Elke Büdenbender hat der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) ein Interview gegeben, das am 24. Dezember erschienen ist.
Frau Büdenbender, im vorvergangenen Jahr haben Sie uns gesagt, dass das klassische Familien-Hopping bei Ihnen das Weihnachtsfest bestimmt. Wie feiern Sie diesmal?
Uns geht es wie allen anderen: Wir müssen schauen, was möglich ist. Es wäre schön, wenn wir meine 91-jährige Schwiegermutter treffen könnten. Wir möchten im kleinsten Kreis zusammenkommen. Weihnachten wird sehr anders sein als sonst.
Fällt Ihnen der Verzicht schwer?
Weihnachten ist für mich ein Fest der Gemeinschaft. Der Verzicht darauf fällt doppelt schwer, weil wir in den vergangenen Monaten unsere Lieben so selten sehen konnten. Aber so ist es in diesem Jahr: Wenn wir andere schützen wollen, dann müssen wir vernünftig sein und schauen, was das Richtige für die Älteren und Verletzlichen ist. Es ist keine einfache Abwägung. Und vielleicht kann man sich damit trösten, dass man sich sieht, sobald es wieder möglich ist.
Der Verzicht ist in diesem Jahr zum Maßstab guten Handelns geworden. Wird das unsere Gesellschaft dauerhaft verändern?
Der Verzicht für andere, den haben wir gerade im ersten Lockdown in besonderer Weise erlebt. Ich fand es beeindruckend, wie hilfsbereit die Menschen waren. Es war toll, wie sich viele um ihre Nachbarn gekümmert haben. Die einen können nicht rausgehen, dafür geben die anderen mehr und helfen. Und natürlich ist es ein Verzicht, Freunde seltener zu treffen und sich nicht in den Arm nehmen zu können. Das vermisse ich schmerzlich. Händeschütteln dagegen vermisse ich nicht so sehr, denn seit meiner eigenen Krankheit weiß ich, welche Risiken damit verbunden sind. Für mich selbst war einschneidend, dass ich auf Besuche bei meinem Vater verzichtet habe. Dafür habe ich möglichst jeden Tag mit ihm telefoniert.
Kommt das Umarmen wieder, oder werden wir uns das abgewöhnt haben, bis es wieder möglich ist?
Mir selbst fällt es so schwer, darauf zu verzichten, dass ich mir sicher bin: Es kommt wieder.
Zeigt die Pandemie die Grenzen staatlichen Handelns in der Demokratie auf?
Die Demokratie lebt von ihren Bürgern – das zeigt sich in dieser Pandemie ganz besonders. Natürlich kann die Politik Vorgaben machen, und die Behörden können kontrollieren. Aber Wirksamkeit entfalten die Maßnahmen vor allem, wenn die Bürgerinnen und Bürger sich aus Überzeugung daran halten. Das ist auch eine gute Nachricht: Wir können uns selbst helfen. Die Demokratie braucht den vernünftigen Bürger.
Hat die Pandemie die Gesellschaft gespalten oder zusammengebracht?
Die Maßnahmen treffen die Menschen sehr unterschiedlich. Was ist zum Beispiel mit den Kindern, die beim Homeschooling nicht die notwendige Unterstützung bekommen können? Die Pandemie hat nochmal wie unter einem Brennglas gezeigt, wo es Probleme gibt, was noch zu tun ist, um Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Ich unterschätze auch keinesfalls, was ein Lockdown für Künstler oder Gastronomen bedeutet – dass die besonders stark betroffenen Branchen mit den Maßnahmen hadern, verstehe ich. Es irritiert mich aber, wenn Menschen Fakten nicht zur Kenntnis nehmen. Wenn ignoriert wird, dass dieses Virus da ist und Menschen tötet und dass wir mit unserem Gesundheitssystem an einen Punkt kommen können, an dem es zusammenbricht. Das nicht zu sehen, kann ich nicht nachvollziehen. Ich habe aber den Eindruck, dass die große Mehrheit in unserem Land anders tickt.
Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Toten der Corona-Pandemie nur Zahlen in einer Statistik sind. Ist der Tod und das Sprechen darüber ein Tabu?
Häufig nimmt man die Statistik zur Kenntnis, hat aber relativ wenig im Blick, was die Zahlen bedeuten: einsames Sterben, Angehörige, die nicht dabei sein konnten, als ein geliebter Mensch gegangen ist, Verlust. Das Sterben und was es bedeutet, ist gerade zu wenig Thema.
Wie könnte man als Gesellschaft angemessen trauern?
Ich halte es für ganz wichtig, als Gesellschaft noch stärker anzuerkennen, dass es viele Tote in dieser Corona-Zeit gibt – Menschen, die an Corona sterben, aber auch Menschen, die allein sterben mussten, weil niemand bei ihnen sein durfte. Es ist ein großes Leid, das einzelne erfahren, das unsere Gesellschaft aber auch insgesamt prägen wird. Aber wir sprechen nicht genug darüber. Das finde ich befremdlich. Es ist doch so viel mehr als nur eine Statistik. Hinter jedem einzelnen Corona-Toten steht ein ganzes Leben, ein ganzes Buch. Der Pastor sagte bei der Beerdigung meines Vaters: Mit jedem Sterben eines Menschen verbrennt eine ganze Bibliothek. Das halte ich für eine sehr zutreffende Beschreibung: Es gehen ganz viele Menschen mit ihren Geschichten dahin. Wir sind vielleicht zu sehr damit beschäftigt, einen Ausweg aus der Pandemie zu finden.
Wäre ein staatlicher Akt des Gedenkens angezeigt?
Mein Mann hat den Vorschlag gemacht, dass es ein öffentliches Gedenken geben soll. Das fände auch ich angemessen, damit die Trauer nicht unartikuliert bleibt.
Sie selbst leben mit nur einer Niere und zählen zur Risikogruppe. Wie haben Sie dieses Jahr erlebt?
Meine Arbeit hat sich total verändert. Normalerweise reise ich ständig, besuche Schulen und Ausbildungsstätten, Universitäten und Handwerkerinnen. Das ist alles weggefallen. Aber ich habe mich doch schnell umgestellt: mit meinen Kolleginnen rund um die Welt telefoniert, dabei ein neues enges Netzwerk geknüpft und viel erfahren, mich in Videokonferenzen mit Kinder- und Jugendschutzorganisationen über häusliche Gewalt und die teilweise bedrückende Situation von Frauen und Kindern in der Pandemie informiert und und und… Aber das ist alles nicht das Gleiche wie persönliche Begegnungen.
Junge Menschen erleben die Beschränkungen der Pandemie als besonders einschneidend. Wie groß ist die Gefahr, dass die Lebensläufe junger Leute gerade nachhaltig beeinträchtigt werden?
Für die Jungen ist es wirklich besonders schwer. Wenn ich an mein eigenes erstes Semester denke: Wir haben uns in Gruppen zusammengetan, ältere Semester haben uns den Fachbereich und die Bibliothek gezeigt. Das alles findet jetzt nicht statt. Manche Schülerinnen und Schüler werden ein Jahr verlieren, weil sie darauf angewiesen sind, dass sie nachmittags im Hort Hilfe bei den Hausaufgaben bekommen. Dass das alles ausgefallen ist, wird sicher Folgen haben. Für mich ist ganz klar: Gerade für unsere Kinder müssen wir diese Pandemie in den Griff bekommen.
Wird die junge Generation in der Krise zu wenig gehört?
Wir sollten deren Leistung jedenfalls besonders hervorheben. Sie haben sich zum großen Teil an die Beschränkungen gehalten, um das Leben derer zu schützen, die besonders gefährdet waren. Jeder von uns weiß, dass die Freunde im Alter von 14 oder 15 viel wichtiger sind als die Familie. Darauf jetzt zu verzichten, ist eine ungeheure Leistung von jungen Leuten.
Ob Virologen oder Politiker – Männer dominieren das Krisenmanagement. Hat die Krise sichtbar gemacht, wie wenig Macht Frauen nach wie vor haben?
Die Machtfrage ist das eine. Und da sehe ich glücklicherweise immer mehr einflussreiche Politikerinnen und prominente Wissenschaftlerinnen. Aber mir geht es vor allem darum, wie Frauen von der Pandemie betroffen sind. Frauen haben ihre Arbeit reduziert und übernehmen den größten Teil der Familienarbeit.
Weil die Frauen das so wollten?
Nein! Ich denke, die Pandemie hat gezeigt, wo wir stehen und wie viel noch zu tun ist. Wir sind noch immer keine gleichberechtigte Gesellschaft. Frauen werden vor allem im Bereich Sorgearbeit und Kindererziehung verortet. Diese Aufgaben sind noch immer sehr ungleich verteilt.
Was müsste sich ändern?
Eine ganze Menge. Es ist gut, dass es jetzt eine verbindliche Quote für Firmenvorstände gibt. Aber wir müssen grundsätzlich unsere Art zu arbeiten und zu leben ändern. Wir müssen Tätigkeiten auch gleich wertschätzen. Gerade in der Pandemie haben wir gesehen, wie wichtig Bereiche wie die Pflege sind, in denen überwiegend Frauen arbeiten. Das muss sich in Lohn und Anerkennung wiederspiegeln. Wenn man will, dass Männer und Frauen arbeiten, aber auch beide Eltern sein können, dann muss sich unsere Arbeitswelt verändern. Und wir müssen mit Klischees brechen: Wenn Frauen nicht verstärkt in den IT-Bereich gehen, werden die Algorithmen in Zukunft auch nicht klüger und gleichberechtigter sein als jetzt.
Werden Sie Ihrem Mann eine nächste Amtszeit erlauben?
Erlauben?! Aber Sie wissen doch, dass wir eine gleichberechtigte Beziehung führen… Nein, ganz im Ernst: Das werden wir alles sehen, wenn sich die Frage stellt.
Werden Sie sich impfen lassen?
Ja, unbedingt. Ich bin grundsätzlich davon überzeugt, dass Impfen eine große Errungenschaft ist, und habe auch jetzt keine Bedenken. Im Gegenteil: Es ist wunderbar, wie die Forschung uns guten Grund zur Hoffnung gibt.
Was gibt Ihnen Zuversicht mit Blick auf das nächste Jahr?
Mir gibt Zuversicht, dass wir das Übel der Pandemie mit dem Impfstoff bei der Wurzel packen können. Und ich sehe, wie viele Menschen anpacken, sich einsetzen und um andere kümmern. Das gibt mir eine ungeheure Hoffnung.
Die Fragen stellte: Rena Lehmann