Herr Bundespräsident, Sie sind Schirmherr der in Mainz ansässigen bundesweiten Stiftung Lesen, zu deren Gunsten am Samstag ein Benefizkonzert stattfindet. Nach Ihrer Erfahrung, auch als Vater: Auf welchem Niveau bewegt sich die Lese- und Sprachkultur deutscher Kinder und Jugendlicher, hat sich das Niveau in den vergangenen Jahren eher verbessert oder verschlechtert?
Unsere ganze Familie liest gerne. Mein kleiner Sohn holt sich zuhause und in der Spielecke in meinen Arbeitszimmer immer gerne die Bilderbücher aus dem Regal, meine Tochter hat sich als Geschenk sogar ein Zeitungsabonnement gewünscht. Meine Frau und ich versuchen uns Zeit zu nehmen, den beiden Söhnen vorzulesen. Das sind meine ganz persönlichen Erfahrungen. Das andere sind die Zahlen: Nach der neuesten PISA-Studie liegen die deutschen Schülerinnen und Schüler beim Lesen im Mittelfeld. Mädchen lesen mehr als Jungen, deshalb sind Sie auch deutlich besser beim Lesen. Fortschritte vermerkt die PISA-Studie bei der Leseförderung der lernschwachen Schüler. Daran muss weiter gearbeitet werden, denn Lesekompetenz ist die Grundlage für viele andere Erfolge. Eine Studie aus Finnland belegt zum Beispiel, dass Jugendliche, die regelmäßig Zeitung lesen, in vielen schulischen Bereichen besser abschneiden. Das kann aber nicht alleine die Schule beibringen, beim Lesen und Vorlesen sind die Familien, die Eltern gefragt.
Nicht alle Kinder haben aber Eltern, die ihnen vorlesen. Die Verbesserung der Sprach- und Lesekompetenz ist deshalb ein besonders sensibles Thema bei Kindern aus bildungsfernen und einkommensschwachen Schichten, auch und gerade bei Kindern mit Migrationshintergrund. Bedarf es hier besonderer Anstrengungen der Politik oder der Gesellschaft allgemein, um solchen Kindern zu helfen?
Unabhängig von der Herkunft ist es wichtig, dass jedes einzelne Kind in Kindergärten und Schulen schon früh gefördert wird. Aber vor allem die Kinder, die in der Familie wenig Unterstützung erhalten oder bei denen zuhause nur selten Deutsch gesprochen wird, brauchen Hilfe. Hier hat sich schon eine ganze Menge getan: Schülerinnen und Schüler, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, konnten in der Lesekompetenz laut Pisa-Studie den Rückstand auf ihre Mitschüler halbieren. Erzieher und Lehrer haben hier hart gearbeitet, aber selbstverständlich auch die Kinder und viele Stiftungen, die Initiativen und Programme zur Leseförderung auf den Weg gebracht haben.
Sie haben es bereits erwähnt, dass nach den Studien Jungs leseschwächer sind als Mädchen. Das liege daran, so heißt es, dass Väter weniger vorlesen würden und damit als männliches Vorbild ausfallen. Wie wichtig sind Väter, auch beim Lesen, als männliche Vorbilder?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Vorlesen allen Beteiligten große Freude bereitet. Meinem Sohn lese ich zum Beispiel gerne aus "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" vor. Dieses Buch hat mich schon als Kind fasziniert, und es ist schön zu erleben, dass auch mein Sohn Spaß an dieser Geschichte und ihren ebenso charmanten wie mutigen Hauptpersonen hat. Ich kann allen Vätern nur empfehlen, sich die Zeit zum Vorlesen zu nehmen. Es ist für Kinder und Eltern eine wohltuende Erfahrung am Ende eines hektischen Tages, beim Lesen gemeinsam zur Ruhe zu kommen.
Sie diskutieren an der Mainzer Kinder-Uni mit den Kindern über Demokratie. Die allgemeine Tendenz geht dahin, Kinder stärker an Entscheidungsprozesse heranzuführen (Kinder- und Jugendparlamente), auch dahin, Jugendlichen früher (mit 16) ein Wahlrecht einzuräumen. Liegt darin nicht auch die Gefahr, Kinder und Jugendliche zu überschätzen und zu überfordern?
Mir ist es wichtig, dass Demokratieerziehung früh beginnt, dass Kinder schon früh erfahren und erleben, wie demokratisches Miteinander funktioniert. Das geht am besten, wenn Kinder auch selbst aktiv in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, beispielsweise bei der Auswahl des Ausflugziels für den Familienausflug am Wochenende oder bei den Wahlen des Klassensprechers. Ich selbst habe das Interesse an Politik als Schülersprecher entdeckt. Genauso wichtig ist es, dass Kinder dabei nur über das mitentscheiden, was sie auch selbst einschätzen können. Denn wer mitentscheidet, trägt auch Mitverantwortung. Bei den ersten eigenen Erfahrungen mit demokratischen Prozessen sollten junge Menschen ihre ganz persönlichen Erfahrungen machen können. Einigungsprozesse mit anderen können anstrengend sein, erfordern Durchhaltevermögen und Kompromissbereitschaft. Das alles muss frühzeitig erlernt werden, es darf Kinder und Jugendliche aber nicht überfordern.