Wenn Arialda mit der Schule fertig ist, möchte sie Bankkauffrau werden – und die Chancen, dass ihr dies gelingt, stehen nicht schlecht. Wie schnell sie dafür Deutsch gelernt hat, das ist ein kleines Wunder. An solchen Wundern wird in der Bischof-Hermann-Kunst-Schule in Espelkamp jeden Tag gearbeitet. Auch an diesem Mittwoch kommen die Schüler und Lehrer in einem Klassenzimmer zusammen. Auf einem der schmalen Holzstühle hat hoher Besuch Platz genommen: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist gekommen, um mit Lehrkräften und Jugendlichen darüber zu sprechen, was diesen Ort so einzigartig macht. Ich bin so froh, hier zu lernen
, sagt Arialda zu ihm.
Die Schule gehört zu den Einrichtungen, die sich das Staatsoberhaupt während seines dreitägigen Besuchs in der kleinen Stadt in Nordrhein-Westfalen genauer anschaut. Es ist kein Zufall, dass seine zehnte "Ortszeit" den Bundespräsidenten genau hierher nach Ostwestfalen führt: In Espelkamp haben die Menschen so viel Erfahrung mit dem Thema Zuwanderung wie an wenigen Orten in Deutschland. Denn die Stadt, die in diesem Jahr ihr 75-jähriges Bestehen feiert, entstand eigentlich allein durch Zuwanderung: In dem ländlichen Gebiet dienten nach dem Zweiten Weltkrieg die Reste einer Rüstungsfabrik als Wohnraum für Vertriebene und Flüchtlinge. Die neue Stadt entstand damals auf dem Reißbrett als Modellprojekt in Zusammenarbeit zwischen der evangelischen Kirche und dem Land Nordrhein-Westfalen – davon erzählt eine Ausstellung, die der Bundespräsident bei seinem Besuch eröffnete.
Zuzug hat Espelkamp seither geprägt. Nach den Vertriebenen fanden hier Arbeitskräfte aus dem Ausland, Aussiedler aus Osteuropa und jüngst Geflüchtete aus Kriegsgebieten ein neues Zuhause. In Espelkamp mit seinen 27 000 Einwohnern leben Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kulturen und Religionen zusammen. Unsere Stadt war zu jeder Zeit eine Heimat für geflüchtete Menschen
, sagt der Bürgermeister Henning Vieker.
Als Arialda 2022 aus Mazedonien kam, sprach sie kein Wort Deutsch – die Sprachbarriere ist oft das größte Hemmnis für Bildung und Integration. 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler an der Bischof-Hermann-Kunst-Schule haben eine Migrationsgeschichte. Anders als in anderen Schulen heißt es hier: Deutsch lernen steht an erster Stelle. Zu Beginn ist es das einzige Schulfach. Erst ab einem bestimmten Sprachniveau kommen andere Fächer hinzu.
Etliche Schüler wohnen auch auf dem Gelände, haben furchtbare Fluchterfahrungen hinter sich, waren jahrelang nicht in einer Schule. So wie Souleymane, der erst wenige Monat zuvor aus Guinea kam – als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Da wird die Schule dann auch zum emotionalen Heimathafen. Wer hierher kommt, braucht Zeit
, sagt eine Lehrerin. Und die nimmt man sich hier für die Jugendlichen. Wie erfolgreich das Konzept ist, können die Schüler im Gespräch schon selbst berichten. Yakiv, der aus der Ukraine kommt, berichtet von seinem Berufswunsch, Bauer zu werden, Bilal aus Afghanistan von seinem Traum, Informatik zu studieren. Er sei beeindruckt von den Erfolgen der Jugendlichen, die nach eineinhalb Jahren Sprachunterricht im regulären Schulbetrieb ankommen, sagt Bundespräsident Steinmeier anschließend. Besonders gut findet er es, dass die Schule auch Kontakte zum örtlichen Handwerk und zur Industrie knüpft und hält, um Jugendliche in Ausbildung zu bringen.
Wenn ich zur Ortszeit ins Land reise, dann möchte ich damit auch das Scheinwerferlicht auf Orte richten, an denen Dinge besser funktionieren als anderswo
, sagt Bundespräsident Steinmeier. Deswegen sind wir hier.
Er sucht sich für die "Ortszeiten" bewusst Orte aus, die – auf sehr unterschiedliche Weisen – gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel gestaltet haben, aber selten im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen.
In Espelkamp steht umgekehrt auch das Staatsoberhaupt im Fokus: Das Interesse am prominenten Besucher ist riesig. Schon bei der Ankunft hat den Bundespräsidenten eine große Gruppe interessierter Bürger in Empfang genommen. Und bei der ersten Station der Reise wartet eine Herausforderung auf Frank-Walter Steinmeier. Hätten Sie Lust, `ne Runde Kicker zu spielen?
, fragt der elfjährige Leander. Der Bundespräsident lässt sich nicht zweimal fragen. Gemeinsam mit Bürgermeister Henning Vieker tritt er im Jugendzentrum "Real Life" gegen Leander und dessen Freund Jona an – die erfahreneren Kicker entscheiden die Partie knapp für sich.
Die jungen Gastgeber nehmen es sportlich. Das Jugendzentrum bietet dem Espelkamper Nachwuchs einen Freiraum zum Spielen und zur Begegnung, aber auch für Sport und Hausaufgabenhilfe. Das Projekt wird ausschließlich ehrenamtlich betrieben – eine enorme Leistung der Stadtgesellschaft, die der Bundespräsident mit seinem Besuch würdigt.
Dafür zeigen die Jugendlichen bei einem Rundgang dem Staatsoberhaupt ihre Stadt. Wer so nah dran ist, kann auch mal neugierige Fragen stellen: Wollten Sie schon immer Politiker werden?
, fragt ein Junge. Als ich so alt war wie Du, wollte ich gerne Sportreporter werden
, verrät der Bundespräsident. Und erzählt dann von seinem späteren Jurastudium und davon, dass er vielleicht heute an einer Uni arbeiten würde, hätte nicht der Mauerfall in Deutschland so viel verändert, dass es ihn damals in die Politik zog.
Ein anderer Junge fragt, was am Beruf des Bundespräsidenten am schönsten sei. Die Antwort kommt prompt: Dass ich mit so vielen Menschen in Kontakt komme. Und dass sich die meisten auch darüber freuen, mich zu sehen.
Das stimmt für Espelkamp ganz offensichtlich: Bei jedem Stadtrundgang ist Frank-Walter Steinmeier von einer Traube Neugieriger umringt.
Mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen, das steht für den Bundespräsidenten stets im Mittelpunkt einer jeden Ortszeit. Ob auf der Straße zum kurzen Plausch, auf dem Wochenmarkt oder bei einer ausführlichen kommunalpolitischen Runde im Rathaus mit allen Fraktionsvorsitzenden – Frank-Walter Steinmeier möchte genau nachhorchen, was die Menschen vor Ort beschäftigt, wo die Besonderheiten, die Probleme und auch die Chancen der jeweiligen Region liegen.
Zu diesen Besonderheiten gehört in Espelkamp auch die starke Rolle, welche die Kirche spielt, und die religiöse Vielfalt. Der Ort ist in Deutschland ein Zentrum für die mennonitische Glaubensgemeinde – das geht auf die Ansiedelungspolitik der Entstehungsjahre zurück. Auch evangelische Freikirchen sind aktiv – und bringen sich mit ehrenamtlichem Engagement in die Stadtgesellschaft ein. So organisiert eine Gemeinde zum Beispiel seit Beginn des russischen Angriffskrieges die Unterbringung ukrainischer Geflüchteter.
Die Kommune ist für dieses Engagement dankbar, wie der Bürgermeister dem Bundespräsidenten bei der kommunalpolitischen Runde berichtet. Trotzdem bringe die Unterbringung von Geflüchteten die Stadt und ihre Struktur an die Grenzen des Machbaren, so der Bürgermeister weiter. In Espelkamp sehen sich die kommunalpolitischen Vertreter vor einer Situation, in der viele Städte sind: Der Stadtsäckel ist leer, die Kommune chronisch unterfinanziert für die vielen Aufgaben, die zu leisten sind.
Ein Ratsmitglied beschreibt die Lage: Kommunen sind die Orte, an denen alle Menschen erleben, wie Politik ihren Alltag gestalten kann - oder auch nicht. Wenn hier nichts mehr passiert, weil das Geld fehlt, mache ich mir Sorgen um die Demokratie.
Auch Nachwuchssorgen plagen die Kommunalpolitiker – viele Menschen wollten sich nicht mehr engagieren, weil sie Angst vor Auseinandersetzungen, ja vor Hass und Hetze haben. Ein Thema, das den Bundespräsidenten sorgt: Der Ton der Auseinandersetzung wird immer rauer und massiver
, sagt er. Wenn sich in Städten und Gemeinden immer weniger Menschen politisch engagierten, dann trockne die Demokratie an ihren Wurzeln aus. Dagegen müssen wir gemeinsam anarbeiten.
Deshalb ist dem Bundespräsidenten auch die "Kaffeetafel kontrovers" so wichtig – eine Diskussionsrunde, zu der er bei jeder Ortszeit Bürgerinnen und Bürger einlädt. Zweieinhalb Stunden wird in Espelkamp mit sehr unterschiedlichen Perspektiven diskutiert – über den strittigen Neubau eines Krankenhauses, für den ein Stück Wald weichen soll, über Mobilität im ländlichen Raum. Der Bundespräsident erlebt – wie so häufig bei Ortszeiten – eine Runde, die vernünftig streitet und zuhört.
Eine Premiere gibt es am Abend dann für das Staatsoberhaupt auch noch: Zum ersten Mal in seiner Amtszeit feiert der Bundespräsident ein muslimisches Fastenbrechen mit, da die Ortszeit mit dem Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan zusammenfällt. Während der festlichen Abendgesellschaft erzählen Musliminnen und Muslime dem Staatsoberhaupt ihre Lebens- und teils auch Migrationsgeschichten.
Den Abschluss auch dieser Ortszeit bildet am dritten und letzten Tag die Verleihung von Verdienstorden an ehrenamtlich engagierter Bürgerinnen und Bürger. Zuvor schaut sich der Bundespräsident allerdings noch das moderne Ausbildungszentrum der Technologiefirma Harting an, dem größten Arbeitgeber in der Region – und eine Firma, die weiß, wie wichtig Zuwanderung und Ausbildung neuer Fachkräfte ist. Mit dem Besuch schließt sich für den Bundespräsidenten auch thematisch der Kreis dieser Ortszeit: Denn die Schülerinnen und Schüler an der Bischof-Hermann-Kunst-Schule sind die Auszubildenden von Morgen.
"Ortszeit Deutschland"
Espelkamp in Nordrhein-Westfalen war nach Meiningen und Altenburg in Thüringen, Eckernförde in Schleswig-Holstein, Senftenberg in Brandenburg, Völklingen im Saarland, Freiberg in Sachsen, Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern, Rottweil in Baden-Württemberg und Quedlinburg in Sachsen-Anhalt die zehnte Station der "Ortszeit Deutschland".
Der Bundespräsident bringt Zeit mit, ist ansprechbar und sucht spontane Begegnungen. Er möchte erfahren, was den Menschen Mut und Hoffnung macht und was sie skeptisch gegenüber unserer Demokratie und ihren Institutionen werden lässt. Er will Eindrücke davon gewinnen, was die Menschen vor Ort umtreibt und auch motiviert, Verantwortung zu übernehmen, und was dies für politische Entscheidungsträger bedeuten kann. Bundespräsident Steinmeier zum Konzept seiner Ortszeiten in den Regionen: Demokratie braucht Austausch, Austausch braucht Nähe, Nähe braucht Begegnung, und Begegnung braucht Zeit.
Kurzprogramm
Dienstag, 12. März
- Bahnhof Espelkamp
Ankunft und Begrüßung durch Henning Vieker, Bürgermeister von Espelkamp - Jugendzentrum Real Life
Begrüßung durch Jugendliche, Besuch des Jugendzentrums und gemeinsamer Gang durch die Stadt - Rathaus
Eintrag in das Goldene Buch der Stadt Espelkamp - Kommunalpolitisches Gespräch mit dem Bürgermeister und sechs Fraktionsvorsitzenden
- Hotel Mittwald
Aufnahme der Amtsgeschäfte des Bundespräsidenten am Amtssitz - Alte Gießerei
Rundgang und Ansprache bei der Eröffnung der Ausstellung "Neu anfangen. Nur wie? Espelkamp und andere 'Flüchtlingsstädte' in den 1950er Jahren"
Mittwoch, 13. März
- Bischof-Hermann-Kunst-Schule
Besuch der Schule und Gesprächsrunde mit Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern - Begegnung mit Schülerinnen und Schülern während der Großen Pause
- Freie Evangelische Bibelgemeinde Espelkamp
Gespräch mit Gemeindemitgliedern - Bürgerhaus
"Kaffeetafel kontrovers" des Bundespräsidenten, Diskussion mit Bürgerinnen und Bürgern - Rathaus
Fastenbrechen mit Musliminnen und Muslimen
Donnerstag, 14. März
- Neues Ausbildungszentrum Harting (NAZHA)
Rundgang und Gespräche, u.a mit Auszubildenden - Schloss Benkhausen
Ordensverleihung an engagierte Bürgerinnen und Bürger aus Nordrhein-Westfalen