausrichten?
Deutschlands Außenpolitik ist – wie die Außenpolitik anderer Länder, auch Finnlands – stark von eigenen historischen Erfahrungen geprägt. Dazu gehört neben der Katastrophe des Nationalsozialismus auch die Aufbruchsstimmung nach den friedlichen Revolutionen von 1989. Heute müssen wir erkennen, dass manche unserer Erwartungen und Hoffnungen aus dieser Zeit zu optimistisch waren. Die Welt ist sehr viel unordentlicher
, als wir sie uns wünschen. Die Debatte darüber, welche Konsequenzen das für die deutsche Außenpolitik bedeutet, steht erst am Anfang. Aber mein Eindruck ist: In der deutschen Gesellschaft gibt es inzwischen mehr Verständnis dafür, dass aus Einfluss und wirtschaftlicher Stärke auch Verantwortung erwächst, die in konkretes Handeln übersetzt und mit den notwendigen Mitteln unterfüttert sein muss. Es ist deshalb gut, wenn die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der EU jetzt größere Schritte nach vorn macht. Es ist richtig, wenn wir darüber diskutieren, was ein souveränes Europa bedeutet und was es dafür an eigenen Anstrengungen braucht. Das alles ist nicht einfach für ein Land, das nach 1989 das historische Glück erfahren hat, nur noch von Freunden umgeben zu sein. Aber ich sehe, dass die Bereitschaft wächst, einer neuen Wirklichkeit ins Auge zu sehen.
Herr Bundespräsident, Russlands Politik spaltet Europa. Wie beschreiben Sie deutsche Russlandpolitik – was hat sich eigentlich verändert und was ist ihr Ziel? Wie verläuft die deutsche Russlanddebatte und warum heißt es, dass Ihre Russland-Politik anders war?
Mit dem Stand der deutsch-russischen und der europäisch-russischen Beziehungen kann niemand zufrieden sein. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und das russische Vorgehen in der Ost-Ukraine belasten natürlich auch unser Verhältnis zu Russland schwer. Wir wünschen uns bessere Beziehungen zu Russland, aber wir sind von normalen Beziehungen noch weit entfernt. Gleichwohl bleibt Russland Europas unverrückbarer Nachbar – wo wüsste man das besser als hier in Finnland. Deshalb kann unsere Antwort auf die russische Politik nicht allein in Abgrenzung und Abschottung bestehen. Wer die Vergangenheit nicht nur beklagen will, sondern in die Zukunft schaut, der muss gerade auch in schwierigen Zeiten das Gespräch suchen. Das kann in den kritischen Fragen auch deutlich ausfallen. Differenzen soll man benennen und nicht verschweigen. Ich jedenfalls habe das bei meinem Besuch beim russischen Präsidenten Putin im vergangenen Herbst so gehalten. Natürlich verbessern solche Gespräche nicht sofort die Situation. Aber ich bin sicher, dass Sprachlosigkeit nur die Risiken erhöht und keine neuen Optionen eröffnet. In diesem Ansatz weiß ich mich mit der deutschen Bundesregierung einig, aber auch mit Präsident Niinistö, und ich freue mich auf den Austausch mit ihm zu diesem Thema.
Was ist Ihrer Meinung nach gerade in Chemnitz los? Was bedeutet das und wie könnte eine Lösung aussehen?
Zunächst einmal ist ein Bürger von Chemnitz getötet geworden – das ist ein schlimmes Verbrechen, und ich teile die Erschütterung und Trauer vieler in der Stadt. Sie wurden allerdings instrumentalisiert, um Hass und Gewalt auf die Straßen zu tragen. Dagegen muss sich der Rechtsstaat entschieden zu Wehr setzen. Gewalt muss geahndet werden, egal von wem sie ausgeht, tätliche Angriffe ebenso wie Volksverhetzung. Alle Menschen müssen darauf vertrauen können, dass Polizei und Justiz entschlossen handeln und keine Rechtsbrüche zulassen. Gleichzeitig sind aber auch alle Bürger aufgerufen, Extremisten nicht den öffentlichen Raum zu überlassen, sondern für Recht und Demokratie Flagge zu zeigen und sich für den gesellschaftlichen Frieden zu engagieren. Ich verstehe, dass Vorkommnisse wie in Chemnitz bei unseren europäischen Nachbarn besondere Sorge auslösen. Zugleich teilen wir mit unseren Nachbarn und Partnern die Herausforderung, einem neuen Nationalismus nicht das Feld zu überlassen, sondern gemeinsam einzutreten für ein geeintes Europa des Rechts und der Demokratie.
Die Fragen stellte: Anna-Liina Kauhanen