Elke Büdenbender hat der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein Interview gegeben, das am 24. Januar erschienen ist.
Frau Büdenbender, Sie wollen über das Sterben reden. Warum?
In der Pandemie sterben viele Menschen, und das mitunter sehr einsam. Das ist schlimm, sowohl für den, der stirbt, aber auch für die Hinterbliebenen, weil die Pandemie das Abschiednehmen so schwierig macht. Das treibt mich sehr um: Was macht das mit den Sterbenden, den Familien und Freunden, aber auch mit uns als Gesellschaft?
In Deutschland sterben im Moment jeden Tag um die 1.000 Menschen an Covid-19. Diese Woche überschreiten wir vermutlich eine Gesamtzahl von 50.000.
Das ist eine ungeheuer große Zahl. Dennoch habe ich den Eindruck, es bleibt oftmals abstrakt. Vielleicht haben wir als Gesellschaft noch gar nicht so richtig verstanden, was das bedeutet.
Als ich überlegt habe, welche Frage ich Ihnen im Zusammenhang mit der Statistik stellen will, dachte ich, vielleicht halten wir an dieser Stelle einfach mal inne.
Ja. (Schweigt.)
Was denken Sie, wenn Sie diese Zahlen in den Nachrichten hören?
Das eine sind die Menschen, die an Covid sterben. Ich versuche mir vorzustellen, wie es ihnen geht, wenn sie merken, sie sind infiziert, und plötzlich verstehen, dass sie das vielleicht nicht überleben. Das andere sind die Angehörigen. Sie müssen überlegen: Wer darf denn jetzt hin zu unserem Vater? Oder: Welchen Tests müssen wir uns vorher unterziehen? Was für einen Druck das macht, wenn ich nicht so, wie ich möchte, mit meinen sterbenden Liebsten zusammen sein kann. Was ich darüber gelesen habe, hat mir wirklich die Tränen in die Augen getrieben. Wie verkraftet das eine Familie oder ein Freundeskreis? Und wie gucken wir darauf als Gesellschaft?
Sind wir als Gesellschaft ausreichend traurig und erschüttert über unsere Toten?
Zu Anfang der Pandemie, angesichts der Bilder aus Bergamo oder New York, waren die Leute erschüttert. Der tote Mensch hat ja auch eine Würde. Er verdient Respekt. Wenn Verstorbene auf Lastwagen weggefahren werden, ist das fürchterlich. Jetzt dauert die Pandemie aber an, wir sind immer noch im Lockdown, und das hat Auswirkungen: Kinder können ihre Freunde nicht sehen, und das in einer Lebensphase, in der Schulfreunde wichtiger sind als Eltern. Oder: Menschen geraten in Existenznöte. Vielleicht berühren uns die Zahlen weniger, weil wir mit unserer eigenen Situation zurechtkommen müssen.
Gewöhnen wir uns an die Zahlen, stumpfen wir ab?
Mich selbst jedenfalls erschüttern und entsetzen die Zahlen nach wie vor. Aber vielleicht schieben viele von uns sie aus Selbstschutz weg. Der Mensch kann sich nicht immer damit beschäftigen, dass diese Krankheit potentiell tödlich ist und sich und seine Liebsten in Gefahr bringen kann. Dennoch hinterlässt das Spuren, davon bin ich überzeugt. Auch deshalb müssen wir über diese Erfahrung, über den Tod und das Sterben, reden. Das setzt sich ja fest.
Wie meinen Sie das?
Wir lesen diese Zahlen, alle, jeden Tag. Selbst wenn wir sie wegschieben: Das Gefühl der Bedrohtheit dringt ja in uns ein. Und da bleibt etwas zurück, wenn wir nicht versuchen, es zu ordnen.
Es sind nicht mehr nur die Lastwagen der anderen, inzwischen haben wir auch Bilder von viel zu vielen Särgen aus Meißen und Dresden. Nehmen wir den Tod zu leichtfertig in Kauf? Tun wir wirklich genug, um Todesfälle zu verhindern?
Ich habe schon den Eindruck, dass die allermeisten bei uns sehen, wie ernst es ist. Es ist ja ein Zeichen von Rücksicht und Solidarität, wie viele sich an die Regeln halten. Dass man diese Pandemie als Fakt noch leugnen kann, ist mir allerdings unverständlich, das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Dass man an Maßnahmen verzweifelt, ja, wenn die wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel steht, oder dass man ärgerlich darüber ist, wenn bewilligte Hilfen nicht kommen. Es gibt für viele gute Gründe, verzweifelt zu sein. Trotzdem halten sich die allermeisten an die Regeln. Das ist eine große Leistung.
Sie gehören zur Hochrisikogruppe, weil Sie mit einer transplantierten Niere leben und deshalb Medikamente nehmen müssen, die Ihr Immunsystem schwächen. Ärgert es Sie besonders, wenn Leute trotz allem ohne Maske unterwegs sind?
Nicht so, dass ich Zorn entwickele oder denken würde, da spielt jemand Russisch Roulette mit mir. Mein Ärger ist eher wie bei allen anderen auch: Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, sorgst du dafür, dass diese Pandemie nicht aufhört. Das ist dein individueller Beitrag dazu, dass wir noch länger im Lockdown sind. Schönen Dank auch!
Der Corona-Tod ist doppelt schlimm: Nicht nur, dass Menschen sterben, sondern auch, wie sie sterben.
Viele Menschen sterben ganz anders, als sie sich das vorgestellt haben. Ohne Covid würde man schauen: Wie wollte der Verstorbene, dass an ihn erinnert wird? Wollte er eine Bestattung mit den Menschen, die das Leben mit ihm geteilt haben? Wollte er vielleicht, dass gar nicht erinnert wird, wollte er ein anonymes Grab? Corona verändert unsere Rituale. Wie wir derzeit mit unserem Lebensende umgehen, ist geprägt von dem Umstand, dass ein hochansteckendes Virus unterwegs ist. Wir können nicht unbelastet trauern.
Unbelastet trauern?
Ich meine das sehr ernst: Wir können uns nicht einfach in unsere Trauer hineinbegeben. Alles ist überlagert von der Pandemie. Das trifft uns als Gesellschaft insgesamt. Ich jedenfalls kenne fast niemanden mehr, der nicht wenigstens jemanden kennt, der einen nahen Menschen verloren hat.
Sie selbst auch?
Ja, zwei geliebte Menschen sind in diesem Winter gestorben, allerdings nicht durch Covid – ein sehr guter Freund an einer schweren Krankheit. Das war einschneidend. Auch wenn mir der Tod nicht unvertraut ist: Mein Vater und ich haben meine Mutter im Arm gehalten, als sie gestorben ist, ich habe meine Großeltern gesehen. Bei der Vorbereitung der Bestattung mussten wir nun in die Covid-Verordnung schauen: Wie viele Leute dürfen mit in die Kirche? Auf den Friedhof? Zum Beerdigungskaffee? Ich fand das ganz fürchterlich. Und dann ist mein Vater gestorben. Er ist fast neunzig geworden und hat vom Leben viel gehabt. Ich hatte abends noch mit ihm telefoniert, wie jeden Tag, weil ich ihn seit dem Sommer nicht gesehen hatte – wegen Covid. Eine Stunde später war er tot. Das war ein Schock. Aber der Abschied war würdig und schön. Ich habe gemerkt, wie sehr mich der katholische Trauergottesdienst tröstet. Da steht der Mensch im Mittelpunkt, der Pfarrer hat sehr persönlich gesprochen, er hat gesungen, alleine natürlich, und die Kirche ist so groß, dass immerhin einige Trauergäste reindurften. Aber auch auf dem Weg zum Grab musste man gucken, wie man Abstand hält, und einen Bestattungskaffee konnte man nicht mehr machen. Unsere Art zu trauern, unsere Rituale ändern sich.
Was bedeutet das für die Verarbeitung des Verlusts?
Ich hoffe doch sehr, dass wir wieder dahin zurückkommen, dass jede und jeder so gehen kann, wie er oder sie das möchte.
Warum ist das wichtig?
Das hat viel mit Würde zu tun. Der Tod als Massenereignis im Krieg ist auch deshalb so grauenhaft, weil er dem Menschen die Individualität nimmt. Ich-sein-Können auch im Tod, in der Art und Weise, wie ich Abschied nehmen möchte von der Welt, das hängt zutiefst mit meiner Vorstellung davon zusammen, wer ich als Mensch gewesen bin und sein möchte.
Kann man der pandemiebedingten Einsamkeit des Sterbens etwas entgegensetzen?
Am allerwichtigsten ist, dass niemand allein gehen muss. Zum Glück ist das auch schon viel besser geworden.
Sie unterstützen die Idee Ihres Mannes Frank-Walter Steinmeier, der als Bundespräsident schon vor Monaten ein öffentliches Gedenken für die Opfer der Pandemie ins Gespräch gebracht hat. Warum wäre das gut?
Ein Gedenken für alle, die an Corona verstorben sind, aber auch für Menschen, die einsam an anderen Krankheiten gestorben sind, markiert öffentlich: Das ist ein schweres, ein ungewöhnliches Leid. Für die Betroffenen wäre ein öffentliches Gedenken wohltuend. Alle würden sehen und anerkennen: Es ist etwas Besonderes, in dieser Zeit gestorben zu sein.
In Spanien gibt es schon seit dem Sommer ein Denkmal für die Opfer der Pandemie, im norditalienischen Städtchen Codogno, wo das Virus vergangenen Februar zuerst identifiziert wurde, soll zum Jahrestag ein Gedenkpark öffnen. Brauchen wir so etwas auch in Deutschland?
Ja, vielleicht einen Ort, an den man gehen kann; vielleicht etwas Schönes wie einen Park, wo man Blumen niederlegen oder einfach nur sein und zeigen kann, dass man einen geliebten Menschen verloren hat. Das Kinderhospiz Sonnenhof in Berlin hat einen großen Teich, und wenn Angehörige möchten, werden da Steine hineingelegt mit den Namen der Kinder und Jugendlichen, die gestorben sind. So einen öffentlichen Ort stelle ich mir schön vor, besonders für Hinterbliebene, für die kein angemessener Abschied möglich war.
Was kann kollektive Trauer leisten?
Wichtig ist, dass das Leid nicht ungesehen bleibt. Dass deutlich wird: Ich kann mich nicht in deine Rolle versetzen, aber ich kann dir zeigen, wie weh und leid es mir tut, dass du so leiden musst. Wir können uns ja nicht umarmen, wir können niemandem die Hand geben. Da ist es besonders wichtig zu sagen: Wir sehen dein Leid.
Am Freitag haben Sie mit Ihrem Mann ein Licht in das Fenster über dem Portal von Schloss Bellevue gestellt, um der Toten zu gedenken.
Das ist eine Aktion, die hier von Bellevue ausgeht und eine Kettenreaktion auslösen soll. Ich hoffe, dass möglichst viele mitmachen. Das Licht sagt: Wir denken an alle, die leiden und gelitten haben.
Eigentlich sind wir es in unserer Gesellschaft gewohnt, mit den Errungenschaften der Hochleistungsmedizin den Tod maximal zurückzudrängen. Wir haben das Sterben in Krankenhäuser und Pflegeheime ausgelagert und halten in unserem Jugendwahn den Gedanken der eigenen Endlichkeit von uns fern. Könnte man sagen, Corona hat den Tod in unser Leben zurückgebracht, und ist das vielleicht, ohne zynisch zu werden, auch etwas Gutes?
Es fällt mir schwer zu sagen, das hat auch etwas Gutes. Ich hätte gern auf diese Pandemie verzichtet. Aber wenn ich von mir ausgehe, kann ich sagen: Zu erleben, wie fragil man ist, führt schon dazu, dass man Dinge anders wahrnimmt. Das hört sich vielleicht etwas zu simpel an, aber es ist so: Man schätzt Dinge anders. Man bemüht sich, weniger Zeit zu verschwenden. Mich jedenfalls hat diese Erfahrung sehr viel wacher gemacht. Es war wie ein Schleier, der weggezogen wurde. Du schaust auf dein Leben und denkst: Jetzt konzentriere dich doch bitte auf das Wesentliche! Das gelingt nicht immer im Alltag. Ich glaube auch nicht, dass es gesund wäre, jeden Tag daran zu denken, dass man sterben könnte. Aber ein Bewusstsein dafür, dass unser Leben endlich ist, ermöglicht einem, besser zu sehen, was wichtig ist. Und vielleicht ermöglicht es auch, die Verletzlichkeit anderer besser wahrzunehmen. Wenn wir uns als Gesellschaft bewusst machen würden, was diese Pandemie an Tod und Leid verursacht hat, und dadurch als Ganze mitfühlender würden – das wäre etwas Gutes.
Ihre Erkrankung hat dafür gesorgt, dass Sie früh über Ihre eigene Verletzlichkeit nachdenken mussten.
Ich habe nach einem Nierenversagen vierzehn Jahre lang mit Einschränkungen und Medikamenten gelebt, bis ich an den Punkt kam, an dem klar war, ich brauchte eine Spenderniere. Ich hatte dank meines Mannes diese Möglichkeit, und dass es auch noch passte, erfüllt mich mit einer sehr großen Dankbarkeit. Das ist ein riesiges Geschenk. Aber so eine Erfahrung zwingt einen dazu, über gewisse Dinge nachzudenken.
Erzählen Sie mir davon?
Ich war noch keine 40, als ich mit Nierenversagen im Krankenhaus lag und meine Lungen voller Wasser gelaufen sind. Ich habe das Gluckern gehört. Und mir war zwar im Kopf klar, die werden mich hier nicht sterben lassen, ich war in guten Händen. Trotzdem habe ich für einen Moment gedacht, vielleicht sehe ich meinen Mann und mein Kind nie wieder. Ich war so traurig, einfach traurig. Mit diesem fürchterlichen Gedanken im Hintergrund musste ich umgehen lernen.
Dieser Gedanke ist immer da?
Naja, ich nehme zumindest jeden Morgen die Medikamente, die mir mein Leben erhalten. Aber ich bin sehr lebendig und denke nicht jeden Tag ans Ende, ich nehme die Medikamente und gut ist. Aber ich weiß, ich bin in einer besonderen Situation.
Kann man sich mit dem Tod anfreunden?
Der Tod ist nichts Wünschenswertes. Ich auf jeden Fall möchte noch nicht sterben. Und ich möchte vor allen Dingen nicht an Corona sterben! Jetzt beschäftige ich mich schon so lange damit, dass ich weiterleben darf, und dann Corona – also das würde mich wirklich ärgern (lacht).
Sie wirken trotz allem immer so fröhlich, zupackend und positiv.
Bin ich auch, ja.
Machen Sie alles andere im stillen Kämmerlein mit sich aus, oder hat das sogar etwas miteinander zu tun?
Wie man so sagt: Nutzt ja nichts. Die Lage ist, wie sie ist, und ich tue das, was ich tun kann, um mir in meinem Fall das Leben in einer guten Qualität zu erhalten. Ich achte auf Pausen. Die meisten unserer Corona-Hygieneregeln befolge ich schon lange. Aber ich möchte auch nicht, dass das alles einen zu großen Stellenwert einnimmt – alles nur in einem vernünftigen Maß.
Wie hat die Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit Ihre Haltung zum Leben verändert?
Wie gesagt, ich glaube, dass ich aufmerksamer lebe. Und ich bin durchlässiger geworden.
Was meinen Sie damit?
Mich packen Sachen viel mehr an, ich nehme alles intensiver wahr, ich achte auf vieles sehr, vor allem auch auf Schönes. Viele Menschen finden es im Frühling toll, wenn die ersten Blumen rauskommen. Aber wenn ich dann durch den Park gehe und denke, jetzt geht das Leben wieder los, habe ich ein richtig tiefes Glücksgefühl... Das hat sich schon verändert. Ich denke nicht mehr so schnell, was es zu meckern gibt, sondern bemühe mich zumindest, das zurückzustellen.
Jetzt haben wir sehr lange über das Sterben geredet. Sowohl mit dem Blick auf Ihre Erfahrung als auch auf die Pandemie: Was davon können wir mitnehmen – fürs Leben?
Wichtig ist, dass wir aufmerksamer miteinander umgehen. Wir müssen in dieser ungewöhnlichen Zeit zwar Abstand halten, aber wir müssen auch aufeinander achtgeben. Und wir sollten uns klarmachen, dass es plötzlich unerwartet schnell gehen kann. Es scheint eine Banalität: Aber wir können die Menschen, die wir lieben und schätzen, auch ganz schnell verlieren. Außerdem sollten wir uns vielleicht rechtzeitig Gedanken machen, wie wir gehen wollen. Wir können dem Tod sowieso nicht davonlaufen. Vielleicht sollten wir auch vor dem Gedanken an ihn nicht weglaufen.
Die Fragen stellte: Julia Schaaf