Mit Umbrüchen kennt Carola Stallbaum sich aus. Sie ist einer der Menschen, die es schaffen, der Ungewissheit mit Wagemut zu begegnen. Als die Stendalerin im August 1989 Mutter eines Sohnes wurde, da gab es die DDR noch. Die Agraringenieurin war damals in der örtlichen Obstbaugenossenschaft am Rande der Stadt beschäftigt und ging in Elternzeit. Kurze Zeit später fiel die Mauer. Und das veränderte die Welt – im Großen wie im Kleinen.
Wenn Carola Stallbaum von den Jahren danach erzählt, dann klingt das unter anderem so: Als ich 1990 aus der Elternzeit zurückkehrte, bedeutete das Kurzarbeit Null.
Die Gegenwart war unsicher geworden, die Perspektive für die Zukunft noch schlechter – kurze Zeit später gab es ihren Betrieb nicht mehr. Die Ingenieurin nahm damals ihren Mut zusammen. Mit einem Kredit gründete sie einen eigenen Obst- und Ackerbaubetrieb. Kurze Zeit später stieg ihr Mann, ein gelernter Kfz-Mechaniker, mit ein.
Und was daraus geworden ist, sehen Sie hier
, sagt Carola Stallbaum an diesem Augustmorgen und lächelt ihren Gast stolz an. Respekt
, sagt der Bundespräsident. Das Staatsoberhaupt ist zu Besuch auf dem Obsthof. Gerade sitzt Frank-Walter Steinmeier mit der Landwirtin und ihrer Familie auf den Bänken eines Kremsers, der durch die Apfelplantage tuckert. Der Sohn, der inzwischen den Betrieb gemeinsam mit den Eltern führt, erklärt detailliert, mit welch modernen Methoden er Bewässerung und Pflanzenschutz steuert und überwacht. Gegen die wachsende Zahl an Starkregenfällen und den Hagelschlag kann sich aber kein Landwirt wappnen. Auf der Plantage wird einiges ausprobiert, um den Betrieb resilient gegen den Klimawandel zu machen, zwei Baumreihen neben dem Kremser pflanzt man neuerdings Kaki-Früchte an.
Was sind für Sie die großen Herausforderungen?
, fragt der Bundespräsident die Seniorchefin. Es entspinnt sich eine lebhafte Diskussion um wachsende Bürokratie und den Mangel an Fachkräften. Carola Stallbaum begegnet diesem Thema mit ihrer Erfahrung und der Zuversicht der Gründerjahre: Wir brauchen Menschen, die Verantwortung übernehmen. Es gab nicht nur gute Zeiten, und wir brauchten viel Mut. Aber wir haben für jedes Problem am Ende immer Lösungen gefunden.
Gespräche wie diese gehören zu den wichtigen Erfahrungen, die der Bundespräsident aus seinen "Ortszeiten" im Land mitnimmt. Auf jeder einzelnen dieser Reisen, bei denen er in einer kleineren Stadt zu Gast ist, nimmt sich das Staatsoberhaupt viel Zeit, um ganz Ohr zu sein. Viele sagen gerade im ländlichen Raum: Wir haben den Eindruck, dass wir nicht gesehen oder nicht gehört werden; wir haben den Eindruck, dass die Prioritätenliste in Berlin anders ist als in Stendal
, schildert Frank-Walter Steinmeier seine Eindrücke. Ich will signalisieren: Es interessiert mich, was ihr denkt und was euch fehlt – und was euch gelingt.
Wenn er dann vor Ort sei, stoße er bei vielen Menschen auf großes Interesse am Austausch.
Zu seiner zwölften "Ortszeit" ist der Bundespräsident nach Stendal im Norden Sachsen-Anhalts gekommen. Die Stadt ist historisch geprägt von der Erfahrung der Zu- und Abwanderung. Für die Region spielte die einstige Hansestadt immer eine zentrale Rolle. Zu DDR-Zeiten wuchs Stendal auch deshalb, weil es Planungen für ein Atomkraftwerk gab – seitdem besteht die Stadt aus dem älteren Kernbereich und dem Neubaugebiet Stadtsee.
Die stolze Vergangenheit Stendals als Hansestadt sieht der Bundespräsident gleich nach seiner Ankunft bei einem Besuch im spätgotischen Dom St. Nikolaus mit seinen prächtigen Buntglasfenstern. Drinnen trifft der Bundespräsident auf Gemeindemitglieder, die ihm von der Stimmung in ihrer Stadt berichten.
Dasselbe tun auch die Fraktionsvorsitzenden des Stadtrates kurze Zeit später in einer Gesprächsrunde. Für ihn, so berichtet Steinmeier zunächst einmal hier, sei der Besuch in Stendal eine Wiederkehr. Denn die Stadt sei nach dem Mauerfall eine der ersten gewesen, die er besucht habe – zwischen seiner damaligen Wirkungsstätte in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt gab es seinerzeit eine Art Partnerschaftsprogramm. „Vieles
“, so meint der Bundespräsident, hat sich seither in Ihrer Stadt deutlich zum Besseren entwickelt.
Er sei aber an diesem Tag nicht da, um nur das Gute zu hören – er wisse auch um Sorgen, Unzufriedenheit und eine Stimmung, die besser sein könnte.
Neben dem unterfinanzierten Kommunalhaushalt sei es die Demografie, die der Stadt zu schaffen mache, beschreibt der Oberbürgermeister Bastian Sieler die Lage. Uns fehlt es vor allem an der jüngeren Generation, wir brauchen Nachwuchs und Fachkräfte.
Sieler sieht ein weiteres Problem: Er spüre seit Corona und angesichts der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten eine wachsende Verunsicherung und Zukunftsängste. Hingegen: Wenn man Leute konkret fragt, wo ihr Problem wirklich ist, können es viele gar nicht genau sagen.
Er kenne umgekehrt auch viele Menschen mit Zuversicht, die sich für die Stadt engagierten.
Zuwanderung ist eines der Themen, welche die Runde noch genauer erörtert – die Stadt braucht Zuwanderung, gleichzeitig bringen die Aufgaben der Flüchtlingsbetreuung neue Belastungen mit sich. Der Vertreter der AfD-Fraktion, Arno Bausemer, zeichnet das Bild einer Stadt, in der Menschen Angst vor Migranten hätten, welche das Stadtbild veränderten. Einen ganz anderen Fokus legt der Vertreter des Bürgerbündnisses Respekt für Stendal
, Samuel Kloft, auf Stendal: Aus seiner Sicht fühlten sich viele Menschen nicht gesehen, es fehle ihnen an Wertschätzung für ihre Lebensleistung. So kommt es dann zu Hass, Angst und Neid und dem Gefühl, beispielsweise Migranten nähmen Alteingesessenen etwas weg.
Zu den kommunalen Einrichtungen, die Stendal attraktiv machen, gehört das Theater der Altmark, welches der Bundespräsident am Abend besucht. Ich glaub‘, ’ne Dame werd’ ich nie
lautet der Titel eines Hildegard-Knef-Liederabends, den die Schauspieler Niclas Ramdohr und Susan Ihlenfeld aus Texten der Knef erarbeitet haben.
Am nächsten Tag trifft Bundespräsident Steinmeier auf Studierende und Dozenten des Studiengangs Nachhaltige Betriebswirtschaftslehre
, den die Hochschule Magdeburg-Stendal hier anbietet – der noch recht neue Studienzweig wächst und erfreut sich wachsender Beliebtheit und ist wichtig für die Region. Studierende zeigen dem Staatsoberhaupt hier ein nachhaltiges Logistikprojekt, an dem sie arbeiten.
Anschließend trifft Frank-Walter Steinmeier in der "Kleinen Markthalle", einer ehemals leerstehenden Kaufhalle in der Innenstadt, auf die Engagierten der Freiwilligen-Agentur Altmark. Nicht ohne Stolz berichten die Ehrenamtler davon, wie sie die Markthalle zu einem Treffpunkt für Netzwerkarbeit gemacht haben, in dem verschiedene Projekte organisiert werden. In diesem Jahr gehören dazu zum Beispiel die Beteiligung an der "Woche der Einsamkeit" – und ein Ausstellungsprojekt zu Zeitzeugenerfahrungen in Stendal während der Friedlichen Revolution vor 35 Jahren. Im Gespräch geht es natürlich auch um die mutigen Stendaler, die seinerzeit mit Protesten gegen die DDR-Obrigkeit den Abriss der historischen Altstadtbauten verhindert hatten.
Zu der für jede "Ortszeit" traditionellen "Kaffeetafel kontrovers" trifft der Bundespräsident anschließend im alten Ratskeller, heute eine Kaffeerösterei, mit elf Bürgerinnen und Bürgern zusammen. Zuwanderung ist auch hier eines der Themen am Tisch – diskutiert wird kontrovers und aus vielen Perspektiven. Wir sind eine weltoffene Schule mit tollen Kindern
, berichtet zum Beispiel Monika Teichert, seit 33 Jahren Schulleiterin an einer Grundschule. Aber wir haben zu kämpfen. Es fehlt an Personal und an Ausstattung, 75 Prozent unserer Kinder haben Zuwanderungsgeschichte.
Sie wünscht sich mehr Hilfe, um die Chancen der Kinder zu wahren. Wie existenziell Zuwanderung in der Stadt nötig ist, macht Krankenhausdirektor Jens Domke klar: Ohne Migration würde unsere medizinische Versorgung schlicht zusammenbrechen.
Aber die Anerkennungsverfahren dauerten viel zu lange, die Sprachprobleme seien riesig. Wir müssen einen viel größeren Fokus auf Integration legen.
Auch die Themen Rassismus und Migrationsfeindlichkeit kommen zur Sprache: Alle drei Menschen mit Zuwanderungsgeschichte am Tisch berichten von vereinzelten Anfeindungen.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die wachsende Sorge vor Krieg und Kritik an der geplanten Stationierung von Raketen – über all das debattiert die Runde ebenfalls lebhaft. Ich will nicht kriegstüchtig werden
, ruft der Sozialdemokrat Jochen Clauß aus, der auch Hilfstransporte in die Ukraine organisiert. Er stößt sich an der von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius verwendeten Vokabel und betont, die Bundeswehr sei eine Verteidigungsarmee. Seine Erfahrungen mit der Hilfsbereitschaft der Bevölkerung nach zwei Jahren beschreibt er ernüchtert: Die Hilfe lässt nach, die Stimmung hat sich verändert.
Mehrere Teilnehmer plädieren dringend für Gespräche mit Russland, damit der Krieg ein Ende finden könne. Der Bundespräsident bleibt an diesem Punkt beharrlich: Bei allen Friedenswünschen sei es notwendig, die Ukraine so lange zu unterstützen, wie Putin auf seinem Kriegsziel beharre. Und er betont auch, die Sicherheitslage und dadurch auch das Bedrohungsgefühl hätten sich durch den Angriff für ganz Europa verändert. Am Ende bedankt sich Frank-Walter Steinmeier bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Runde – für die offenen Worte und für den Austausch von Argumenten. Das ist es, was Demokratie auch ausmacht.
Ein ausführlicher Besuch im Stadtteil Stadtsee steht am dritten Tag der "Ortszeit" auf dem Programm des Bundespräsidenten. Vor einem Rundgang durch die Siedlung, bei dem er auch mit Anwohnern diskutiert, kommt eine Runde im Stadtteilzentrum zusammen. Oberbürgermeister Sieler berichtet, wie man mit Beteiligungsverfahren die Bedürfnisse der Bewohner sammelt und das Wohnumfeld verbessert. Am Tisch sitzen unterschiedliche Generationen, zusammengebracht von der Stadtteilmanagerin Ulrike Brehm: Seniorinnen, die als Familienhelferinnen ehrenamtlich arbeiten, genau wie junge Leute, die im Jugendtreff aktiv sind. Mich hat begeistert, wie in Kombination von städtischen Profis und ehrenamtlich Arbeitenden hier ein System der Unterstützung entsteht
, sagt Frank-Walter Steinmeier anschließend.
Am Abschluss der "Ortszeit" steht wie immer eine festliche Verleihung von Verdienstorden an Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren – diesmal wird im Stendaler Musikforum gefeiert.
Nach drei Tagen zieht der Bundespräsident eine positive Bilanz: Ich bin immer neugierig auf die Gespräche während der Ortszeit – die an den Tischen, aber auch die spontanen auf der Straße
, sagt er. Und es gelingt immer wieder, Menschen auch bei schwierigen Themen zusammenzuführen.
Was er sich wünscht, beschreibt der Bundespräsident so: Es geht darum, dass wir ein realistisches Bild von uns selbst kriegen. Wir sollten selbst sehen, dass uns in den letzten Jahrzehnten auch vieles gelungen ist. Wir sind jetzt in einer Phase, in der wir viele Krisen gleichzeitig zu verarbeiten haben. Wir müssen gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um uns da herauszuarbeiten. Das geht nicht, indem wir uns selbst schlechtreden. Das geht nur mit Ehrgeiz, Zuversicht und der Besinnung auf unsere Stärken, die wir ganz ohne Zweifel haben.
"Ortszeit Deutschland"
Stendal war nach Weiden in Bayern, Espelkamp in Nordrhein-Westfalen, Meiningen in Thüringen, Eckernförde in Schleswig-Holstein, Senftenberg in Brandenburg, Völklingen im Saarland, Freiberg in Sachsen, Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern, Rottweil in Baden-Württemberg, Quedlinburg in Sachsen-Anhalt und Altenburg in Thüringen die zwölfte Station der "Ortszeit Deutschland". Der Bundespräsident wählt bewusst Orte, die – auf sehr unterschiedliche Weisen – mit Wandel umgehen und aktuelle Herausforderungen meistern.
Der Bundespräsident bringt Zeit mit, ist ansprechbar und sucht spontane Begegnungen. Er möchte erfahren, was den Menschen Mut und Hoffnung gibt und was sie skeptisch gegenüber unserer Demokratie und ihren Institutionen macht. Er will Eindrücke davon gewinnen, was die Menschen vor Ort bewegt und sie motiviert, Verantwortung zu übernehmen, und was dies für politische Entscheidungsträger bedeuten kann. Bundespräsident Steinmeier zum Konzept seiner "Ortszeiten" in den Regionen: Demokratie braucht Austausch, Austausch braucht Nähe, Nähe braucht Begegnung, und Begegnung braucht Zeit.
Kurzprogramm
Sonntag, 25. August
- Mittags, Stendal
Ankunft und Begrüßung durch den Oberbürgermeister der Hansestadt Stendal, Bastian Sieler - Anschließend, Rathaus
Eintrag in das Goldene Buch der Hansestadt Stendal - Anschließend
Kommunalpolitisches Gespräch mit dem Oberbürgermeister, dem Stadtratsvorsitzenden und den Fraktionsvorsitzenden - Anschließend
O-Ton des Bundespräsidenten - Anschließend, Hotel Schwarzer Adler
Aufnahme der Amtsgeschäfte des Bundespräsidenten am zeitweiligen Amtssitz - Abends, Theater der Altmark
Besuch des Theaterstücks "Ich glaub', 'ne Dame werd' ich nie. Ein Hildegard-Knef-Liederabend" von Niclas Ramdohr und Susan Ihlenfeld
Montag, 26. August
- Morgens, Obsthof Stallbaum/Stendaler Scheunenladen
Besuch des Hofes und Besichtigung einer Apfelplantage sowie Gespräch - Anschließend, Hochschule Magdeburg-Stendal
Besuch der Hochschule und Gespräche mit Hochschulleitung, Dozenten, Studierenden und Absolventen über den Studiengang Nachhaltige BWL und das Thema inklusive Bildung - Anschließend, Kleine Markthalle
Gespräch mit Engagierten der Freiwilligenagentur Altmark e.V. über die Themen bürgerschaftliches Engagement, Woche der Einsamkeit und Friedliche Revolution - Nachmittags, Ratskeller
"Kaffeetafel kontrovers" des Bundespräsidenten, Diskussion mit Bürgerinnen und Bürgern - Anschließend
O-Ton des Bundespräsidenten
Dienstag, 27. August
- Vormittags, Stadtteilbüro Stendal-Stadtsee
Gespräch mit Bewohnerinnen und Bewohnern und Engagierten des Plattenbauviertels Stadtsee über aktuelle Fragen und Unterstützungsangebote rund um die Themen demografischer Wandel und Migration - Anschließend
O-Ton des Bundespräsidenten - Mittags, Musikforum Katharinenkirche
Ansprache und Ordensverleihung an engagierte Bürgerinnen und Bürger aus Sachsen-Anhalt