"Ortszeit Meiningen"– Reise mit Zeit nach Thüringen

Schwerpunktthema: Bericht

17. Oktober 2023

Der Bundespräsident hat seinen Amtssitz für drei Tage nach Thüringen verlegt. Vom 17. bis 19. Oktober führte er seine Amtsgeschäfte von Meiningen aus. Vor Ort wollte sich der Bundespräsident einen Eindruck verschaffen, was die Menschen bewegt, was ihnen Mut und Hoffnung macht und was sie skeptisch gegenüber unserer Demokratie und ihren Institutionen werden lässt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit Bürgermeister Fabian Giesder bei einem Spaziergang durch die Innenstadt des thüringischen Meiningen

Es ist voll geworden am Mittwochabend im Meininger Volkshaus, jeder der runden Tische im Saal ist ringsherum besetzt. Ein Gong erklingt, und ohne jedes Zögern hebt im gesamten Raum ein Gespräch an. Die einen äußern sich, die andern hören zu  –  genau dafür sind die Meininger Bürger hierhergekommen. Acht Stadtbewohner pro Tisch diskutieren das Thema des Abends: "Ängste und Politik". Man will sich austauschen, einander zuhören, sich durchaus auch streiten, Unterschiede benennen, Missverständnisse ausräumen, Gemeinsamkeiten finden.

Ein Blind Date für die Demokratie

"Stadtgespräch" nennen die Meininger diese Veranstaltung. Sie haben sie vor gut einem Jahr erfunden. Denn auch hier in der kleinen Stadt in Südthüringen kämpft man immer noch mit den gesellschaftlichen Nachwirkungen der Pandemie: Die Stimmung und der Dialog sind bisweilen aufgeraut, die einen werden laut, die anderen ziehen sich zurück, man schaut aufs Trennende statt auf das, was gelingen könnte.

Zeit, das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Nun trifft man sich schon zum dritten Mal – jeder kann teilnehmen, und mit wem man spricht, bleibt eine Überraschung. Die Tischbesetzungen werden zugelost: ein Blind Date für die Demokratie.

An diesem Abend treffen die Teilnehmer auf ein ganz besonderes Gegenüber: Der Bundespräsident ist zu Gast. Für drei Tage hat Frank-Walter Steinmeier seinen Amtssitz nach Meiningen verlegt. Es ist die neunte Folge seiner Reihe "Ortszeit", die ihn seit Beginn der zweiten Amtszeit durchs Land führt.

Die Idee dahinter erklärt der Bundespräsident auch in Meiningen: Die Ortszeit ist eine Möglichkeit, dass ich drei Tage mit Zeit an einem Ort verbringe – und mich so einfühlen kann in die Atmosphäre, die in einer Stadt besteht. Ich besuche Einrichtungen, ich gehe über den Markt, ich versuche, den einen oder anderen in ein Gespräch zu verwickeln, ich höre zu. Und daraus entsteht dann schon ein Eindruck, von dem es mir wichtig ist, ihn mit nach Berlin zu nehmen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nimmt am Meininger Stadtgespräch teil

Zum Kern der "Ortszeit" gehört also das Gespräch. Und normalerweise ist es der Bundespräsident selbst, der in jeder der besuchten Städte Bürgerinnen und Bürger dazu einlädt – bei seiner "Kaffeetafel kontrovers". In der Überzeugung, dass es ein Bedürfnis nach kultiviertem politischen Streit gebe, hat der Bundespräsident seine Gesprächsrunden ins Leben gerufen. Denn: Streit gehört zur Demokratie. Das Problem sei nicht, dass, sondern wie gestritten werde. Da müssen wir uns wieder Fähigkeiten aneignen, die wir ein bisschen verloren haben – vielleicht auch deshalb, weil durch soziale Medien, durch zugespitzte Sprache und den Wunsch nach dem täglichen Skandal leicht die Erkenntnis verloren geht, dass zum Streit auch das respektvolle Miteinander gehört.

In Meiningen sehen die Menschen das offensichtlich ähnlich. Ich freue mich, dass ich hier ein Gesprächsformat vorfinde, das ich so in Deutschland noch nicht gesehen habe, sagt der Bundespräsident, bevor es in der Runde richtig losgeht. Ich habe mich auch deshalb für Meiningen entschieden, weil ich neugierig war zu erfahren, wie das bei Ihnen funktioniert. Dann schreibt er, wie alle anderen, seinen Namen auf das weiße Pappkärtchen vor ihm und hört erst mal zu.

Am Tisch geht es um die Pandemie und die Folgen der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung, um Einschränkungen der Grundrechte und ums Impfen – aber ebenso um den Dauerstress, unter dem die Gesellschaft angesichts der sich überlagernden Krisen und Konflikte ächzt. Und es geht auch um den späten Schmerz, den manche Menschen als biografische Erfahrung der Wendezeit mit sich tragen – und der gerade jetzt, im Angesicht neuer Krisen aufbricht: Manch einer artikuliere das Gefühl, im wiedervereinten Deutschland eine Art Bürger zweiter Klasse zu sein und zu wenig gesehen zu werden, sagt der Bürgermeister Fabian Giesder.

Es sind teils sehr persönliche Erfahrungen, die die Menschen miteinander austauschen. Als zum Schluss alle Teilnehmer gebeten werden, eine wichtige Frage oder Erkenntnis aus den Gesprächen auf einem großen Bogen Papier festzuhalten, der quer über jedem Tisch ausgebreitet liegt und später an Wandtafeln aufgehängt werden soll, nimmt auch der Bundespräsident einen Filzstift. Es ist eine Frage: Wie halten wir Unsicherheit aus?

"Es ist wunderbar zu sehen, was sich hier entwickelt hat"

Mit dem Gefühl der Unsicherheit haben die Menschen hier in Meiningen in den Jahren nach dem Mauerfall schon einmal umgehen müssen. Inzwischen hat die Kleinstadt an der Werra die Zeiten der Abwanderung und des Arbeitsplatzabbaus überwunden, und sie hat auch gute Zukunftsperspektiven. Sie profitiert heute von Unternehmen neuester Technologie, touristisch von ihrer Lage, zieht mit ihrer Industrie- und mit ihrer Kulturtradition als Theaterstadt viele Besucher an und strahlt Weltoffenheit aus.

Es ist nicht das erste Mal, dass Frank-Walter Steinmeier Meiningen besucht – er war schon zehn Jahre zuvor einmal da, damals noch als Außenminister. Schon seinerzeit habe ihn das reiche Erbe der Stadt fasziniert – auch wenn es noch viele offene Wunden und Sanierungsbedarf gegeben habe, sagt er. Jetzt erlebe er eine vielfältige Stadt mit hoher Lebensqualität.

Es ist wunderbar zu sehen, was sich hier entwickelt hat, sagt der Bundespräsident. Und die Meininger begegnen ihm vom ersten Moment dieser Ortszeit an freundlich und neugierig.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit einer Bürgerin vor einem Café in Meiningen

Auf dem Wochenmarkt der Stadt macht der Bundespräsident Selfies, isst – natürlich – eine Thüringer Bratwurst und tauscht sich immer wieder mit Bürgerinnen und Bürgern aus.  Unter anderem trifft er auf Baschar und Safwar, zwei aus Syrien geflüchtete Geschwister Mitte 20. Baschar ist Bauingenieur, sein Deutsch klingt, als sei er nicht fünf Monate, sondern fünf Jahre hier. Seine Schwester hat ein Medizinstudium absolviert und möchte als Ärztin arbeiten.

Dass in Meiningen der Anteil an zugewanderten Menschen über dem Thüringer Schnitt liegt, dass die Migration nicht nur die Verwaltung und den Wohnungsmarkt belastet, sondern auch zu Kontroversen in der Stadt führt, erfährt der Bundespräsident bei einem ausführlichen Gespräch mit Kommunalpolitikern. Ein anderes Thema in dem Gespräch sind die Nachwuchssorgen in der Kommunalpolitik, die auch in Meiningen herrschen. Die Runden mit den ehrenamtlich politisch Engagierten sind dem Bundespräsidenten als fester Bestandteil der Ortszeiten wichtig. Ihm liegt daran, die Menschen in ihrem Engagement zu bestärken. Ich weiß, wie schwierig die Arbeit ist und wie schwer es vielen Parteien fällt, Nachwuchs zu gewinnen, junge Menschen zu finden, die bereit sind, ebenfalls in die Verantwortung zu gehen und sich damit immer wieder auch der Kritik auszusetzen, sagt er.

Natürlich besucht der Bundespräsident auch das im deutschsprachigen Raum berühmte Theater der Kulturhochburg Meiningen. Nach der Vorstellung des Stückes "Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel" von Theresia Walser trifft er noch zu einem Gespräch mit dem Ensemble zusammen.

Industrietradition und innovatives High Tech

Am dritten Tag seiner Ortszeit legt der Bundespräsident einen Schwerpunkt auf das Thema Wirtschaft. Er besucht die Firma Adtran, die ein Hidden Champion im Bereich der Glasfasertechnik ist und zu den großen Arbeitgebern der Region gehört. Das Unternehmen ist darauf spezialisiert, Daten in Lichtsignale zu wandeln – und damit die Datenmenge zu erhöhen, die durch Glasfaserkabel geleitet werden kann. Unter den langjährigen Mitarbeitern sind Fachleute, deren Arbeitsleben beim DDR-Unternehmen Robotron begonnen hat. Einige Auszubildende haben sich besonders auf den Besuch des Staatsoberhaupts vorbereitet – sie unterstützen ihn dabei, selbst ein Lichtsignal zu bauen. Bei Adtran, so der Bundespräsident, werde Hightech der nächsten Generation weiterentwickelt und in so wichtige Themen wie Datentransfersicherheit investiert. So könne die Region davon ausgehen, dass hier auch für die Zukunft attraktive Arbeitsplätze für junge Menschen entstünden.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sitzt an einem Arbeitstisch in der Ausbildungswerkstatt und lötet zusammen mit einem Auszubildenden ein Bauelement für eine Schaltung während seines Besuchs bei der Firma Adtran

Auf den Besuch bei dem Zukunftskonzern folgt ein Termin mit einer ordentlichen Portion Industriegeschichte: In Meiningen liegt das inzwischen europaweit einzige Dampflokwerk, und schon der Geruch nach Öl und das Stampfen der Maschine in der Halle wird das Herz jedes Eisenbahnfans höher schlagen lassen. Staunend steht der Bundespräsident vor einer alten Adler-Dampflok. Vor mehr als 100 Jahren wurde hier das Reichsbahnausbesserungswerk gegründet – bis zu 3.000 Menschen arbeiteten zeitweise bei der Bahn in Meiningen. Inzwischen hat das Werk noch 150 Beschäftigte. Neue Fachleute werden hier ausgebildet, denn das Fachwissen hier ist weltweit einzigartig. Die Kunden – und ihre alten Gefährte – kommen aus Österreich und Frankreich, aus Finnland und Australien. Wer sich mit alten Eisenbahnen beschäftigt, der kennt auch die Dampfloktage, zu denen jedes Jahr etwa 15.000 Eisenbahnfreunde nach Meiningen strömen. Industrietradition und innovatives High Tech – in Meiningen gibt es beides.

Auch in Meiningen endet die Ortszeit mit einer Ordensverleihung, bei der die Zivilgesellschaft gewürdigt wird, und die ist in Thüringen stattlich: Der Anteil derer, die sich ehrenamtlich engagieren, liegt über dem Bundesschnitt und ist der höchste in Ostdeutschland.  Elf Menschen zeichnet der Bundespräsident im Marmorsaal von Schloss Elisabethenburg für ihr ehrenamtliches Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz aus. Sie alle zeigen uns, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt kein wohlfeiles Wort ist, sondern etwas, worauf es ganz konkret im Alltag ankommt, sagt er in seiner Rede. Sie sind Vorbilder für andere, und Sie verkörpern mit Ihrem Engagement die Tatkraft, die Zuversicht, den Zusammenhalt, den unser Land braucht.

Besuchsprogramm

Dienstag, 17. Oktober

  • Bahnhof Meiningen
    Ankunft und Begrüßung durch Fabian Giesder, Bürgermeister von Meiningen
  • Rathaus
    Eintrag ins Goldene Buch
  • Kommunalpolitisches Gespräch mit dem Bürgermeister und den sieben Fraktionsvorsitzenden des Stadtrates
  • Hotel Sächsischer Hof

    Aufnahme der Amtsgeschäfte des Bundespräsidenten am Amtssitz

  • Staatstheater Meiningen

    Rundgang und Besuch der Aufführung des Stückes Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel von Theresia Walser 

Mittwoch, 18. Oktober 

  • Bildungszentrum der Thüringer Polizei

    Besichtigung des Sozialkompetenzzentrums und Gesprächsrunde mit Polizeianwärterinnen und -anwärtern

  • Landtagsgebäude von Sachsen-Meiningen

    Besichtigung des ehemaligen Landtagsgebäudes und Enthüllung der Plakette Ort der Demokratiegeschichte

  • Marktplatz

    Besuch der Gedenkstele für die Friedliche Revolution und Gespräch mit Engagierten des Bündnisses für Demokratie und Toleranz

  • Kirchenburg Walldorf

    Gemeinsames Brotbacken mit Konfirmandinnen und Konfirmanden und dem Jugendclub Walldorf sowie Gespräch mit dem Gemeindekirchenrat

  • Volkshaus Meiningen

    Teilnahme am 3. Meininger Stadtgespräch zum Thema Ängste und Politik 

Donnerstag, 19. Oktober

  • Firma Adtran

    Besuch des Technologieunternehmens und Gespräch mit der Unternehmensleitung sowie Mitarbeitenden

  • DB Fahrzeuginstandhaltung

    Besuch des Dampflokwerks der Deutschen Bahn

  • Schloss Elisabethenburg

    Ansprache bei der Ordensverleihung an engagierte Bürgerinnen und Bürger aus Thüringen