Bundespräsident Steinmeier kondoliert zum Tod von Ernst Tugendhat

Schwerpunktthema: Pressemitteilung

14. März 2023


Bundespräsident Steinmeier hat heute Daniela Hammer-Tugendhat zum Tod ihres Bruders Ernst Tugendhat kondoliert. Der Bundespräsident schreibt:

Ernst Tugendhat war einer der bedeutendsten Philosophen der Nachkriegszeit, dessen Denken die deutsche Philosophie revolutioniert und geprägt hat. Der Lebensweg Ihres Bruders umspannte einen weiten Raum über drei Kontinente hinweg: Flucht vor den Nationalsozialisten aus Brünn in die Schweiz, Emigration nach Südamerika, Studium in Stanford, Rückkehr nach Europa und Deutschland, später noch einmal Südamerika.

Schon als Jugendlicher studierte Ihr Bruder die Schriften von Martin Heidegger, seine Dissertation über den Wahrheitsbegriff bei Heidegger und Husserl wurde zum Standardwerk. So sehr ihn die beiden Philosophen geprägt hatten, so radikal wandte er sich später ab von ihrer Phänomenologie. Ernst Tugendhat wurde, nachdem er diese Schule in den USA kennengelernt hatte, einer der wichtigsten Vertreter der sprachanalytischen Philosophie in Deutschland.

Immer stärker beschäftigten ihn Fragen der Ethik und Moral – und diese Fragen interessierten auch seine Studentinnen und Studenten, die ihn zutiefst verehrten. Die Vorlesungen Ernst Tugendhats an der Freien Universität Berlin waren legendär, nicht zuletzt, weil er selbst von der Studentenbewegung geprägt war und sich auch immer wieder an öffentlichen Debatten beteiligte, etwa über den NATO-Doppelbeschluss oder die Verschärfung des Asylrechts.

Viele Studierende spürten die große Unabhängigkeit im Denken ihres Lehrers. Ernst Tugendhat stellte radikale Fragen an das Leben, auch an sein eigenes. Damit war er Vorbild für viele. Ernst Tugendhat zeichnete eine tiefe Mitmenschlichkeit aus. Sie ließ ihn höchst sensibel sein gegenüber jeder Form von Ungerechtigkeit, von Rassismus und Menschenfeindlichkeit.

Sehr genau zu beobachten und zu hinterfragen, auch sich selbst, das war seine Maxime, als Hochschullehrer und als Mensch. Und das war es auch, was er seinen Studierenden mit auf den Weg gab: niemals ersten Eindrücken zu trauen; immer auch nach anderen, nach neuen Möglichkeiten der Deutung zu suchen; kritisch zu sein; eigene Urteile radikal in Frage zu stellen und damit auf eine sehr radikale Art frei zu sein. Diese Fähigkeit, Fragen zu stellen, diese Freiheit im Geiste brachten seine immer brillant formulierten Schriften zum Leuchten.

Ernst Tugendhat wird uns unvergessen bleiben, als herausragender Wissenschaftler, als zutiefst inspirierender Hochschullehrer und als Mensch.