Liebe Avishag Shaar-Yashuv,
lieber Professor Honnef,
lieber Herr Gaede,
sehr geehrte Damen und Herren,
es ist mir eine große Ehre, zum Ende dieses unruhigen Jahres die Sieger des internationalen Fotowettbewerbs UNICEF-Foto des Jahres vorzustellen.
Aus der Ferne grüße ich auch ganz herzlich die zweite Preisträgerin, die palästinensische Fotografin Samar Abu Elouf. Aus persönlichen Gründen kann sie heute leider nicht hier sein.
Vor 25 Jahren, als das UNICEF Foto des Jahres zum ersten Mal vergeben wurde, konnte niemand ahnen, dass daraus einmal eine vielbeachtete Institution werden würde. Ich bin überzeugt, dass dies zwei Gründe hat: Zum einen das fortwährende Bestehen der Jury auf herausragende fotojournalistische Qualität. Und zum anderen dem unabhängigen Blick der Jury auf die Welt und die Lage der Kinder.
Das UNICEF-Foto des Jahres rückt ohne Wenn und Aber die Perspektive der Kinder in den Mittelpunkt. Es erzählt von den Schrecken, die sie erleiden, genauso wie von ihren Hoffnungen und Träumen. Dabei haben sich die Fotografinnen und Fotografen vielfach selbst in Lebensgefahr gebracht.
Das Foto des Jahres weckt Empathie und ergreift kompromisslos Partei für alle Kinder: auf ihr Recht auf ein Leben in Frieden und in Würde.
Sehr geehrte Damen und Herren,
es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden dafür, was seit dem 7. Oktober 2023 in Israel, in Gaza, im Libanon und anderen Orten in der Region geschehen ist.
Der israelische Schriftsteller David Grossmann, der sich seit Jahrzehnten für Frieden und Verständigung einsetzt, spricht von einer schweren, beklemmenden Traurigkeit, die ihn und seine Landsleute mit dem Überfall und dem erneuten Krieg in Gaza erfasst habe. Er spricht von dem Gefühl, „dass uns etwas von der Landschaft des Menschseins gezeigt wurde, das ein Mensch nicht sehen sollte.“ Hieran muss ich denken, wenn ich die beiden UNICEF-Fotos des Jahres 2024 betrachte.
Zum ersten Mal in der Geschichte des Wettbewerbs hat sich die Jury entschieden, zwei Fotografinnen mit dem ersten Platz auszuzeichnen. Dies geschah nicht, weil sie sich nicht entscheiden konnte oder wollte. Vielmehr würdigt die Jury zwei gleichermaßen herausragende Arbeiten, die spiegelbildlich aufeinander verweisen. Die Siegerbilder von Avishag Shaar-Yashuv aus Israel und Samar Abu Elouf aus Gaza zeigen in äußerster Eindringlichkeit und Konzentration, was der Terror und der Krieg für die betroffenen Kinder bedeuten.
Sehr geehrte Damen und Herren,
es gibt unendlich viele Bilder und Filme, die den Horror des vergangenen Jahres in Israel und Gaza festhalten. Viele sind anklagend, voller Verzweiflung und Wut. Die UNICEF-Fotos des Jahres 2024 sind anders: Die Erschütterung, die von ihnen ausgeht, ist leise, aber umso tiefgehender. Es sind Bilder von Kindern aus Israel und Gaza, die erlebt haben, was kein Kind, kein Mensch erleben sollte.
Da ist der achtjährigen Stav, den Sie liebe Avishag Shaar-Yashuv, portraitiert haben.
Stav ist einer der Überlebenden des Überfalls der Hamas am 7. Oktober 2023 auf die Siedlung Moschav Netiv HaAsara. Aufgenommen wurde das Bild kurze Zeit später am 22. Oktober 2023 in einem Hotel in einem Kibbuz, in dem er Zuflucht gefunden hatte.
Und da sind die neunjährige Dareen (l.) und der fünfjährige Kinan (r.), die die palästinensische Fotografin Samar Abu Elouf uns zeigt. Die Eltern der beiden und 70 weitere Familienmitglieder der Geschwister kamen bei Kämpfen im Gazastreifen ums Leben. Das Foto entstand in Katar, wo die Kinder zur medizinischen Versorgung aufgenommen worden waren.
Beide Bilder zeigen nicht das schreckliche Geschehen selbst. Sie halten aber auf zutiefst berührende Weise fest, wie dieses Geschehen fortwirkt. Die Kinder wirken traurig, ernst, man kann fast sagen: gefasst und tapfer. Wir sehen Kinder, die ihr Leben noch vor sich haben. Wir sehen den Ernst ihres Schicksals, der sie niederdrückt.
Die UNICEF-Fotos des Jahres 2024 fordern uns auf innezuhalten. Sie bringen uns dazu, die Perspektive zu verändern, uns in die Situation der Kinder einzufühlen. Ihre Trauer, ihre Angst, ihre Fassungslosigkeit, ihren Schmerz. Und indem den Bildern dies gelingt, machen sie klar: ein Aufrechnen des Leids führt nicht weiter. Wir müssen uns auf die Seite der Kinder stellen.
Angesichts des Albtraums von Terror und Krieg seit dem 7. Oktober 2023 erscheinen Kompromiss und Verständigung zwischen Israel und den Palästinensern in weiter Ferne. Um dorthin irgendwann zurückzukehren, muss alles getan werden, um die Fähigkeit zu erhalten oder wieder wachzurufen, auch die jeweils andere Seite zu sehen.
Ich wünsche mir, dass die beiden Siegerbilder des UNICEF-Fotos des Jahres 2024 dazu beitragen, diese zutiefst menschliche Haltung zu verteidigen.
Ich zitiere noch einmal den Schriftsteller David Grossmann: „Sich in andere hineinzuversetzen, schwächt einen nicht. Es dehnt die Oberfläche der Seele aus, die mit der Komplexität des Lebens in Berührung kommt.“ Mit anderen Worten: Empathie und Mitgefühl machen uns stärker.
Sie sind die unverzichtbaren Voraussetzungen dafür, auch in scheinbar aussichtslosen Situationen nach Verständigung zu suchen.
Ich gratuliere Ihnen, liebe Avishag Shaar-Yashuv, und Samar Abu Elouf, herzlich zum UNICEF Foto des Jahres 2024! Ich danke Ihnen beiden, dass Sie uns durch Ihre Fotos ermöglichen, uns in die Seelen der Kinder hineinzufühlen. Es sollte uns allen Auftrag sein, alles dafür zu tun, diesen Konflikt schnellstmöglich zu befrieden.
Danke.