Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat an Marianne Freifrau von Weizsäcker aus Anlass des 100. Geburtstages ihres verstorbenen Mannes, des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, einen Brief geschrieben. Darin heißt es:
'Es ist nicht schwer zu komponieren', hat Johannes Brahms einmal gesagt, 'aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen.'
In diesen Frühlingstagen, die unser Land vor so große Prüfungen stellen, erinnern wir uns in Deutschland und weit über unsere Grenzen hinaus an einen Mann, der die Kunst des Komponierens, des richtigen Tons, des Verzichts auf überflüssige Noten beherrschte wie kein Zweiter: Wir erinnern uns an Ihren Ehemann Richard von Weizsäcker.
Er war Familienmensch und Kosmopolit, Parlamentarier und Regierender Bürgermeister von Berlin, Christ und liberaler Konservativer. Und er bleibt in unserem kollektiven Gedächtnis zuallererst: der sechste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.
Wir erinnern uns in Ihrem Mann an einen großen Deutschen. Dieses Jahr hätte er seinen 100. Geburtstag gefeiert. Sein Tod, vor gerade einmal fünf Jahren im Januar, war für Sie, für Ihre Familie, war zugleich aber auch für das Land, für uns alle, ein schwerer Verlust.
Wäre uns die gegenwärtige Krise erspart geblieben, dann hätten wir uns gemeinsam, an einem Ort, an ihn erinnert: bei einem Abendessen in Schloss Bellevue, im Kreis von Gästen und Weggefährten von nah und fern, mit Staatsgästen aus Finnland, Estland und Slowenien, mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des 172. Bergedorfer Gesprächskreises. Meine Frau und ich bedauern sehr, dass es dazu nicht kommen konnte.
Denn kaum ein Anlass hätte besser Zeugnis ablegen können von der friedlichen und freundschaftlichen Verbundenheit zwischen Deutschland und seinen europäischen Nachbarn, die Richard von Weizsäcker so am Herzen lag; auch und gerade zwischen Deutschland und jenen Ländern, die zu Beginn seiner Amtszeit noch hinter dem Eisernen Vorhang lagen.
Doch auch ohne physische Nähe können wir uns dieser Tage gemeinsam an ihn erinnern.
Wenn ich an Ihren Mann denke, dann denke ich stets an seine Liebe zur Musik. Er liebte dieses 'Pfingstwunder', wie er einmal sagte, denn 'bei der Musik hören die Ohren in allen Sprachen'. Vielleicht beförderte seine Liebe zur Musik auch sein Talent, aus Unterschieden Harmonien zu formen. Verständliches aus Komplexem. Emotionales aus Nüchternem.
Während seiner Lehrjahre, im Göttinger Jurastudium, besuchte er die Operninszenierungen von Fritz Lehmann: Verdi. Carmen und Fidelio. Den Figaro und den Rosenkavalier. Und natürlich Mozart. 'Wir besuchten jede der Opern', so schreibt er in seinen Erinnerungen, 'und wir haben sie […] zu einem Teil unseres Inneren gemacht – ein lebenslanger Schatz. Nur mit dem Nachteil, dass man immer leise mitsingen möchte, wenn man sie wieder einmal hört. Meine Frau schätzt dies gar nicht, und sie hat natürlich vollkommen recht.'
Der Klang des politischen Komponisten Richard von Weizsäcker hallt bis heute nach in unserem Land. Mit seiner Gabe zur Versöhnung von Unversöhnlichem, zur Verbindung von Verbindenswertem, zur Wahrhaftigkeit gegen Jedermann – mit dieser Gabe hat er unser Land zum Besseren verändert, nach innen wie nach außen.
Für viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, mich eingeschlossen, war und ist Richard von Weizsäcker eine unverrückbare Instanz dieser Republik. Wie Joachim Gauck in seiner Rede beim Staatsakt im Berliner Dom vor fünf Jahren so treffend sagte: Er war ein wahrer Pater Patriae.
Umso schwerer ist es, aus den vielen gelungenen Kompositionen des Richard von Weizsäcker eine Auswahl zu treffen! Oder, um es mit Brahms zu sagen: zu entscheiden, welche Töne wir heute weglassen wollen. Zu groß ist doch das Risiko, dem zu Ehrenden damit in vielem nicht gerecht zu werden.
Allein schon in seiner Biographie, den Orten seines Wirkens hat er unser Land vereint: als Württemberger in preußischen Gefilden, als Westdeutscher im geteilten und im wieder vereinten Berlin, als erstes Verfassungsorgan mit gepackten Umzugskartons in Richtung Hauptstadt. Noch vor der staatlichen Einheit, lange bevor Bellevue sein erster Amtssitz wurde, war er für viele schon der Präsident aller Deutschen. Gern berichtete er von einer kuriosen Begegnung in den Tagen nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989.
Da spazierte Richard von Weizsäcker, allein, ohne Begleitung, durch das Niemandsland am Potsdamer Platz. Nach einiger Zeit kam vom Osten her ein Oberstleutnant der Volkspolizei auf ihn zu und sagte in ruhigem Ton, als hätte es die Mauer nie gegeben: 'Herr Bundespräsident, ich melde gehorsamst: in meinem Abschnitt keine besonderen Vorkommnisse.'
Auch Vergangenheit und Gegenwart verstand Richard von Weizsäcker zu einem großen, bewegenden und herausfordernden Klangbild zu verweben: Ich denke an seine Rede zum 8. Mai 1985, die in die Geschichte unseres Landes eingegangen ist und in die Geschichte der großen Reden. Als er mit nüchternem Pathos und ungeschönter Offenheit seinem Land das sagte, was ohnehin schon jeder wissen musste, manche aber über Jahrzehnte nicht hören wollten. Damals, und zu so vielen anderen Momenten, hat er der politischen Kultur unseres Landes unschätzbare Dienste erwiesen.
Durch seine geistige Unabhängigkeit, seinen scharfen Verstand, indem er stets auf unnötig provokante Töne verzichtete, wurde er, ja: ein Vorbild für Konservative und Liberale, für Linke und Grüne gleichermaßen. Er trug einen gewichtigen Teil bei zu jenem mühsam errungenen Konsens von historischer Aufarbeitung und Erinnerung, den wir heute verteidigen und erneuern müssen, vielleicht öfter und intensiver als in manchen Jahren zuvor.
Auch jenseits der Grenzen Deutschlands war Richard von Weizsäcker laut und deutlich zu hören. Er hat den Ton unseres Landes in der Welt geprägt. Er war davon überzeugt, dass die Zukunft seiner Heimat, der ganzen Welt nur im Zusammenspiel der Staaten und in der europäischen Integration liegen kann. Er glaubte fest daran, dass gemeinsame Lösungen zum Besseren führen. Die Gedankenwelt der Alleingänge, der lauten Machtgesten, der Verachtung für verbindliche Regeln und gemeinsame Institutionen – diese Gedankenwelt war ihm stets fremd. Zuhören und zusammenarbeiten, das war sein Credo.
Zuhören und zusammenarbeiten, das galt auch für den Ostpolitiker Richard von Weizsäcker. Von der ersten Stunde an war er überzeugt davon, wie wichtig ein Ausgleich mit den östlichen Nachbarn für Deutschland ist und bleibt. In seiner eigenen Partei stand er damit lange Zeit isoliert, als CDU-Abgeordneter unterstützte er die Ostverträge des ersten SPD-Kanzlers Willy Brandt.
Als Johannes Rau hier in Bellevue ein Abendessen zum 80. Geburtstag von Richard von Weizsäcker ausrichtete, waren eben nicht nur Helmut Schmidt und Walter Scheel und viele andere anwesend, sondern auch Václav Havel, damals Präsident der Tschechischen Republik und zuvor erster Präsident der freien ČSSR. Die Verbindung zu Václav Havel, von den ersten Briefwechseln über die persönliche Begegnung seit den Wendejahren bis hin zum langjährigen Partner und Freund: Sie steht exemplarisch für die neuen europäischen Harmonien, die Richard von Weizsäcker gerade während seiner Amtszeit als Bundespräsident suchte.
Dank seiner Sympathie für die Regimekritiker von Solidarność, der Charta 77 und vieler anderer, auch für die Montagsdemonstranten in Leipzig und anderswo in der damaligen DDR, durch seine vielen Kontakte nach Mittel- und Osteuropa kannte er unterschiedlichste Stimmlagen und Stimmungen schon lange vor dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs. Sein besonderes Anliegen war es, all diese Verschiedenheit und Komplexität zu verstehen. Wege zu finden, sie miteinander in Einklang zu bringen. Ihm, dem ehemaligen Weltkriegssoldaten, war schmerzhaft bewusst: Frieden in Europa kann es nur mit unseren Nachbarn geben, niemals gegen sie.
Ihr Mann beherrschte die Kunst des politischen Komponierens. Seine Stilrichtung war die Wahrhaftigkeit, sein Tempo die Unaufgeregtheit, sein Resonanzraum die Geschichte, und sein Klangkörper, das waren seine Mitmenschen, ohne Unterschied von Stand und Herkunft. Seine Partituren waren voll von Menschlichkeit und frei von überflüssigen Noten.
Über die Musik hat Richard von Weizsäcker einmal geschrieben: 'Wenn wir [im Konzert] waren, dann fühlte ich mich oft wie in der Mitte der Welt, oder, was auf dasselbe hinausläuft, ganz weltvergessen.' Viele Deutsche werden in diesen Tagen zurückdenken und sich erinnern, wie oft Ihr Mann, auf seine ganz eigene, unaufgeregte, wahrhaftige Art, in der Mitte der Welt stand.
So bleibt er uns in Erinnerung: seinem Land, seinen Freunden im Geiste aus nah und fern, und allen Menschen, die an die Kraft des Wortes glauben. In einem vereinten Berlin, einem zusammengewachsenen Deutschland, im Herzen eines geeinten Europas, umzingelt von Partnern, in Frieden mit der Welt. All dies, das zeigt uns die gegenwärtige Krise, dürfen wir nicht als Selbstverständlichkeit hinnehmen. Wir müssen uns jeden Tag dafür einsetzen.
Ihr Mann war einer, dem das zeit seines Lebens bewusst war. Er fehlt uns sehr.