Bundespräsident Steinmeier kondoliert zum Tod von Oskar Negt

Schwerpunktthema: Pressemitteilung

3. Februar 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 3. Februar Christine Morgenroth-Negt zum Tod ihres Mannes Oskar Negt kondoliert. Der Bundespräsident schreibt:

"Unser Land hat einen großen Sozialwissenschaftler und politischen Intellektuellen verloren. Oskar Negt war ein kritischer Soziologe und Philosoph, ein hellsichtiger Diagnostiker der Gesellschaft, der schon früh erkannte, dass wir über Bildungsgerechtigkeit, über Arbeit und menschliche Würde, über Gemeinsinn und Verantwortung reden müssen, wenn wir unsere Demokratie bewahren wollen. Er war zugleich ein engagierter Bürger und Publizist, der die öffentlichen Debatten und das demokratische Denken in der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg geprägt hat.

Oskar Negt steht für ein glanzvolles Kapitel deutscher Geistes- und Kulturgeschichte. Er studierte in Frankfurt am Main bei Max Horkheimer, promovierte bei Theodor W. Adorno, arbeitete als Assistent von Jürgen Habermas, war eine wichtige Stimme der Außerparlamentarischen Opposition, schrieb und diskutierte mit Alexander Kluge – und wirkte dreißig Jahre lang als Professor für Soziologie in Hannover, bis zuletzt inspiriert von Immanuel Kant und Karl Marx.

Eine solche Laufbahn war ihm nicht in die Wiege gelegt. Er wurde als Sohn eines Kleinbauern in Ostpreußen geboren, flüchtete gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nach Westdeutschland und erarbeitete sich das, was man einen ‚Aufstieg durch Bildung‘ nennt. Seine Herkunft hat er dabei nie vergessen: Zeitlebens fühlte er sich den Gewerkschaften verbunden und engagierte sich in der Erwachsenenbildung.

Dass die Demokratie die einzige Staatsform ist, die ‚immer wieder, tagtäglich, ein Leben lang‘ erlernt werden muss, darauf hat Oskar Negt unermüdlich hingewiesen. Er hat vielen Menschen in unserem Land geholfen, zu mündigen, aufgeklärten Bürgerinnen und Bürgern zu werden. Und er hat, nicht zuletzt, Bewusstsein dafür geweckt, dass die Demokratie nicht einfach nur eine Machttechnik ist, sondern eine Lebensform: Sie braucht Menschen, die sich um das Gemeinwesen kümmern und Verantwortung für andere übernehmen – in der Familie, in der Nachbarschaft, in der Schule oder im Beruf.

Oskar Negt hat sich bis ins hohe Alter hinein um die Demokratisierung der deutschen Gesellschaft verdient gemacht. Heute, in dieser Zeit der Krisen und Veränderungen, ist seine Idee von der sozialen Verantwortung des politischen Menschen aktueller und wichtiger denn je. Oskar Negt fehlt unserem Land. Aber sein demokratischer Geist lebt weiter, wo immer Freiheit und Demokratie mutig und entschlossen verteidigt werden.“