Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Tageszeitung The Times of India anlässlich des Staatsbesuchs in Indien ein Schriftinterview gegeben, das am 22. März erschienen ist.
Jetzt, wo die Bundesregierung endlich steht: Was ist von der neuen Regierung zu erwarten?
Die Regierungsbildung hat ungewohnt lange gedauert. Deshalb ist es eine gute Nachricht, dass nun eine stabile Regierung ins Amt gekommen ist und ihre Arbeit aufgenommen hat. Das ist gut für unser Land und für Europa, aber auch für unsere internationalen Partner wie Indien. Die neue Bundesregierung steht vor großen Herausforderungen. Die liberalen Demokratien befinden sich mitten in einer Bewährungsprobe. Wir sind überzeugt: Deutschlands Erfolg und Ansehen gründen auf einer freiheitlichen Ordnung im Innern und guter Nachbarschaft mit allen Ländern der internationalen Gemeinschaft. Dafür wird Deutschland auch in Zukunft werben. Zugleich müssen wir den tiefgreifenden digitalen Wandel für unsere Wirtschaft und Gesellschaft gestalten und dabei die Freiheitsrechte der Bürger schützen. Deutschland hat technologisch viel anzubieten für nachhaltige Mobilität und Energieversorgung, auch für eine aufstrebende Gesellschaft wie Indien. Vor allem aber wird Deutschland in die Stärkung Europas investieren, in seine Geschlossenheit und seine Handlungsfähigkeit. Davon hängt die Zukunft unseres Landes ab.
Wenn es um Indien geht, nimmt Deutschland in Europa eine Vorreiterrolle ein. Welchen Bereichen sollten Indien und Deutschland sich in den kommenden Monaten Ihrer Meinung nach vorrangig widmen?
Unsere Zusammenarbeit ist auf lange Sicht angelegt. Es gibt vielfältige Kontakte zwischen den Menschen unserer Länder. Schon im Jahr 2000 haben Deutschland und Indien eine strategische Partnerschaft vereinbart. Das bedeutet: Unsere Kabinette treffen sich regelmäßig. Das machen wir mit nur ganz wenigen Ländern außerhalb Europas. Premierminister Modi war im vergangenen Jahr zweimal in Deutschland. Wir wollen diesen Austausch weiter vertiefen, in praktischen wie in strategischen Fragen. Dazu dient auch mein Staatsbesuch in Indien. Deutschland ist eine hochentwickelte, wissensbasierte Volkswirtschaft. Unsere Stärken sind Ausbildung, Innovation und Vernunft. Die große Dynamik von Wirtschaft und Gesellschaft in Indien bietet hervorragende Möglichkeiten, unsere Kooperation zum beiderseitigen Nutzen zu vertiefen. Dazu gehört für mich auch die Frage, welche Antworten wir gemeinsam auf die Herausforderung der Globalisierung geben wollen und geben können. Indiens Antworten und auch Indiens Verantwortung für die Welt von morgen werden ein immer größeres Gewicht bekommen.
Die maritime Sicherheit spielt in der indischen Sicherheitsarchitektur eine große Rolle. Interessanterweise scheint jedoch auch Deutschland ein Interesse am Indischen Ozean zu haben. Welche Ziele verfolgt Deutschland und wie können unsere beiden Länder zusammenarbeiten?
Als global agierende Handelsmacht hat Deutschland ein überragendes Interesse an Frieden und Stabilität weit über den europäischen Kontinent hinaus. Dies gilt angesichts der dynamischen Wirtschaftsmächte in Asien natürlich immer stärker auch für einen offenen, sicheren Indischen Ozean, durch den ein großer Teil der deutschen Handelsströme fließt. Als Sitz des Internationalen Seegerichtshofs ist Deutschland besonders an einer völkerrechtlich verbindlichen und von allen Staaten akzeptierten internationalen Ordnung interessiert, die diese Interessen verlässlich schützt. Die Interessen Indiens und Deutschlands sind in dieser Frage sehr ähnlich und wir würden unsere Zusammenarbeit mit Indien und mit allen interessierten Staaten gerne ausbauen.
Wo liegen die deutsch-indischen Prioritäten im Bereich Handel und Investitionen angesichts der Tatsache, dass weder beim Freihandelsabkommen zwischen Indien und der EU noch in Bezug auf ein Investitionsabkommen Fortschritte erzielt wurden?
Unser Handel hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht. 1.800 deutsche Unternehmen haben in Indien über 400.000 Arbeitsplätze geschaffen. Deutsche Unternehmen haben allein im vergangenen Jahr 1,2 Milliarden Euro in Indien investiert, vor allem in Bereiche, die für Indiens Aufbruch wichtig sind: Automobilbau, Energie, Infrastruktur, Smart City-Projekte, Eisenbahnsektor, Luftverkehr. Auf meiner Reise nach Indien begleiten mich auch Vertreter der deutschen Wirtschaft, vor allem des deutschen Mittelstandes, der in Indien noch wesentlich aktiver werden möchte. Trotz dieser positiven Entwicklungen haben alle Beteiligten jedoch das Gefühl, immer noch mit angezogener Handbremse zu fahren. Wir sollten deshalb auf allen Ebenen daran arbeiten, das Handelsabkommen zwischen Indien und der EU schnell zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Selbst kleinere Schritte in Richtung Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Rechtsstaatlichkeit können eine Dynamik befördern, die beiden Ländern nutzt und zusätzliche Arbeits- und Ausbildungsplätze in Indien schafft.
Deutschland hat beim Wandel Indiens immer eine wichtige Rolle gespielt. Wie sehen hier die nächsten Schritte aus?
Indien ist für uns als Partner immer wichtiger geworden: Bei der Suche nach Antworten auf globale Probleme, für die Zukunft des freien Handels, für den Schutz des Klimas und für die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele, die wir uns gemeinsam in den Vereinten Nationen gesetzt haben. Diese Partnerschaft wird in Zukunft weiter an Gewicht gewinnen. Wegweisend ist dabei etwa unsere Zusammenarbeit bei erneuerbaren Energien, insbesondere der Solartechnologie. Aber mir geht es nicht nur um eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Unsere beiden Demokratien müssen sich immer neu bewähren. Pluralismus und Offenheit zu bewahren, das ist in der heutigen Zeit alles andere als einfach oder selbstverständlich. Wir wollen in Deutschland das Interesse an Indien insgesamt neu wecken, mehr über die Zukunftsideen Indiens erfahren. Seit über 100 Jahren sind Indien und Deutschland durch eine große gegenseitige Neugier miteinander verbunden – auch kulturell. Es ist an der Zeit, einen frischen Blick aufeinander zu werfen.