Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Augsburger Allgemeinen ein schriftliches Interview gegeben, das am 28. Juni erschienen ist.
Herr Bundespräsident, die Augsburger Synagoge wird 100 Jahre alt. Welche Botschaft geht von diesem Jubiläum und diesem Festakt aus?
Die Synagoge in Augsburg steht dafür, dass etwas Unvorstellbares gelungen ist. Denn es gleicht einem Wunder, dass sie heute – achtzig Jahre nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust – das Zentrum einer wachsenden, kraftvollen jüdischen Gemeinde ist. Und es macht mich dankbar und froh, dass die Synagoge wieder Symbol für die Geschichte jüdischer Emanzipation, für politische, gesellschaftliche und religiöse Gleichberechtigung, für die Geschichte des jüdischen Bürgertums und des liberalen Judentums in Deutschland sein kann.
Der Präsident des Zentralrats der Juden beklagt einen immer aggressiveren Antisemitismus, nicht nur bei vielen Flüchtlingen, sondern auch bei vielen Deutschen. Woher kommt dieser Hass? Kein Mensch wird als Antisemit geboren.
Leider sind in Deutschland – ähnlich wie in anderen europäischen Ländern – wieder vermehrt antisemitische Ressentiments zu beobachten. Was wir derzeit sehen, ist, dass sich ein bis heute tradierter Antisemitismus mit einem Antisemitismus in Teilen muslimisch geprägter Zuwanderergruppen mischt. Das führt uns auch der aktuelle Antisemitismusbericht der Bundesregierung vor Augen. Die Sozialen Medien dienen dabei oft der Verbreitung von Hassbotschaften und antisemitischer Hetze. Aber – und das ist sehr wichtig – die Mehrheit der deutschen Gesellschaft und der deutsche Rechtsstaat stellen sich klar gegen Antisemitismus und verurteilen ihn.
Der Schutz der Würde jedes Einzelnen hat in unserer Demokratie einen besonders hohen Stellenwert. Angriffe auf und Beleidigungen von Menschen aufgrund ihres Glaubens sind daher auch Angriffe auf jeden einzelnen von uns und auf unsere gesamte Gesellschaft. Das müssen wir immer wieder deutlich machen und uns so auch vorbeugend antisemitischem Gedankengut entgegenstellen.
Was kann die Politik tun, damit Juden auch in Deutschland wie selbstverständlich leben können? In Frankreich wandern sie aus Angst vor dem zunehmenden Antisemitismus inzwischen zu Tausenden nach Israel aus.
Walter Jacob, ein berühmter Sohn der jüdischen Gemeinde und Rabbiner in Augsburg, schreibt in seinen Erinnerungen, dass sich die Gemeinde in ihrer Augsburger Synagoge nach der Gründung vor 100 Jahren vollkommen zu Hause
gefühlt habe. Damit war es kurze Zeit später vorbei. Zu unser aller Glück kann Deutschland heute wieder die Heimat sein, die den Juden durch die Nationalsozialisten geraubt wurde. Eine nennenswerte Auswanderungsbewegung von Menschen jüdischen Glaubens gibt es bei uns nicht. Das darf uns aber nicht ruhen lassen: Auch künftig müssen wir uns für ein gutes Miteinander einsetzen. Es ist wichtig, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen und religiösen Gruppen sich gegenseitig kennen- und verstehen lernen und sehen, dass die Vielfalt nicht Angst machen muss, sondern bereichern kann. Wo gegenseitiges Verstehen wächst, da ist kein Platz für Hass und Ausgrenzung.
Was hat Sie dazu bewogen, am Rande Ihres Israelbesuchs im Mai einen Kranz am Grab von Jassir Arafat niederzulegen? Viele Israelis, aber auch viele Juden hier hat diese Geste verstört. Für sie war Arafat ein Terrorist, ein Judenhasser.
Während meines Besuchs als Bundespräsident in Jerusalem habe ich ganz bewusst Kränze an den Gräbern von Shimon Peres und Jitzhak Rabin niedergelegt. Gemeinsam erhielten Peres, Rabin und auch Jassir Arafat für ihre Friedensanstrengungen im Jahr 1994 den Friedensnobelpreis. Die Kranzniederlegung am Grab von Arafat ist inzwischen bei offiziellen Besuchen aller ausländischer Staatsoberhäupter Teil des palästinensischen Protokolls.
Deutschland, das Land der Täter, hat Israel gegenüber eine besondere Verantwortung. Israel dagegen fühlt sich von uns Deutschen zunehmend missverstanden. Was läuft da falsch?
Es ist ein besonders wertvolles Geschenk, dass der tiefe Graben zwischen Deutschen und Israelis in den Jahrzehnten nach dem Krieg überbrückt werden konnte, dass sogar Freundschaften entstanden sind. Das haben wir auch der Versöhnungsarbeit vieler Menschen in unseren Ländern zu verdanken. Mit diesem Geschenk müssen wir heute verantwortungsvoll umgehen, auch indem wir Deutsche mit unserem Urteil über israelische Politik nicht zu schnell sind. Das heißt nicht, dass wir in allen wichtigen politischen Fragen übereinstimmen müssen. Manches beunruhigt uns, auch aus Sorge um Israels Zukunft als demokratische, offene Gesellschaft in einer schwierigen Region. Darüber müssen wir sprechen, das sollten wir aber freundschaftlich und vertrauensvoll tun. Wie kontrovers das sein soll, darüber gibt es unter Israelis sehr unterschiedliche Meinungen. Auch das habe ich bei meinem Gespräch mit israelischen Intellektuellen vor wenigen Wochen erfahren.
Die Fragen stellte: Rudi Wais.