Herr Bundespräsident, Sie erhalten in diesem Jahr den Leo-Baeck-Preis. Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie?
Den Leo-Baeck-Preis empfinde ich als ein großes Geschenk und als einen außerordentlichen Vertrauensbeweis. Der Preis ist mir Freude und Ermutigung, Ansporn und Verpflichtung. Leo Baeck war ein Mensch, der sich sehr für die Verständigung zwischen Juden und Christen eingesetzt hat. Dies liegt auch mir am Herzen, auch um unserer geschichtlichen Verantwortung gerecht zu werden.
In der Preisbegründung wird Ihr von »tiefer Verbundenheit mit der jüdischen Gemeinschaft« getragenes Engagement gewürdigt. Woraus resultiert diese Empathie?
Mich hat in jungen Jahren die bedrückende Erfahrung eines Anschlags auf die Synagoge meiner Heimatstadt Osnabrück geprägt. Ich habe damals ganz persönlich erfahren, dass es in Deutschland leider immer noch antisemitische Strömungen gibt. Ich habe aber auch gelernt, dass wir uns dagegen mit öffentlicher Aufmerksamkeit und Solidarität behaupten können. Dann habe ich in den USA auf Einladung des AJC lebensprägende Erfahrungen gemacht. Auch jetzt als Bundespräsident ist mir Aufmerksamkeit für die gesamte jüdische Gemeinschaft unseres Landes wichtig.
Welche Rolle spielt die jüdische Gemeinschaft in der Bundesrepublik heute?
Es ist wunderbar zu sehen, dass das jüdische Leben in Deutschland wieder erstarkt, dass es zunehmend bunter und vielfältiger wird. Die jüdischen Gemeinden wachsen, stehen aber ebenso wie die christlichen Kirchen vor den Herausforderungen der modernen, säkularen Gesellschaft, die demographischen Änderungsprozessen unterworfen ist. Gerade durch die Zuwanderer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ist der Umfang der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten auf über 100 000 Mitglieder angewachsen. Durch die engagierten Anstrengungen, die gerade im Bereich der Integration der neuen Gemeindemitglieder unternommen werden, geschieht hier Vorbildliches, das unsere Gesellschaft in ihrer Vielfalt bereichert.
Welche Bedeutung kommt dabei der jüdischen Bildung in Schulen, Universitäten und Rabbinerseminaren zu?
Bildung ist das Kapital unserer Gesellschaft. Deshalb ist es gut, dass an Schulen, Universitäten und Rabbinerseminaren auch das Judentum mit seinem Wissen, seiner Kultur und Tradition den Bildungskanon in unserem Land ergänzt und prägt. Dafür sind wir dankbar.
Wie bewerten Sie das sich hier in den unterschiedlichen Strömungen - progressiv, liberal, konservativ und orthodox - entwickelnde jüdische Leben?
Die verschiedenen Denominationen des Judentums spiegeln die Vielfalt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft wieder. Angesichts der dynamischen Entwicklung ist es gut, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland die verantwortungsvolle Aufgabe wahrnimmt, die große Vielfalt der jüdischen Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit zu vertreten.
Welche Perspektive hat das jüdische Leben hier, und welche Bedeutung kommt dabei der jüdischen Bildung in Schulen, Universitäten und Rabbinerseminaren zu?
Rabbiner werden wieder ordiniert, Synagogen und Gemeindezentren gebaut oder renoviert. Kindergärten, Schulen und wissenschaftliche Einrichtungen tragen zu einem blühenden jüdischen Leben in Deutschland bei. All das macht Mut und bereichert unser Land. Bildung ist das Kapital unserer Gesellschaft. Deshalb ist es gut, dass an Schulen, Universitäten und Rabbinerseminaren auch das Judentum mit seinem Wissen, seiner Kultur und Tradition den Bildungskanon in unserem Land ergänzt und prägt. Dafür sind wir dankbar.
Jüdisches Leben ist stets auch von Fremdenhass und Antisemitismus begleitet. Wie schätzen Sie diese Bedrohung ein?
Fremdenhass und Antisemitismus sind ernstzunehmende Probleme, die genau beobachtet und an ihrer Wurzel bekämpft werden müssen. Unsere Geschichte erlegt uns, auch den Nachgeborenen wie mir, besondere Verantwortung auf. Sie verpflichtet uns, die Erinnerung wach zu halten und sie an Nachkommende weiterzugeben, entschieden gegen Antisemitismus und jede Form von Intoleranz vorzugehen. Da gibt es sehr viele ermutigende Aktivitäten.
Sie stehen für ein Deutschland, "das in der Gegenwart angekommen ist, seine Geschichte nicht vergisst", hat Zentralratspräsident Dieter Graumann in der Preisbegründung formuliert. Wie können die Lehren aus der deutschen Vergangenheit der Generation der Zukunft am besten vermittelt werden?
Am Holocaust-Gedenktag habe ich das Konzentrationslager Auschwitz besucht. Ich bin dankbar, dass ich das gemeinsam mit Überlebenden der Shoah und mit Dieter Graumann tun konnte. Dort sagte ich bei der Gedenkfeier anlässlich des 61. Jahrestages der Befreiung:
"Wir dürfen nie wieder zulassen, dass jemals wieder solche Verbrechen geschehen. Und wir müssen die Erinnerung ewig wach halten. Denn das Wissen um das geschehene Grauen, die Erkenntnis dessen, was Menschen fähig waren, anderen Menschen anzutun, sind Mahnung und Verpflichtung für die gegenwärtigen und kommenden Generationen, die Würde des Menschen unter allen Umständen zu wahren.". Bildung und Aufklärung, Museen und Gedenkstätten, wie auch Gesten der Völkerverständigung sind wichtige Bausteine, die Lehren aus der deutschen Vergangenheit der Generation der Zukunft am besten zu vermitteln.
Die Verständigung zwischen jungen Menschen aus Deutschland und Israel liegt mir dabei besonders am Herzen. Sie ist die unverzichtbare Grundlage für die gemeinsame Zukunft der einzigartigen Beziehungen, die Deutschland und Israel verbindet. Darum hat mich auf meiner Reise nach Israel zu Beginn meiner Amtszeit auch eine Jugenddelegation und meiner Tochter Annalena begleitet. Damit wollte ich ein Zeichen setzen, dass die besondere deutsche Verantwortung aus der Shoah eine Aufgabe ist, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Der deutsch-israelische Jugendaustausch ist eine Erfolgsgeschichte. Ich habe mich sehr gefreut, dass wir vor wenigen Tagen das 10-jährige Bestehen von ConAct, dem Koordinierungsbüro für den deutsch-israelischen Jugendaustausch, in meinem Amtssitz Schloss Bellevue, feiern konnten.
Die Fragen stellte Detlef David Kauschke.