In Senftenberg stehen das Gestern und das Heute gemeinsam auf der Treppe des Rathauses – und singen. Und zwar im Chor. "Die Seebären" heißt der Männerverein, der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an diesem Dienstagmorgen im Mai mitten in der Stadt begrüßt. Aber ein Shantychor, der das Steigerlied der Bergleute anstimmt? Und zwischen den Männern im Fischerhemd immer wieder Bergleute im pechschwarzen Habit mit hohem Federhut? Mit einem Timbre in den Stimmen, in dem man den Schmerz noch hören kann?
Der Shantychor, der mehr als 100 Jahre ein Gesangverein der Bergleute gewesen ist, erzählt die Geschichte eines schwierigen Abschieds und Neubeginns. Diese Stadt hat sich in 40 bis 50 Jahren komplett neu erfunden
, sagt Frank-Walter Steinmeier. Hier in Senftenberg kann man etwas zeigen, was andere Städte in der Lausitz noch vor sich haben.
Deshalb führt ihn die siebte Ausgabe seiner "Ortszeit" für drei Tage hierher. Mit dem Zug sind es gerade anderthalb Stunden von Berlin.
Viel Wandel in besonders kurzer Zeit
Gott habe die Lausitz geschaffen, aber der Teufel die Kohle darunter, sagen sie hier in der Lausitz. Mehr als ein Jahrhundert lang identifizierten sich die Menschen dieser Region mit der Kohle. Sie abzubauen, brachte Wohlstand und Ansehen. Aber der Braunkohletagebau kostete eben auch viele ihr Zuhause, und er hinterließ eine verwundete Landschaft.
Er könne nachempfinden, was den Abschied von der Braunkohle so schwer mache, sagt der Bundespräsident wenig später auf dem Marktplatz von Senftenberg, als er Bürgerinnen und Bürger trifft. Fünf Jahre ist es her, dass er in Bottrop in Nordrhein-Westfalen vor dem letzten Förderkorb wartete, bis fünf Bergleute ausstiegen, um ihm das letzte Stück deutscher Steinkohle zu überreichen. Alle hatten Tränen in den Augen.
Hier in der Lausitz, wo man sich seit dem Fall der Mauer mit der Ungewissheit des Neuen auskennt, haben die Menschen besonders viel Wandel in besonders kurzer Zeit zu bewältigen. Die Senftenberger aber haben früher als andere angefangen, Abschied von der Kohle zu nehmen, schon zu DDR-Zeiten. Bereits 1973 wurde der Tagebau geflutet – die Idee der Renaturierung nahm hier ihren Anfang. Heute hat Senftenberg einen der größten künstlich angelegten Seen Deutschlands und einen Yachthafen, für dessen Liegeplätze hunderte Freizeitkapitäne auf der Warteliste stehen. Etwas, das sich vor Jahrzehnten die wenigsten hätten vorstellen können.
Etliche mittelständische Unternehmen sind entstanden, der Stadtkern ist herausgeputzt, der Einzelhandel vielfältig, genau wie die Gastronomie. Viele haben ihre eigene Nische gefunden: zum Beispiel Renate Fritsche, die in ihrem Reformhaus auch einen Mittagstisch anbietet – unter anderem mit einer inzwischen preisgekrönten Fischsuppe. "Wunderbar", sagt der Bundespräsident, der natürlich probiert.
"Hier tut sich Wichtiges"
Auch die Brandenburgisch-Technische Universität Cottbus-Senftenberg sucht nach solchen Nischen und bringt in ihrem neu gegründeten Lausitz Science Park im nahen Cottbus Wissenschaft und Unternehmen zusammen – das Interesse daran sei groß, sagt die Präsidentin Gesine Grande. Wir können hier Dinge, die anderswo gesucht werden.
Umgekehrt versucht man auch, diejenigen anzulocken, die man selber sucht: Um zum Beispiel dem Ärztemangel auf dem Land zu begegnen, soll es in Senftenberg bald die Möglichkeit geben, Medizin zu studieren oder Grundschullehrer zu werden.
Das macht diese Stadt so interessant, weil man hier lernen kann: Wie gehen die Menschen, wie geht die Kommunalpolitik mit Umbrüchen um?
, sagt der Bundespräsident. Für mich kommt es darauf an, in kleinere Städte zu gehen, um zu zeigen: Auch hier tut sich Wichtiges, passieren interessante Dinge, werden Lösungen für etwas entwickelt, was auch anderswo im Land Probleme und Sorgen macht.
"Wir als Kommunalpolitiker haben es zunehmend schwer, die Gesetzgebung aus Berlin hier in der Stadt zu erklären", sagt ein altgedienter Stadtverordneter. Für viele bilden die etablierten Parteien die Stimme der Bevölkerung nicht mehr ab, und neue Parteien entstehen dadurch und werden erfolgreicher.
Im Kommunalparlament gibt es zehn Parteien und Wählergruppen, darunter auch Bürgerbündnisse wie das der Offenen Fraktion Senftenberg. Das Bündnis existiert seit den Protesten gegen die Reformen der Agenda 2010. Und auch jetzt, so sagt dessen Vertreterin, spüre sie wieder eine vergleichbare Verunsicherung der Menschen. Alle spüren, dass wir wieder in einer Zeit des Umbruchs sind.
Miteinander im Gespräch bleiben
In den Begegnungen in jenen drei Tagen in Senftenberg – auf dem Marktplatz und auch im Gespräch mit kommunalpolitischen Vertretern – hört Frank-Walter Steinmeier oft, wie weit weg das politische Berlin für die Senftenberger sei. Und noch ein anderer Punkt wird häufig genannt: das Bedürfnis nach verlässlichen Entscheidungen der Politik. In der Lausitz ist man zum Beispiel empfindlich, wenn Aussagen wie der Kohleausstieg zum Datum 2038 auf einmal in Frage stehen.
Dass Menschen sich nicht repräsentiert, nicht gehört fühlen; dass sie sich aus der Debatte zurückziehen – genau diesen Entwicklungen will der Bundespräsident mit seinen "Ortszeiten" entgegenwirken. Er will zuhören, will lernen, und er will ein Signal senden: Lasst uns als Gesellschaft miteinander im Gespräch bleiben – auch und gerade dann, wenn wir uns nicht einig sind. Mir geht es bei meinen Begegnungen nicht nur um Freundlichkeiten
, sagt der Bundespräsident. Ich spüre, dass die Menschen eine echte Spannung, eine echte Neugier mitbringen. Dass sie da sind, um Fragen zu stellen und auch vielleicht Antworten zu kriegen, mit denen sie vielleicht nicht einverstanden sind, aber bei denen sie spüren, dass sie ernst genommen werden.
Auch in Senftenberg lädt der Bundespräsident deshalb wieder Bürgerinnen und Bürger zur "Kaffeetafel kontrovers" ein. Zweieinhalb Stunden dauert das Gespräch – und gesprochen wird Klartext. Es geht auch um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Positionen prallen aufeinander. Einig wird man sich an diesem Nachmittag nicht. Aber der Streit ist so konstruktiv, dass die Runde gerne einen Vorschlag aufgreift: sich wiederzutreffen, um weiterzureden. Das ist das Gute
, sagt eine, die mitdiskutiert hat, die Kitaleiterin Christine Krüger. Dass wir im Gespräch bleiben und nicht jeder sein Süppchen kocht, sondern man sich am runden Tisch wiedertrifft.
Auch der Bundespräsident äußert sich hinterher zufrieden. Nicht, weil wir alle einer Meinung sind
, sagt Steinmeier. Sondern, weil die Debatte gezeigt habe, dass es immer noch möglich sei, an einem Tisch zu sitzen, unterschiedliche Meinungen zu haben und sich mit Vernunft konstruktiv auseinanderzusetzen. Das ist heute gelungen, und dafür bin ich sehr dankbar.
Der furchtbare Krieg und das, was er mit den Menschen macht – auch das ist ein Thema des Besuchs in Senftenberg. Eine gute Stunde nimmt sich der Präsident Zeit, um den Frauen des Vereins "Unsere Welt, eine Welt" zuzuhören. Es wird aufgetischt. Ukrainisches Gebäck, arabische weiche Brötchen mit schwarzem Sesam, Kaffee. Rund um den schmalen Holztisch in den winzigen Räumen des Vereins sitzen Frauen mit ganz unterschiedlichen Wurzeln: Die Mitgründerinnen waren Spätaussiedlerinnen, die sich vor gut 30 Jahren in Brandenburgs erster migrantischer Selbstorganisation zusammenfanden. Die Herkunft der anderen Frauen erzählt die Geschichte der bewaffneten Konflikte der vergangenen Jahre: Afghaninnen und Syrerinnen sitzen hier, und seit dem vergangenen Jahr sind Frauen aus der Ukraine hinzugekommen. So unterschiedlich die Wurzeln sind, so sehr ähneln sich die Probleme. Hier helfen sie einander in Alltagsfragen, bei Behördengängen, beim Arztbesuch – und sicher auch im Verstehen des Schmerzes, für den es keine Worte braucht.
Von diesem Schmerz, vom Leid des Krieges erzählt auch das Theaterstück "Was man im Dunkeln hört", eine Produktion des Ukrainers Andriy Bondarenko, die in der Neuen Bühne Senftenberg läuft. Der Bundespräsident besucht das Stück an einem Abend seiner "Ortszeit". Wie leben Menschen unter der extremen Belastung des russischen Bombardements – in Dunkelheit, Kälte, Angst? Und wie geht das Leben in dieser Welt weiter? Es ist eine intensive, eine sehr emotionale Inszenierung, die Steinmeier zu sehen bekommt, und tags drauf erzählt er in einem Interview, wie sehr ihn dieses Stück beeindruckt habe. Wegen des Krieges, aber auch wegen der großartigen Produktion selbst: Oft ist uns in den Hauptstädten der Länder und in der Bundeshauptstadt gar nicht bewusst, was in der Kulturlandschaft auf den kleinen Bühnen im Land alles gezeigt wird.
Besuchsprogramm
Dienstag 9. Mai
- Senftenberg, Rathaus
Ankunft - Eintrag ins Goldene Buch der Stadt
- Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der Kommunalpolitik
- Parkhotel Senftenberg
Aufnahme der Amtsgeschäfte des Bundespräsidenten am Amtssitz - Neue Bühne Senftenberg
Besuch des Theaterstücks "Was man im Dunkeln hört"
Mittwoch, 10. Mai
- Vereinshaus Kirchplatz 18
Gespräch mit dem Verein "Unsere Welt, eine Welt e.V." - Haus des Wasserverbands Lausitz
Mittelstandsgespräch - Amtssitz im Parkhotel Senftenberg
"Kaffeetafel kontrovers" mit Bürgerinnen und Bürgern - Gelegenheit zum O-Ton für die Medien
- Kreishaus des Landkreises Oberspreewald-Lausitz
Teilnahme und Ansprache bei einer Stadtverordnetenversammlung zum Thema17. Juni 1953
Donnerstag, 11. Mai
- Regenbogen-Grundschule
Gespräch mit Schulleitung und Lehrenden - BTU Cottbus-Senftenberg, Technikum
Besuch der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, Begrüßung und Besichtigung des Forschungslabors - BTU Cottbus-Senftenberg, Hauptgebäude
- Gespräch zum Thema "Transformation in der Lausitz"