Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Wochenmagazin Novoje Vremja anlässlich seines Besuchs in der Ukraine ein Schriftinterview gegeben, das am 29. Mai erschienen ist.
Halten Sie die Verhandlungen über die Ukraine im Normandie-Format aktuell für wirksam? Was muss getan werden, oder vielmehr was muss geschehen, damit Wladimir Putin einer Stationierung von VN-Friedenstruppen im gesamten besetzten Donbass zustimmt?
Natürlich sind sie nicht effizient genug. Aber was ist die Alternative? Ich kann nur alle Seiten auffordern, in diesen Prozess zu investieren. Die Verhandlungen des Minsker Prozesses sind zwar keine Lösung, aber ein Instrument, um die blutigen Auseinandersetzungen in der Ostukraine immer wieder unter Kontrolle zu bringen und noch größere Gewaltexplosionen und eine Ausweitung des Konflikts zu verhindern. Durch die russische Annexion der Krim und den offenen Konflikt in der Ostukraine ist ein enormer Schaden für die europäische Friedensordnung insgesamt entstanden. Der Minsker Prozess ist ein wichtiges Instrument, um diesen Schaden soweit wie möglich zu begrenzen. So tragisch und bitter dieser Konflikt ist: Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich im Minsker Verhandlungsrahmen noch Fortschritte erzielen lassen.
Als deutscher Außenminister habe ich mich jahrelang um Fortschritte auf dem Weg zur Lösung bemüht, in meiner neuen Rolle als Bundespräsident bin ich selbstverständlich nicht mehr Teil der Verhandlungen. Dennoch liegt mir die Zukunft der Ukraine am Herzen. Mir geht es mit meinem Besuch in Kiew und in Lviv vor allem darum, die Ukrainer auf ihrem Weg der Transformation und der Reformen zu begleiten und zu ermutigen. Ihr Land braucht starke, unabhängige Institutionen. Es braucht eine konstruktive politische Kultur. Der Konflikt macht das alles nicht einfacher, aber er macht es auch nicht unmöglich. Gerade mit Blick auf den Konflikt gewinnen diese Aufgaben noch an Bedeutung. Die Ukraine hat sich Dank des Mutes ihrer Menschen auf den Weg gemacht in eine Zukunft, die den Menschen mehr Freiheit, mehr Chancen, weniger Korruption, weniger Willkür bringen soll. Auf diesem Weg will Deutschland ihrem Land ein guter Partner sein. Aber die entscheidenden Schritte müssen hier getan werden.
Wie schätzen sie den aktuellen Stand der deutsch-russischen Beziehungen ein? Sind Sie zufrieden?
Mit dem Stand der deutsch-russischen bzw. der europäisch-russischen Beziehungen kann niemand zufrieden sein. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und das russische Vorgehen in der Ostukraine belasten natürlich auch unser Verhältnis zu Russland schwer. Wir wünschen uns bessere Beziehungen zu Russland. Aber Russland definiert seine Zukunft heute stärker in Abgrenzung zum Westen als in Kooperation. Gleichwohl bleibt Russland Europas unverrückbarer Nachbar – und vor allem auch Nachbar der Ukraine. Deshalb kann unsere Antwort auf die russische Politik nicht allein in Abgrenzung und Abschottung bestehen. Wer die Vergangenheit nicht nur beklagen will, sondern in die Zukunft schaut, der muss gerade auch in schwierigen Zeiten das Gespräch suchen. Es liegt keine Garantie auf Verbesserung darin. Sicher ist nur, dass Sprachlosigkeit Risiken erhöht und keine neuen Optionen eröffnet. Die jüngsten Gespräche der deutschen Bundesregierung in Moskau und Sotschi dienten dazu, genau dies auszuloten.
Was versprechen Sie sich von Wladimir Putin während seiner neuen Amtszeit? Was sollten Deutschland und die Ukraine von einer weiteren Amtszeit erwarten?
Für mich ist wichtig, dass wir das ukrainisch-deutsche Verhältnis nicht ausschließlich aus der Perspektive des Konflikts mit Russland betrachten. Der Anlass für meinen Besuch ist das Deutsch-Ukrainische Sprachenjahr. 700.000 Menschen in der Ukraine lernen Deutsch, über 1.000 deutsche Firmen sind inzwischen hier im Land aktiv. Diese Dynamik will ich würdigen und wo immer möglich verstärken. Diese Vernetzung mit Europa wird die Ukraine allmählich verändern. Genau wie der visafreie Reiseverkehr, der vielen Ukrainerinnen und Ukrainern heute Möglichkeiten gibt, sich mit anderen europäischen Staaten noch intensiver und einfacher als zuvor vertraut zu machen. Wir sind gut beraten, die Transformation der Ukraine im Innern in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit zu stellen. Die deutsche Regierung und ihre EU-Partner haben viel politische Energie und viele Ressourcen investiert, um der Ukraine schmerzhafte und schwierige Anpassungen zu erleichtern. Vieles ist auf gutem Weg. Aber wir sehen nicht ohne Sorgen, dass es bei der Bekämpfung von Korruption und der Reform der Justiz auch Bestrebungen gibt, eher auf die Bremse zu treten.
Sehen sie politische Risiken, die sich aus der Weiterverfolgung des Nord-Stream-2-Projekts für Europa ergeben? Schließlich hat Russland wiederholt argumentiert, dass Öl und Gas weniger ein Geschäftsmodell als vielmehr ein Druckmittel seien.
Ich weiß – auch aus vielen Gesprächen mit ukrainischen Verantwortlichen –, dass dieses Projekt in der Ukraine sehr kritisch gesehen wird. Das haben wir nicht ignoriert, sondern wir nehmen die Sorge der Ukraine ernst, möglicherweise ganz vom Ost-West-Transport von russischem Gas ausgeschlossen zu werden. Deshalb gibt, bzw. gab es sowohl Bemühungen der heutigen Regierung als auch der Vorgängerregierung, um eine Lösung zu finden, die einen Erdgastransit durch die Ukraine auch künftig sicherstellen soll. In diese Gespräche wird die Europäische Kommission ebenfalls einbezogen sein.
Wie stark sind die Ressentiments gegenüber Migranten in Europa und insbesondere in Deutschland? Kann die Mehrheitsgesellschaft tolerant bleiben oder finden die Forderungen rechter Kräfte Anklang?
Der Umgang mit Flucht und Migration ist eines der großen Themen innerhalb der deutschen Gesellschaft. In der Ukraine kennt man ähnliche Probleme, seit die Kämpfe im Osten viele Menschen in andere Landesteile haben ziehen lassen. Zwei Dinge sind aus meiner Sicht entscheidend für die weitere Entwicklung in Deutschland: Zum einen die Lösung praktischer Probleme, die zum Beispiel in vielen Kommunen dadurch entstanden sind, dass sie eine große Zahl von Flüchtlinge aufgenommen haben. Zum anderen ist wichtig, dass wir klar unterscheiden, wer auf lange Zeit oder auf Dauer in Deutschland bleibt und wer keinen Aufenthaltsstatus als politisch Verfolgter oder Flüchtling erhalten kann. Dabei ist klar: Die Geltung des Rechts und die Durchsetzung des Rechtstaates sind die Garanten des inneren Friedens in Deutschland.
Seit Donald Trump, den Sie einst einen Hassprediger
nannten, sein Präsidentenamt angetreten hat, zeichnen sich in den Beziehungen zwischen der EU und den USA eine Reihe von Schwierigkeiten ab. Wie sehen Sie die aktuellen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen den USA und Deutschland vor dem Hintergrund der US-Sanktionen gegen Russland und des Rückzugs der USA aus dem Nuklearabkommen mit Iran?
Wir Deutsche haben den Amerikanern unendlich viel zu verdanken. Unsere Sicherheit wird bis heute von den USA im Nordatlantischen Bündnis garantiert. Dennoch gibt es Grund zur Sorge um den Zustand unserer Partnerschaft. Nicht wegen einzelner Meinungsverschiedenheiten; die hatten wir auch früher. Heute geht es um die Frage, ob wir miteinander strategisch verbunden und füreinander der Partner sind, auf den wir uns vor allen anderen verlassen können. Nicht nur die Kündigung des Nuklearabkommens mit dem Iran stellt dies in Frage, sondern auch die Art und Weise, wie diese Entscheidung getroffen worden ist. Ein Amerika, das die Welt nur noch als Arena konkurrierender Nationalstaaten versteht, in der jeder für sich das Maximum herausholen will, stellt Grundpfeiler der deutschen und europäischen Außenpolitik in Frage. Die damit verbundene Absage an eine regelbasierte internationale Ordnung und einen starken Multilateralismus muss dabei auch der Ukraine zu denken geben.
Die Fragen stellte: Olga Dukhnich