Namensbeitrag für "The Washington Post"

Schwerpunktthema: Bericht

7. Oktober 2015

Namensbeitrag in der "The Washington Post" anlässlich der Reise von Bundespräsident Joachim Gauck in die Vereinigten Staaten vom 5. bis 8. Oktober 2015

Bundespräsident Joachim Gauck in Schloss Bellevue (Archiv)

George Washington warnte 1796 in seiner präsidialen Abschiedsrede an das amerikanische Volk eindringlich davor, das Schicksal der Vereinigten Staaten mit dem Europas zu verknüpfen: Warum, so lautete seine rhetorische Frage, sollten wir unseren Frieden und unseren Wohlstand mit den Plagen europäischer Ambitionen, Rivalitäten, Interessen, Stimmungen oder Eskapaden verbinden? Es ist anders gekommen als George Washington empfahl, zu unser aller Nutzen. Gerade das 20. Jahrhundert hat gezeigt: Amerika gewinnt, wenn es sich in Europa engagiert. Die Vereinigten Staaten handelten im klugen Eigeninteresse, als sie das Schicksal Europas eben doch mit ihrem eigenen verbanden. Diese Einsicht ist Folge eines langen und auch schmerzhaften Lernprozesses – auf beiden Seiten des Atlantiks. Das Ergebnis ist unsere transatlantische Partnerschaft. Heute nun besteht die Gefahr, dass vergessen wird, was wir schon gelernt haben.

Erinnern wir uns: Zweimal sah sich Amerika gezwungen, Soldaten nach Europa zu schicken. Es ging nicht nur um die Rettung Europas, es ging um die Sicherheit Amerikas, es ging um nicht weniger als das ganze westliche Zivilisationsprojekt. Erst das amerikanische Eingreifen machte den deutschen und europäischen Neubeginn nach der Barbarei der Nationalsozialisten überhaupt möglich. Die Vereinigten Staaten waren es, die nach dem Krieg das Werden und Wachsen der westdeutschen Demokratie nicht nur begleiteten, sondern nach Kräften förderten. Auch als die Vereinigten Staaten vor 25 Jahren die deutsche Einigung unterstützten, so früh und so entschlossen wie sonst niemand, dachte und handelte Amerika zugleich europäisch, aber auch in seinem eigenen Interesse. Mit der deutschen Vereinigung, der dauerhaften NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands und der europäischen Integration vieler Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts setzte sich ein Friedens- und Demokratieprojekt fort, das die Vereinigten Staaten von Anfang an gefördert hatten.

Dennoch gibt es Stimmen in Politik und Wissenschaft, die ein langfristiges Engagement der Vereinigten Staaten in Europa für obsolet halten. Das halte ich für einen gefährlichen Irrtum. Ein Europa ohne die Vereinigten Staaten wäre ein historischer Rückschritt. Nur weil Europa sich sicherheitspolitisch auf die Vereinigten Staaten stützen konnte, ist der Kontinent zu einem Raum der Stabilität geworden. Auch künftig wird gelten: Nur wenn Europa sicher ist, kann es auch stabil sein. Und diese Stabilität brauchen wir in unserer instabilen Welt dringender denn je – in unserem beiderseitigen Interesse: Die gewaltigen globalen Herausforderungen können wir nur gemeinsam bewältigen. Gerade jetzt, da sich Krisenherde an der südlichen und östlichen Peripherie Europas häufen, braucht Europa im NATO-Bündnis die enge Verbindung zu den Vereinigten Staaten.

Mit der Ankunft hunderttausender Flüchtlinge bekommt Europa derzeit die Zerrüttung scheinbar ferner Regionen unmittelbar zu spüren. Wir sind mit einer Krise rund um Syrien konfrontiert, die wir – auch im Interesse der Stabilität Europas – nur gemeinsam mit der gestaltenden Kraft der Vereinigten Staaten lösen können. Auch deshalb und wegen der Daueraufgabe, Fluchtgründe in den Krisenregionen der Welt zu beseitigen, zu minimieren – und den Menschen Zukunftsperspektiven zu eröffnen –, brauchen wir das verlässliche und bewährte Miteinander der Vereinigten Staaten und Europas.

In den Jahren nach seiner Vereinigung ist Deutschland mehr politische Verantwortung zugewachsen – besonders in Europa und an seiner Peripherie. Mein Land hat sich aus historischen Gründen nicht danach gedrängt, aber es stellt sich dieser Herausforderung. Das heutige Deutschland befindet sich in einem Prozess der Neuorientierung. Es vertraut sich selbst mehr als früher, und so traut es sich Schritt für Schritt auch mehr zu. Die Bewältigung der Flüchtlingskrise steht, wie zuvor schon die Schuldenkrise im Euroraum, im Zentrum deutscher Politik. Deutschland engagiert sich im Ukraine-Konflikt, auf dem Balkan, bei den Atomverhandlungen mit dem Iran, im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat sowie in den entfernter liegenden Krisenregionen Afghanistan und Mali.

Unsere politische Richtschnur ist überall die gleiche: Es sind die Werte der Aufklärung, der Zivilisation, die das international engagierte Deutschland prägen und uns dabei mit den Vereinigten Staaten verbinden. Es gibt keine bessere politische Leitidee als jene, die sich der Freiheit, der Demokratie und den Menschenrechten verpflichtet. Auch wenn wir – Europäer und Amerikaner – immer wieder über die Auslegung und Abwägung dieser Prinzipien streiten, über ihre existentielle Bedeutung sind wir uns einig. Wie existentiell diese westlichen Werte sind, das sehen wir gerade in der Flüchtlingskrise. Wer die Berufung auf diese Werte als Phrase abtut, der verschließt entweder seine Augen vor der Not dieser Menschen oder hat den Wesenskern dieser Werte nicht verstanden: Sie sind universell, und sie bleiben universell, auch wenn es Menschen und Regime gibt, die das nicht akzeptieren. Gerade deshalb müssen wir den Universalitätsanspruch immer wieder neu verteidigen.

Auch das schaffen wir nur gemeinsam, wenn wir unsere transatlantische Partnerschaft stärken, wenn wir uns als Partner entschlossener und substantieller einbringen. Beginnen sollten wir schon in der Zivilgesellschaft. Die starken und vielfältigen Verbindungen, die doch gleichsam das Gewebe der transatlantischen Partnerschaft bilden, die gilt es – auch finanziell – zu sichern. Zugleich sollten wir unsere engen Verflechtungen in Handel und Wirtschaft nutzen, einen gemeinsamen Ordnungs- und Werterahmen für unsere bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zu schaffen, der unseren freiheitlichen Vorstellungen von fairem Wettbewerb entspricht. Mit dem Transatlantic Trade and Investment Partnership würde sich die Chance bieten, unser transatlantisches Modell der offenen Gesellschaft noch wirksamer zu entfalten und auch Maßstäbe für den Welthandel zu setzen. Hier gilt es, weiter Überzeugungsarbeit zu leisten. Die deutsche Regierung ist daher gemeinsam mit ihren europäischen Partnern bemüht, Klarstellungen und Verbesserungsvorschläge in die Verhandlungen einzubringen, um Besorgnisse der Bevölkerung aufzugreifen.

Wir Europäer werden aber auch neue Anstrengungen unternehmen müssen, um uns vor jenen zu schützen, deren Machtansprüche sich nicht mit Freiheit und Selbstbestimmung vertragen. Dafür ist das Nordatlantische Bündnis unverzichtbar. Wir Europäer konnten uns seit Jahrzehnten auf den Schutz der NATO und die Vereinigten Staaten als Garant des Bündnisses verlassen. Heute müssen wir uns neu fragen, was die Verteidigung von Freiheit, Demokratie und Sicherheit uns tatsächlich wert ist.

Wollen wir also die transatlantische Partnerschaft stärken, müssen wir uns etwas sehr Grundsätzliches klar machen: Weniger amerikanisches Engagement in Europa, zwei auf sich selbst bezogene Kontinente, das wäre eine Konstellation die Deutschland – und Europa – auf Dauer nicht guttun würde. Auch für Amerika ist ein geschwächtes Europa angesichts immenser politischer, ökonomischer und ökologischer Herausforderungen weltweit ein Szenario, dass sich niemand wünschen kann.