Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender sprachen mit der Zeitung Bild am Sonntag über ihre gemeinsame Schirmherrschaft für die Woche der beruflichen Bildung, ihr erstes Jahr im Schloss Bellevue sowie über die Lage in Syrien. Das Interview ist am 15. April erschienen.
Herr Bundespräsident, Frau Büdenbender, seit gut einem Jahr stehen Sie als Staatsoberhaupt und First Lady an der Spitze Deutschlands. Was ist typisch deutsch für Sie?
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: Dass wir uns ständig fragen, was typisch deutsch ist! (lacht). Im Ausland gelten Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit als typisch deutsche Eigenschaften. Hier zuhause ist das Besondere, dass jeder gern Deutscher ist, daneben aber genauso gern Westfale, Hesse, Sachse oder Bayer. Ebenfalls typisch deutsch ist die Liebe zur Heimat und inzwischen bei den meisten Deutschen ein erfreulich hohes Maß an Weltoffenheit.
Elke Büdenbender: Ich habe auch sofort die einzelnen Bundesländer im Kopf, die unterschiedlichen Dialekte. Wenn mein Vater Siegerländisch spricht, versteht Frank ihn kaum.
Bundespräsident: Deutsch-Sein hat für mich in jedem Fall auch mit unserer Vergangenheit zu tun. Wir haben – anders als viele andere Länder – einen doppelten Blick: Auf die vielen hellen Seiten, aber auch auf die tiefen Schatten, die ebenso zu Deutschland gehören. Beides annehmen – darauf gründet in meinen Augen ein aufgeklärter deutscher Patriotismus.
Sie sind durch alle Bundesländer gereist. Was war das Überraschendste für Sie?
Büdenbender: Mich hat das Ausmaß der ehrenamtlichen Tätigkeiten sehr beeindruckt. Wir alle versuchen doch erst einmal Job und Familie zu organisieren. Da bewundere ich, wie viele Menschen es schaffen, sich darüber hinaus noch zu engagieren.
Bundespräsident: Ich bin von diesen 16 Antrittsreisen optimistischer zurückgekommen, als ich es vorher war. Man trifft gerade meistens nicht auf Menschen, die meckern und motzen, sondern die sich engagieren für unser Land. Die 31 Millionen Ehrenamtlichen prägen Deutschland stärker als diejenigen, die lautstark den Eindruck erwecken, es funktioniere nichts.
Trotzdem: Haben Sie eine Erklärung für den Frust und die Politikverdrossenheit so vieler Menschen, die sich ja auch in den Wahlergebnissen spiegeln?
Bundespräsident: Genau deshalb sind wir ja auch an Orte gefahren, wo das Leben mühsam ist. Am auffälligsten sind die erheblichen Unterschiede zwischen Stadt und Land. In vielen Dörfern bleiben vor allem die Alten zurück, es gibt keinen Arzt, und der Bus fährt auch nicht mehr. Viele junge Menschen ziehen in die Städte. Dort gibt es wiederum viel Frust darüber, dass die Mieten schneller steigen als die Löhne. Viele können nicht mehr dort leben, wo sie arbeiten. Ihre Strecken zur Arbeit werden länger, die Zeit mit der Familie kürzer.
Büdenbender: Wenn die Menschen dann mit ihren Sorgen in der Politik kein Gehör finden, entsteht Frust. Auf dem Land sind die Menschen auf ihr Auto angewiesen, das wird im Alter problematisch. Bei meinem Vater und bei Franks Mutter leben Angehörige zum Glück in der Nähe, können sie fahren oder Einkäufe besorgen.
Die Amokfahrt von Münster hat Deutschland vergangenes Wochenende erschüttert. Wie verwundbar muss unsere Gesellschaft sein, um nicht alle Freiheiten aufzugeben?
Büdenbender: Eine offene Gesellschaft ist verwundbar. Mit dieser Verwundbarkeit müssen wir leben: Ich wüsste nicht, wie man einen erweiterten Suizid eines psychisch kranken Menschen vorhersehen soll. Aber es bleibt entsetzlich.
Bundespräsident: Das Wichtigste ist, dass wir uns nicht an solch schreckliche Ereignisse gewöhnen. Dass wir in der Lage sind, Trauer zu zeigen, Beistand zu leisten, Lehren zu ziehen. Auch in einer offenen Gesellschaft wie der deutschen muss ein möglichst hohes Maß an Sicherheit gewährleistet sein. Die Balance zwischen Sicherheit und Offenheit muss immer wieder hergestellt werden. Das ist die Aufgabe von Politik.
Ist es wichtig, ob der Täter Deutscher oder Ausländer, Muslim, Christ oder Flüchtling war?
Büdenbender: Für die Opfer und ihre Angehörigen ist das vollkommen egal. Eine solch brutale Zerstörungswut ist schwer zu fassen.
Bundespräsident: Ja, für die Getöteten und Verletzten kommt es nicht darauf an. Für die Hinterbliebenen auch nicht. Wie wir gesehen haben, ist die Herkunft des Täters aber dennoch nicht irrelevant. Einige haben sofort versucht, dieses Attentat politisch zu instrumentalisieren, in die Reihe islamistischer Anschläge zu stellen und als Beleg dafür zu nehmen, dass die Gefährdungen durch Zuwanderung in unerträglicher Weise zunehmen und die Sicherheitsbehörden dieser Lage nicht Herr werden. Das ist perfide und verhöhnt die Opfer.
Büdenbender: Ja, das ist nur schwer zu ertragen.
Der Bürgerkrieg in Syrien dauert nun schon sieben Jahre, wieder gab es diese Woche zahlreiche Tote durch Giftgas. Warum hat die Weltgemeinschaft hier so versagt?
Bundespräsident: Syrien hat sich über die sieben Kriegsjahre hinweg zu einem Schlachtfeld ganz unterschiedlicher Gegner und Interessen entwickelt. Dazu gehört nicht nur ein brutaler, zu aller Gewalt bereiter syrischer Diktator. Daneben ringen von Anfang an die sunnitischen arabischen Staaten gegen den schiitischen Iran um die Vormachtstellung im Mittleren Osten. Die Türkei kämpft auf syrischem Boden gegen bewaffnete kurdische Einheiten. Das Gefährlichste ist aber das Aufeinandertreffen der Großmächte USA und Russland. Darum ist dieser Konflikt jetzt noch viel explosiver und gefährlicher als in den ersten Jahren.
Was muss jetzt passieren, nachdem die USA, Großbritannien und Frankreich Ziele in Syrien beschossen haben?
Bundespräsident: Was passieren muss
ist das eine, was passieren wird, das andere. Die Luftschläge in der Nacht auf Samstag waren als Vergeltung gegen den wiederholten völkerrechtswidrigen Einsatz von chemischen Waffen gemeint. So groß die Genugtuung sein mag, dass diese Grausamkeiten nicht straflos bleiben, haben wir damit in sieben Jahren Syrien-Krieg zum ersten Mal die ernste Gefahr der direkten Konfrontation amerikanischer und russischer Waffensysteme auf syrischem Boden. Wir sind heute in der nächsten Stufe der Eskalation im russisch-amerikanischen Verhältnis. Wer einen Weg für Syrien in eine friedliche Zukunft sucht, muss über den Tag und den nächsten Luftschlag hinaus denken. Wann immer ein solcher Weg ernsthaft gesucht wird, braucht man alle Konfliktparteien an einem Tisch. Es geht am Ende nicht ohne die regionalen Nachbarn, aber nichts beginnt ohne USA und Russland. Die großen Mächte tragen größere Verantwortung. Hier muss ein erster Schritt erfolgen, das sind Putin und Trump der Welt schuldig. Wenn Washington und Moskau in der Syrien-Frage keinen Weg zueinander finden, sind die Chancen für eine Verbesserung der Lage in Syrien gleich null!
Nach dem Giftanschlag auf den Ex-Doppelagenten Sergej Skripal in Großbritannien ist das Verhältnis des Westens und Russland zerrüttet. Wie gefährlich ist Präsident Putin?
Bundespräsident: Es handelt sich ohne Zweifel um einen sehr schwerwiegenden Vorfall. Die Indizien weisen nach Russland. Ich habe keine eigenen Erkenntnisse, die über öffentliche Erklärungen der britischen Regierung und der OVCW hinausgehen. Der Fall selbst ist besorgniserregend. Aber mindestens ebenso muss uns die galoppierende Entfremdung zwischen Russland und dem Westen besorgen, deren Folgen weit über diesen Fall hinausgehen. Es gibt praktisch keine Vertrauensbasis mehr – auf beiden Seiten. Dieser gefährlichen Entfremdung entgegenzuwirken, ist die eigentliche Herausforderung und Aufgabe verantwortlicher Politik. Ich weiß, wie schwer das ist und dass der, der sich bemüht, dem Scheitern immer näher ist als dem Erfolg. Dennoch glaube ich, dass wir uns nicht von einer neuen Endzeitstimmung im Verhältnis zu schwierigen Nachbarn dominieren lassen sollten.
Welche Rolle sollte Deutschland in dem Konflikt mit Russland spielen?
Bundespräsident: Ich spüre aus vielen Briefen und Gesprächen, wie sehr die Menschen in Deutschland sich um die Zukunft des deutsch-russischen Verhältnisses, ja sogar um den Frieden in Europa sorgen. Und die meisten derer, die schreiben, sind nicht naiv. Sie sehen den russischen Beitrag, der zur gegenwärtigen Eskalation geführt hat. Aber sie wollen nicht, dass die angespannte Situation gänzlich außer Kontrolle gerät und verbinden das mit Erwartungen an deutsche Außenpolitik. Die trägt aber zugleich eine große Verantwortung für die Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, gerade in der Russlandpolitik. Deshalb ist es wichtig, dass wir dem Kreml die Folgen seines Handelns für das europäisch-russische Verhältnis immer wieder deutlich machen. Dazu gehören auch die nach der Krim-Annexion und dem Konflikt in der Ostukraine beschlossenen Sanktionen. Aber wir dürfen nicht aufgeben, dies auch im direkten Gespräch zu tun. Und – ganz unabhängig von Putin – wir dürfen nicht Russland insgesamt, das Land und seine Menschen, zum Feind erklären. Dagegen steht unsere Geschichte und dafür steht zu viel auf dem Spiel.
Frau Büdenbender, als First Lady stehen Sie plötzlich im Rampenlicht. Plötzlich ist wichtig, was Sie anhaben. Wie gehen Sie damit um?
Büdenbender: So ganz ungewohnt ist das für mich nicht: Auch als Richterin habe ich mit der Robe Dienstkleidung getragen. Die Kleider, die ich jetzt als First Lady anziehe, sind für mich auch eine Art Dienstkleidung. Sie müssen zum Anlass und zur Rolle passen. So renne ich doch nicht rum, wenn ich S-Bahn fahre.
Sie fahren noch S-Bahn?
Büdenbender: Klar. Da bin ich meistens auch nicht geschminkt, trage eher Jeans. Meistens werde ich gar nicht erkannt, wenn doch, reagieren die Berliner cool. Nur mit Frank zusammen ist S-Bahnfahren keine gute Idee. Dafür ist er zu bekannt.
Vor acht Jahren hat Ihr Mann Ihnen eine Niere gespendet. Wie geht es Ihnen heute?
Büdenbender: Gut. Das läuft alles super.
Bundespräsident: Im Alltag spielt es keine Rolle. Es ist kein Thema, über das wir alle paar Wochen sprechen. Wir feiern aber den 24. August als Tag der Spende, damit wir uns zumindest einmal im Jahr bewusst erinnern.
Büdenbender: Ich will mich auch nicht darüber definieren. Aber ich bin wahnsinnig dankbar, dass das so geklappt hat.
Bundespräsident: Ich übrigens auch.
Herr Steinmeier, Ihre Frau hat darauf bestanden, dass Sie selbst als Kanzlerkandidat zuhause den Rasen mähen. Wie ist das jetzt als Präsident?
Büdenbender: Wir haben seit einiger Zeit so einen kleinen Robotermäher, der sich über den Rasen frisst. Hinter dem Haus gibt es aber noch zwei Flächen, die hast du im letzten Jahr immer noch selber gemäht.
Sie sind beide Akademiker, haben Jura studiert. Warum werben ausgerechnet Sie für Ausbildungen?
Bundespräsident: Wir haben beide die Erfahrung eines Aufstiegs durch Bildung gemacht. Wir kommen nicht aus Elternhäusern mit Klavier und Bibliothek. Unsere beiden Väter waren Tischler.
Büdenbender: Wir kennen den Wert von Ausbildung und wissen, wie viel jemand nach einer Lehre weiß und kann. Unsere Brüder zum Beispiel haben Ausbildungen gemacht. Und sind sehr gut vorangekommen im Leben. Ich selbst habe als 16-Jährige Industriekauffrau gelernt. Erst später mein Abi nachgemacht und studiert.
Bundespräsident: Als Außenminister habe ich im Ausland oft erlebt, wie sehr unsere duale Ausbildung mit Berufsschule und Praxis im Betrieb respektiert, ja fast bewundert wird. Wieder zurück in Deutschland habe ich mich oft gefragt, ob wir hier noch genügend Wertschätzung für Berufsausbildung haben? Häufig eben nicht genug.
Büdenbender: Es gibt so viele hochqualifizierende Berufsausbildungen, die manchem Bachelorstudiengang in keiner Weise nachstehen, sondern sogar weiterführen. In Deutschland haben wir 327 anerkannte Ausbildungsberufe, aber allein weit über 8.600 Bachelorstudiengänge. Ein klareres Berufsbild bietet die Ausbildung auf jeden Fall.
Mädchen lernen immer noch Friseurin, Erzieherin, Pflegerin und verdienen viel weniger als die Jungs, die Mechatroniker werden. Wird sich das je ändern?
Büdenbender: Langsamer als gedacht, aber es tut sich was. Die größeren Firmen achten mittlerweile bewusst darauf, in Sparten wie zum Beispiel der Mechatronik einen Teil der Ausbildungsplätze an Mädchen zu vergeben.
Bundespräsident: 70 Prozent der Auszubildenden in der Pflege sind aber weiterhin Frauen. Es ist höchste Zeit, dass für die Ausbildung in Pflegeberufen flächendeckend kein Schulgeld mehr gezahlt werden muss. Es ist gut, dass die Große Koalition das angeht.
Es gibt viele offene Lehrstellen in Deutschland. Und es gibt viele junge Flüchtlinge, die aber oft kein Deutsch sprechen. Wie geht das zusammen?
Bundespräsident: Die Frage, wie sich Geflüchtete in Deutschland integrieren, wird auch ganz stark davon abhängen, wie viele der geflüchteten Jugendlichen wir in berufliche Ausbildung bringen.
Büdenbender: Die Berufsschulen stehen dabei an vorderster Front. Auf der Deutschlandreise haben wir da tolle Beispiele kennengelernt. Viele haben Willkommensklassen eingerichtet, in denen die Jugendlichen fit für die Ausbildung gemacht werden.
Bundespräsident: Egal ob es um Integration geht oder um hier geborene Jugendliche: Der Anspruch an unser Bildungssystem und an unsere ganze Gesellschaft muss letztlich immer sein: Es darf niemand verloren gehen.
Die Fragen stellten: Angelika Hellemann und Roman Eichinger.