Grußwort bei der Gedenkstunde zur Reichspogromnacht in Siegen

Schwerpunktthema: Bericht

10. November 2024

Elke Büdenbender hat am 10. November anlässlich der Gedenkstunde zur Reichspogromnacht in Siegen eine Rede gehalten.

Sehr geehrter Herr Landrat,

sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,

sehr geehrte Frau Ploch,

sehr geehrter Herr Sander,

sehr geehrter Herr Leng,

liebe Siegenerinnen und Siegener,

liebe Gäste und ganz besonders verehrte liebe Gäste aus Israel,

 heute stehen wir hier zusammen, um der Reichspogromnacht zu gedenken. Wir gedenken des unmenschlichsten Kapitels in der Geschichte Deutschlands. Ich bin Ihrer Einladung nach Siegen zu dieser wichtigen Gedenkstunde gern gefolgt, weil ich als Siegerländerin eine besondere Verbundenheit, aber auch Verantwortung für diese Region empfinde und weil wir nicht unterschätzen dürfen, wie wichtig das Gedenken gegen das Vergessen und für eine friedliche Zukunft ist.

 In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden jüdische Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland verfolgt, gedemütigt und ihrer Würde beraubt. In dieser Nacht wurden Synagogen in Flammen gesetzt, Geschäfte geplündert und unschuldige Menschen terrorisiert, nur weil sie einer menschenverachtenden Ideologie nach nicht Teil der Gesellschaft sein sollten. Schlimmer noch: ausgrenzen allein reichte nicht, sie sollten ausgelöscht werden.

 Hier in Siegen, an diesem Ort, wo einst eine blühende jüdische Gemeinde lebte, gedenken wir der Opfer dieser Gewalt. Und wir gedenken vor allem all der Menschen, die hier lebten, arbeiteten und ihre Familien gründeten. Menschen, die hier beteten, lachten, sich trafen, sich um andere kümmerten. Die ehemalige Synagoge, die an diesem Platz stand, war ein Zentrum des jüdischen Lebens, ein Ort der Gemeinschaft und der Religion.

 Doch am 10. November 1938 wurde all dies zerstört. Leben, arbeiten, beten, lachen – all dies sollte dadurch gestoppt werden.

 Gaffer und Zuschauer beobachteten das brutale Geschehen. Ohne einzugreifen! Wie an so vielen Orten in Deutschland! Kein Einschreiten, keine Zivilcourage, kein Gegenhalten.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 erinnern wir uns daran, wie leicht wir alle in eine Haltung der Passivität und des Wegschauens verfallen können. Zu sehr sind wir oft mit unseren eigenen Sorgen und Nöten in unserer eigenen unmittelbaren Lebenswelt beschäftigt, wollen uns nicht einmischen oder trauen uns nicht, unsere Stimme zu erheben. Erinnern wir uns aber daran, zu welchem Terror und welcher Unmenschlichkeit ein solches Verhalten damals führte. Und erinnern wir uns daran, dass dies nie wieder geschehen darf!

 Kein Mensch darf aufgrund seiner Herkunft, Nationalität oder Religion ausgegrenzt oder sein Leben bedroht werden.

 Es ist unsere Pflicht, aus der Geschichte zu lernen und mutig zu handeln, wenn wir Zeugen von Unrecht oder Diskriminierung, Hass und Gewalt werden. Auch wenn dies oft der unbequemere oder anstrengendere Weg sein kann, vielleicht auch beängstigend!

 Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Siegen setzt sich seit 1959 unermüdlich genau dafür ein. Sie bewahrt das Andenken an die Opfer des Nationalsozialismus und hält die Erinnerungen an die jüdische Gemeinde in Siegen lebendig.

Durch Bildungsarbeit, Veranstaltungen und den Austausch zwischen verschiedenen Kulturen und Glaubensgemeinschaften trägt sie aktiv dazu bei, das Bewusstsein für Toleranz und Respekt zu stärken. Sie ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie wichtig die Zivilgesellschaft – wir alle, jeder und jeder Einzelne – für den Erhalt unserer Werte ist.

 Seit der Gründung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Siegen sind inzwischen viele Jahrzehnte vergangen. Die Stadtgesellschaft ist eine andere geworden. Die Partnerschaft zwischen dem Kreis Siegen-Wittgenstein und dem Kreis Emek Hefer in Israel hat zur Versöhnung beigetragen. Nähe und Freundschaften sind gewachsen.

 Was ich besonders gut und wichtig finde: Sie nehmen auch die jungen Menschen mit. Es gibt einen jährlichen Austausch von Jugendlichen aus dem Kreis Siegen-Wittgenstein und Emek Hefer. Ich finde es so wichtig, dass junge Menschen – auch schon im Kindesalter – mit offenen Augen und Herzen in die Welt blicken. Die direkte Begegnung ist eines der wirksamsten Mittel gegen Vorurteile, Ängste und daraus resultierende Ressentiments und Anfeindungen.

 Als Siegenerin bin ich erleichtert, dass wir in unserer Stadt vergleichsweise früh damit begonnen haben, uns der schrecklichen und unmenschlichen Vergangenheit zu stellen. Die Initiative kam aus derselben Gesellschaft, die 1938 zusah und nicht einschritt. Grauen und Unrecht kann man damit zwar nicht wiedergutmachen, aber der Prozess des Wandels, den die Gesellschaft durchlebt hat, zeigt uns, dass erkannt worden war, dass Passivität und Zuschauen falsch waren.

 Nicht nur dieses Kapitel unserer Stadtgeschichte, sondern auch der schreckliche Terrorangriff auf Israel, hat uns auf unerträgliche Art vor Augen geführt, dass Hass und Gewalt und Antisemitismus nach wie vor existieren. Nicht nur im Nahen Osten, nein, auch bei uns: auf Schulhöfen, am Abendbrottisch, in Universitäten. Antisemitismus und Menschenhass breiten sich erneut in unserer Gesellschaft aus. Umso mehr möge uns dieser Tag daran erinnern, für eine Welt einzutreten, in der Frieden, Respekt und Menschlichkeit die obersten Prinzipien unseres Zusammenlebens sind, die immer gelten. Dass wir für eine Welt eintreten, in der nicht passiv weggeschaut wird, sondern wir uns Hass, Hetze und Ausgrenzung aktiv entgegenstellen.

 Sie alle hier leisten einen wesentlichen Beitrag dazu, und dafür danke ich Ihnen von Herzen. Dass wir heute hier zusammen stehen – Menschen aus Israel und aus Deutschland, Menschen aller Altersstufen – ist ein solch wichtiger Beitrag. Dass es junge Menschen aus Israel und aus dem Landkreis Siegen-Wittgenstein sind, die gleich zum Ende dieser Gedenkstunde einen Kranz niederlegen werden, ist ein ganz besonderes Zeichen, für das ich zutiefst dankbar bin. Denn Ihr – die jungen Menschen aus Israel und aus Deutschland – seid unsere Zukunft. Ohne Euch eine zu große Bürde auferlegen zu wollen – Ihr seid es, die Hass und Gleichgültigkeit hinter sich lassen können. Danke, dass Ihr hier seid – danke Ihnen allen für Ihr Kommen!. Casdorff

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier