Im weißen Kittel, mit Schutzbrille und Haube: Fast erkennt man den Bundespräsidenten an diesem Morgen gar nicht. Hier, bei der Freiberger Compound Materials GmbH, einem Nachfolgeunternehmen des Volkseigenen Betriebs (VEB) Spurenmetalle, müssen sich alle Besucher so kleiden. Denn hier werden unter sterilen Bedingungen bei hohen Temperaturen Kristalle gezüchtet, die später in Trägerplatten für Mikrochips landen. Was kaum jemand außerhalb Freibergs weiß: In 70 Prozent aller weltweiten Smartphones steckt ein Stück Freiberg. Auch in vielen Solarzellen und Fernsehern. Das ist die erste, überraschende Erkenntnis dieses Besuchs. Jetzt denke ich wohl immer an Freiberg, wenn ich mein Handy in die Hand nehme
, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Auch dorthin schauen, wo nicht alles glatt läuft
Freiberg in Sachsen ist eine Stadt, die es geschafft hat, ihre Traditionen über alle Umbrüche hinwegzuretten. Schon vor der Friedlichen Revolution im November 1989 war die Stadt, die im 12. Jahrhundert als freier Schürfplatz für Silbererz gegründet wurde, ein Zentrum für Halbleiterproduktion und Werkstofftechnik, mit Forschungsinstituten, der Bergakademie und zahlreichen Firmen. Obwohl nach der Wiedervereinigung einer der wichtigsten Betriebe, der VEB Spurenmetalle, für nicht sanierungsfähig erklärt worden war, wurde das Unternehmen Mitte der Neunziger privatisiert und in drei Teile getrennt. Alle drei Nachfolgefirmen fanden kräftige Investoren, die an die Zukunft des Standortes, an die Produkte und an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter glaubten. Am Abend geht der Bundespräsident über den traditionellen Weihnachtsmarkt am Obermarkt, wo der Chor der Bergleute ihn mit dem Steigerlied empfängt – das Steinmeier mitsingt.
Freiberg ist die fünfte Stadt, in die der Bundespräsident seinen Amtssitz für eine "Ortszeit" verlegt. Drei Tage führt er seine Amtsgeschäfte von dort, lernt die Stadt und ihre Menschen kennen. Und wie immer bei den "Ortszeiten" schaut das Staatsoberhaupt nicht nur dorthin, wo alles funktioniert, sondern geht auch dorthin, wo nicht alles glatt läuft.
Wieder stärker ins Gespräch kommen
Am Nachmittag, nach dem Unternehmensbesuch, spricht der Bundespräsident über Hoffnung und Erfolge ebenso wie über Enttäuschung und Unmut in Freiberg. Bei der "Kaffeetafel kontrovers", zu der er ins Café Hartmann eingeladen hat, sitzt er mit engagierten Freibergerinnen und Freibergern, aber auch mit Vertretern der Protestszene am Tisch. Die Stadt war in den vergangenen Jahren häufig sehr einseitig in den Schlagzeilen präsent: etwa als Hochburg der Montagsdemonstranten, welche die Coronamaßnahmen kritisierten. Auch bei der "Kaffeetafel kontrovers" geht es zuallererst um Corona, um die Geschäfte, die geschlossen bleiben mussten, um die Impfpflicht in Gesundheitseinrichtungen. Die Ansichten prallen aufeinander, mit Härte und Wucht. Jede und jeder kommt zu Wort, diskutiert, Steinmeier moderiert und argumentiert. Es ist ein ehrlicher Dialog – mit dem Staatsoberhaupt, aber auch zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der Stadtgesellschaft, die sonst selten in solch bunter Zusammensetzung aufeinandertreffen.
Während Corona ist viel von unserem Miteinander kaputt gegangen
, sagt Steinmeier am Ende. Umso wichtiger ist es, dass wir hier an einem Tisch sitzen und uns in die Augen schauen. Mein Eindruck ist: Die Menschen wollten wieder stärker miteinander ins Gespräch kommen.
Wenn eine Kontroverse so verläuft wie hier am Tisch, dann tut das der Demokratie gut – so sagt es der Bundespräsident nach der Kaffeetafel in die Kameras.
"Gelebte Mitmenschlichkeit"
Am nächsten Morgen besucht Steinmeier die Grundschule Carl Böhme. Hier begegnet ihm wieder der Freiberger Mut: anzupacken, Probleme zu lösen. Steinmeier lernt zwei besondere Schulklassen und zwei besondere Lehrerinnen kennen: 50 Kinder, die aus der Ukraine geflüchtet sind mit ihren beiden ukrainischstämmigen Lehrerinnen, die die Kinder auf Deutsch und Ukrainisch unterrichten.
Im kleinen Kreis erzählt Schulleiterin Kirstin Borrmann, wie es zu diesem besonderen Engagement kam: Es war klar, wir wollten helfen, wir wollten etwas tun, dazu hatten mich auch viele Eltern angeschrieben. Und da dachte ich: Jetzt ist meine Zeit. Über persönliche Kontakte haben wir dann Frau Bäcker gefunden.
Olena Bäcker ist schon länger in Freiberg, stammt aus der Ukraine und unterrichtet seit Mai 2022 die Klassen 3 und 4. Sie erzählt dem Bundespräsidenten: Wenn die Kinder weinen, weil sie ihre Väter, ihre Großeltern, ihr Zuhause in der Ukraine vermissen – dann will ich manchmal einfach mitweinen.
Viktoria Pradiichuk, die zweite ukrainischstämmige Lehrerin der Klassen 1 und 2, ist selbst erst durch den Krieg nach Freiberg gekommen, damals sprach sie kein Wort Deutsch – nun unterhält sie sich mit Steinmeier. Der ist sichtlich beeindruckt: Ich habe heute ganz konkret erlebt, was es heißt, dass wir an der Seite der Ukraine stehen. Das Engagement hier, das ist gelebte Mitmenschlichkeit. Alle packen mit an, um denen, die vor dem Krieg flüchten müssen, ein Stück Alltag, ein Stück neue Heimat, den Kindern ihre Kindheit zurückzugeben.
Nach dem Gespräch mit der Schulleiterin und den Lehrerinnen geht Steinmeier in die Klassenzimmer. Die Kinder haben ihm Bilder gemalt. Eines gefällt dem Präsidenten ganz besonders: in der Mitte ein Herz, zur einen Hälfte ausgemalt mit den Farben der ukrainischen Flagge, zur anderen Hälfte mit denen der deutschen. Und neben dem Herz sind Wolodymyr Selensky und Frank-Walter Steinmeier zu sehen. Mit dem Bild in der Hand bahnt sich der Präsident seinen Weg durchs Schulhaus. Aber mittlerweile haben wohl alle Klassen mitbekommen, dass hoher Besuch da ist, und stehen aufgeregt in den Gängen. Steinmeier nimmt sich die Zeit, mit allen Schülerinnen und Schülern noch ein paar Erinnerungsfotos zu machen.
Was der Präsident, jenseits der Fotos, nach drei Tagen „Ortszeit“ aus Freiberg mitnimmt nach Berlin? Ich habe wieder einmal erfahren dürfen, wie unglaublich vielfältig unser Land ist und dass man eine Stadt nie auf einzelne Schlagzeilen reduzieren sollte. Das Bild von Freiberg aus den Medien ist das der Ungeimpften, der Montagsdemonstranten, und klar, die habe ich auch getroffen. Aber es gibt so viel mehr. Freiberg ist eine lebendige, vielfältige, engagierte Stadt – das verdient Aufmerksamkeit. Und eigentlich gilt das doch für alle Orte in unserem Land: Wir sollten genau hinschauen, nicht nur auf die hören, die am lautesten schreien, und uns nicht auf vorschnelle Urteile verlassen!
Besuchsprogramm
Dienstag, 6. Dezember
- Rathaus
Ankunft und Begrüßung durch Oberbürgermeister Sven Krüger - Eintrag ins Goldene Buch der Stadt
- Gespräch zu kommunalpolitischen Fragen in der Erzgebirgsregion mit Oberbürgermeisterinnen und Bürgermeistern sowie den Fraktionsvorsitzenden des Stadtrates Freiberg
- Hotel Freyhof
Amtsgeschäfte des Bundespräsidenten
Mittwoch, 7. Dezember
- Freiberger Compound Materials GmbH, Am Junger-Löwe-Schacht 5
Rundgang durch die Räume des Herstellers von Verbindungshalbleitersubstraten für die Mikro- und Optoelektronik - Austausch mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Freiberger Compound Materials GmbH sowie des Solarmodulherstellers Meyer Burger (Industries) GmbH und des Herstellers von Silizium-Wafern, der Siltronic AG Werk Freiberg
- Campus Café im SIZ
Gespräch mit Studierenden des Instituts für Angewandte Physik und des Helmholtz-Instituts Freiberg für Ressourcentechnologie über Zukunftstechnologien in der Montanregion - Konditorei & Café Hartmann
"Kaffeetafel kontrovers" des Bundespräsidenten: Diskussion mit Bürgerinnen und Bürgern zu den Themen Solidarität mit der Ukraine, Energiekrise und gestiegene Lebenshaltungskosten, Zusammenleben in der Stadt
Donnerstag, 8. Dezember
- Grundschule "Carl Böhme"
Gespräch mit Lehrerinnen der Grundschule "Carl Böhme" über Herausforderungen bei der Eingliederung von geflüchteten Kindern in den Regelunterricht - Konzert- und Tagungshalle Nikolaikirche
- Ordensverleihung an neun engagierte Bürgerinnen und Bürger aus Sachsen
Update Dezember 2022:
In seiner Weihnachtsansprache schildert der Bundespräsident gleich zu Beginn das Schicksal der ukrainischen Kinder in Freiberg und erzählt vom Mut machenden Engagement der Schulleiterin und der Lehrerinnen.
Update Februar 2023:
Die Lehrerin Viktoria Pradiichuk nahm am 24. Februar, dem Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine, an der zentralen Gedenkveranstaltung in Schloss Bellevue teil. Dort berichtete sie über ihre Erfahrungen und die Erlebnisse der Kinder, die sie unterrichtet.