Italiener und Deutsche sind sich nah, auch wenn wir keine gemeinsame Grenze haben. Unsere Nationen, die erst spät zur nationalen Einheit gefunden haben, vereinen historische, Jahrhunderte zurückgehende Bindungen. Als europäische Partner und Industrienationen pflegen wir enge und freundschaftliche Beziehungen. Millionen von deutschen und italienischen Touristen, die jährlich das andere Land besuchen, Hunderttausende, die im anderen Land wohnen und Tausende von Firmen in Deutschland und Italien, die Eigentümern aus dem anderen Land gehören – wenige Daten genügen, um das besondere italienisch-deutsche Verhältnis zu illustrieren.
Diese Besonderheit zeigt sich auch daran, dass ich nun zum vierten Mal seit Juli 2010 das „bel paese“ besuche und Präsident Napolitano, diesen beeindruckenden Staatsmann und überzeugten Europäer, bereits zum fünften Mal treffe. Seine Einladung zu einem Staatsbesuch in Italien ist eine Geste, die die Bedeutung bester deutsch-italienischer Beziehungen für unsere beiden Länder und für Europa insgesamt unterstreicht.
Mit meinem Staatsbesuch gerade zum jetzigen Zeitpunkt will ich deutlich machen, dass die Deutschen großes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der italienischen Wirtschaft haben. Deutsche Unternehmen haben mit ihren italienischen Partnern über Jahrzehnte hervorragende Erfahrungen gemacht. Auch italienisches Design hat in Deutschland den allerbesten Ruf. Deutschland weiß, dass Italien aus den aktuellen Schwierigkeiten herausfinden wird, wenn es sich auf seine eigenen Kräfte besinnt.
Mein Staatsbesuch fällt in eine Zeit, die von der Schulden- und Vertrauenskrise in Europa geprägt ist. Was sind die Ursachen dieser Krise? Wie kann Europa die Krise lösen und langfristig gestärkt aus ihr hervorgehen?
Der Druck der globalen Finanzmärkte auf Europa konnte so groß werden, weil Staaten und Haushalte sich exzessiv verschuldeten und ihre Wettbewerbsfähigkeit vernachlässigten. Die Krise wurde dadurch verschärft, dass der Finanzsektor über viele Jahre zu leichtfertig hohe Kredite vergab. Deshalb bedarf es zur Überwindung der Krise zum einen einer besseren Aufsicht und Regulierung der Finanzmärkte und strengerer Maßgaben für systemrelevante Großbanken.
Zum anderen müssen wir die Verschuldung angehen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben Handlungsfähigkeit bewiesen und den institutionellen Rahmen der Währungsunion angepasst. Für die kurzfristige Überbrückung möglicher Liquiditätsengpässe haben wir zunächst den vorübergehenden Rettungsschirm EFSF geschaffen und sind dabei, zur Jahresmitte 2012 den Stabilitätsmechanismus ESM einzurichten. Für die langfristige Lösung des Verschuldungsproblems müssen wir stabilitätsorientiert handeln und Wachstum schaffen. Dafür müssen wir Europäer bei einer sich verschärfenden globalen Konkurrenz unsere Produktivität erhöhen und unsere industrielle, technologische und wissenschaftliche Leistungsfähigkeit stärken.
Dies ist Voraussetzung dafür, dass wir den globalen Wettbewerb zu unseren Gunsten nutzen und Wachstum, das von eigener Leistung getragen wird, schaffen können. Die Lösung liegt nicht, das will ich klar sagen, in der unbegrenzten Bereitstellung von Geld. Dies würde uns nur weiter in die Schuldenfalle treiben und uns auf Dauer gegenüber anderen, aufstrebenden Weltregionen zurückfallen lassen.
Europa muss den Mut haben, Strukturreformen umzusetzen, etwa bei den Renten und beim Arbeitsmarkt, Wachstumshemmnisse zu beseitigen und in Bildung und Forschung zu investieren.
Gleichzeitig müssen wir auf die Solidarität innerhalb unserer Gesellschaften achten, auf den sozialen Ausgleich zwischen den Regionen, zwischen Arm und Reich, zwischen Alt und Jung. Die Menschen in unseren Ländern sind bereit, davon bin ich überzeugt, auch Härten auf sich zu nehmen, wenn sie die Maßnahmen als fair empfinden und durch sie eine bessere Zukunft sicherstellen können.
Ministerpräsident Monti und seine Regierung gehen mit beeindruckender Unterstützung des italienischen Parlaments mit der Rentenreform, dem Programm „Wachse, Italien!“ und der geplanten Arbeitsmarktreform mutige Schritte in die richtige Richtung. Wenn Italien diesen Weg weitergeht, wird er von Erfolg gekrönt sein.
Wenn die europäischen Mitgliedstaaten ihre Staatshaushalte in Ordnung bringen – und hierfür ist aus meiner Sicht der Anfang gemacht – und zu den höchsten Zielen in Forschung, Entwicklung und wirtschaftlicher Leistungskraft streben, dann wird Europa seine Stellung in der Welt behaupten.
Das von De Gasperi, Adenauer, Monnet und anderen begonnene europäische Einigungsprojekt ist einzigartig. Aber es ist nicht selbstverständlich und muss jeder Generation neu begründet werden.
Die Weltordnung ist im Wandel, Europas quantitative Bedeutung wird abnehmen. In anderen Teilen der Welt entstehen neue machtpolitische Zentren, denen wir Rechnung tragen müssen. Die Globalisierung stellt alle Staaten vor noch nie dagewesene Aufgaben. Ob es um die Regulierung der Finanzmärkte, den Klimawandel oder die Sicherheitspolitik geht, die wichtigsten Fragen unserer Zeit kann kein Land alleine beantworten. Europa steht für die Bereitschaft und Fähigkeit von Staaten und Gesellschaften, im eigenen Interesse Macht zu teilen und Kompromisse zu schmieden. Denn anders als jeder Mitgliedstaat für sich allein hat Europa als Ganzes die Fähigkeit, ein wirklich globaler Akteur zu werden. Italien und Deutschland haben als Gründungsstaaten Europas und Wertepartner hier eine besondere Verantwortung.
Die europäische Einigung muss deshalb weitergehen, in Solidarität füreinander und im Bewusstsein der Verantwortung jedes Mitgliedstaates.
Die Geschichte der europäischen Integration ist eine Serie gemeisterter Krisen und Bewährungsproben. Deutschland und Italien haben dabei in den entscheidenden Phasen stets zusammengearbeitet. Auch heute, wenn wir ein politisch geeintes und wettbewerbsfähiges Europa im 21. Jahrhundert schaffen wollen, kommt es auf Italiener und Deutsche als starke Partner für Europa besonders an.