Auftakt zur Pilgerinitiative "Go for Gender Justice" der EKD

Schwerpunktthema: Bericht

1. Februar 2022

Elke Büdenbender hat am 1. Februar bei der Auftaktveranstaltung der Pilgerinitiative "Go for Gender Justice" der Evangelischen Kirche in Deutschland einen Impulsvortrag gehalten. Hier finden Sie den Text der Ansprache.

Elke Büdenbender bei der Auftaktveranstaltung der Pilgerinitiative 'Go for Gender Justice!' der Evangelischen Kirche in Deutschland

Elke Büdenbender hat am 1. Februar bei der Auftaktveranstaltung der Pilgerinitiative Go for Gender Justice der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) einen Impulsvortrag gehalten.

Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) hat seine Mitgliedskirchen zu einem Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens eingeladen. Ziel ist die Vollversammlung des ÖRK 2022 in Karlsruhe. Mit Go for Gender Justice startete die Konferenz der Genderreferate und Gleichstellungsstellen in den Gliedkirchen der EKD eine Pilgerinitiative, die zu Schmerz- und Hoffnungspunkten im Blick auf ungleiche Chancen und fehlende Gerechtigkeit im Verhältnis der Geschlechter führt.

Ansprache von Elke Büdenbender

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.


Ganz herzlichen Dank für die Einladung, an der Auftaktveranstaltung der Initiative Go for Gender Justice mitzuwirken und zum Thema Geschlechtergerechtigkeit –(k)ein Selbstläufer? zu reden.

Ich bin der Einladung gern gefolgt, denn die Initiative nimmt einen sehr relevanten Themenbereich in den Fokus. Geschlechtergerechtigkeit war leider nie ein Selbstläufer. Und auch aktuell gibt es viele Herausforderungen, denen sich nicht nur Frauen, sondern die gesamte Gesellschaft gemeinsam stellen muss. Kulturelle Spielregeln müssen in allen Bereichen so verändert werden, also in Parlamenten und Parteien, in Konzernen und Betrieben, in der Forschung und an Universitäten, am Theater oder Filmset, in der Chefredaktion oder im Verlag und auch in Gotteshäusern, dass gleichberechtigte Teilnahme und Einfluss für alle Wirklichkeit werden.

Die Debatten zum Frauenanteil in Führungspositionen, zur Lohngerechtigkeit für Frauen und Männer oder zur Arbeitsteilung in den Familien führen wir nicht erst seit gestern. Woher kommt diese gesellschaftliche Schieflage? Woher rühren Geschlechterklischees, die wir oft als tradierte Rollen bezeichnen?

Die Gesellschaft teilte sich in zwei Sphären – eine öffentliche männliche und eine nicht-öffentliche weibliche –, als sich mit der zunehmenden Industrialisierung das Bürgertum als neue Schicht herausbildete. Sowohl für Männer als auch für Frauen festigten sich klare Rollenvorstellungen mit einer klar abgesteckten Aufgabenverteilung. Für das Bürgertum galt: Männern stand jede Tür in die große öffentliche Welt der Wirtschaft, des Erwerbslebens, der Politik und der Wissenschaft offen.

Frauen hingegen konnten nicht durch diese Tür hindurchgehen. Ihr Betätigungsfeld beschränkte sich auf den eigenen Hausstand: Fürsorge für Mann und Kinder, Organisation des Haushaltes. Es waren nicht nur Wertvorstellungen, die diese Zweiteilung förderten. Sondern auch die Rechtsordnung ließ eine öffentliche Teilhabe der Frauen am gesellschaftlichen Leben nicht zu.

Allerdings nahmen nicht alle diese Schieflage einfach hin. Es gab auch jene, die sich zusammenschlossen und dagegen ankämpften. Das Recht zur Teilhabe am (männlichen) öffentlichen Leben war verwehrt. Durch das Wirken von Frauenvereinen wurden eine neue, weibliche Öffentlichkeit geschaffen: Fürsorge, Krankenpflege, Wohltätigkeit, Bildung. Gerade auch in der Jurisprudenz begannen Frauen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Kampf um die Zulassung zum Studium.

Die Gesellschaft bestand jedoch nicht nur aus dem Bürgertum. Während die bürgerliche Frauenbewegung sich dem Kampf um bessere Aus- und Allgemeinbildungsmöglichkeiten und das Recht auf Erwerbsarbeit verschrieb, standen aufgrund der elenden Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiterschichten bei der proletarischen Frauenbewegung andere Themen im Fokus.

Die Arbeiterinnen stemmten eine Doppelbelastung von Sorge- und Hausarbeit auf der einen Seite und schlecht bezahlter Arbeit in Fabriken und Manufakturen auf der anderen. Neben einem Arbeitstag, der oftmals mehr als zehn Arbeitsstunden bedeutete, dem Mann den Rücken freizuhalten, den Haushalt zu erledigen und sich um die Kinder zu kümmern, ist ein extremes Arbeitspensum! Oftmals waren auch die Kinder gezwungen, einen Beitrag zum Familieneinkommen zu leisten – Mieten in den Städten waren hoch, Wohnraum rar und Selbstversorgung durch Gartenanbau nicht möglich. Sie wurden ebenso schrecklich in prekärer Beschäftigung ausgebeutet, anstatt in die Schule zu gehen und in ihre Zukunft investieren zu können. Die proletarische Frauenbewegung setze sich – neben der rechtlichen Gleichstellung und dem Frauenwahlrecht – aus diesem Grund vor allem stark für Arbeitszeitverkürzungen sowie den Mutter- und Arbeitsschutz ein.

Mit der Zeit wurde das Wirken der gesamten Frauenbewegung politischer; neue, politische Betätigungsfelder entstanden. Zunehmend ging es um das Einstehen für Rechte und Freiheiten der Frauen in allen Gesellschaftsbereichen. Gipfel und Wendepunkt sind für mich, nicht nur als Juristin, die gesetzliche Fixierung des Frauenwahlrechts im Jahr 1918 – denn in einer Gesellschaft müssen alle am Gestaltungsprozess teilhaben können.

Und die Aufnahme der ausnahmslosen Gleichberechtigung von Frauen und Männern in das Grundgesetz 1949 – sie führte dazu, dass zahlreiche familienrechtliche Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches geändert werden mussten. Sie widersprachen dem Gleichheitsgrundsatz und zementierten die Wertvorstellungen der klassischen bürgerlichen Rollenverteilung.

Der Ursprung der tradierten Rollen liegt in der Vergangenheit. Der Weg für die Beseitigung rechtlicher Hürden im Familienrecht wurde vor mehr als siebzig Jahren geebnet – tatsächliche Gesetzesänderungen brauchten teils jedoch noch Jahrzehnte, wenn wir an die Regelungen im Namensrecht denken.
Die tatsächliche Gleichstellung hinkt der rechtlichen allerdings in wichtigen Bereichen nach wie vor hinterher.

Sehr deutlich wird dies derzeit durch die Corona-Pandemie. Wie durch ein Brennglas betrachtet, legt sie offen, dass wir Frauen und Männer zwar nicht mehr in zwei voneinander getrennten Sphären leben und wirken, aber Frauen die Belastungen in der nicht-öffentlichen Sphäre – damit meine ich die Sorgearbeit im familiären Bereich – zum überwiegenden Teil stemmen. Oft auch neben Job und Karriere. Und das muss sich ändern!

Die Schieflage ist weiterhin Teil unserer Kultur und unserer Wertvorstellungen. Sei es bewusst oder unbewusst. Deshalb ist es wichtig, dass wir nicht aufhören zu kämpfen! Und zwar nicht wir Frauen gegen die Männer, sondern wir mit ihnen und sie mit uns. Am gesellschaftlichen Wandel müssen sich alle beteiligen. Alle müssen umdenken.

Aus diesem Grund ist die bundesweite Pilgerinitiative Go for Gender Justice so wertvoll und leistet einen Beitrag für die aktive Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels. Das Kernstück dieser wunderbaren und wichtigen Initiative bilden die zehn regionalen Pilgeretappen.

Pilgern hat allgemein mehrere Ziele: den Ort, zu dem wir uns bewegen, genauso wie die Reflektion der Beziehung eines Menschen zu Gott, zu anderen oder auch zu sich selbst. Und das Pilgern dient nicht nur der Buße, sondern auch dem Gebet für besondere Anliegen. Go für Gender Justice stellt ungleiche Chancen und die fehlende Geschlechtergerechtigkeit in den Mittelpunkt. Heute geben wir den Startschuss; die Pilgeretappen folgen ab Mai.

Vor Ort übernehmen regionale Gruppen und Initiativen aus dem Umfeld der Kirchen, aber auch aus der restlichen Gesellschaft die Ausgestaltung. Das Augenmerk der Teilnehmenden wird dabei auf Herausforderungen, Chancen und auch Vorbilder gelenkt. So sammeln sie Ideen, die wiederum abschließend in die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen im Spätsommer eingebracht werden.

Sie haben sich drei – wie ich finde – besonders relevante Themenbereiche herausgesucht. So sollen sich die Pilgernden auf ihren Wegen mit dem Thema Arbeit, Macht und Einfluss fair teilen auseinandersetzen. Ich habe es bereits gesagt: Die althergebrachten kulturellen Spielregeln dominieren immer noch zu sehr!

Frauen müssen jedoch keine besseren Männer werden, sondern gemeinsam müssen wir einen kulturellen Wandel herbeiführen, die Macht gerechter verteilen, gläserne Decken beseitigen, Positionen auf allen Ebenen paritätisch besetzen – auch Vorzimmer können von einem Mann geführt werden und Frauen Aufsichtsräten vorstehen –, oder ganze Berufe auch Frauen geöffnet werden.

Und vor allem brauchen wir auch dringend mehr Frauen im MINT-Bereich. Die Digitalisierung prägt zunehmend unseren Alltag, gestaltet wird aber auch sie mehrheitlich von Männern. Wir Frauen müssen jedoch vor allem auch den digitalen Wandel mitgestalten und dürfen dieses Feld nicht einigen wenigen – im Moment noch vor allem Männern – überlassen.

Weitere Aufmerksamkeit widmet die Pilgerinitiative der Überwindung von Abwertung und Gewalt. Gewalt gegen Frauen hat eine lange, traurige Geschichte. Nicht nur die Pandemie und das damit verbundene Wegbrechen von Zufluchtsorten, auch die digitale Welt sind da ein Verstärker. Besonders erschreckend finde ich, dass bereits etwa ein Drittel der zwischen 18- und 80-Jährigen in der gesamten EU Gewalt in sozialen Medien erfahren hat.
Unter jungen Erwachsenen liegt der Anteil sogar bei rund der Hälfte.

Diese Erfahrungen führen dazu, dass vor allem Frauen sich in sozialen Medien weniger äußern aus Angst vor Hass und Gewalt. Sie ziehen sich zurück. Denn etwa 70 Prozent von ihnen haben Beleidigungen, Bedrohungen, ja blanke Gewalt im Netz bereits erlebt – Ausgangspunkt ist dabei sehr oft Sexismus. In vielen Fällen geht es dabei nicht mehr nur um Diskriminierung, die Grenze zu Hass ist schnell überschritten, der Weg von digital in sozialen Medien verbreiteten Beschimpfungen hin zu konkreten Taten in der echten Welt nicht weit.

Ich bin froh, dass es hier in Deutschland inzwischen ein Gesetz gegen Hass und Hetze im Netz gibt. Aber ich würde mir wünschen, dass auch die diversen Kanäle sozialer Netzwerke das Wohl ihrer Nutzerinnen und Nutzer noch besser in den Blick nähmen. Denn den Kampf gegen Hass und Hetze gewinnen wir nur gemeinsam! Dieser Hass und diese Gewalt suggerieren Frauen vielfach und mit unterschiedlichsten Ausdrucksweisen, dass sie nichts wert seien. Nicht jede hat die Stärke oder die Unterstützung, dies an sich abprallen zu lassen.

Unter dem Stichwort Abwertung muss meines Erachtens aber auch diskutiert werden, warum Sorgearbeit für Kinder und pflegebedürftige Angehörige mehrheitlich und unbezahlt immer noch von Frauen geschultert wird. Warum Berufe im Pflegebereich, in der Kindererziehung oder bei haushaltsnahen Dienstleistungen, die ebenso mehrheitlich mit Frauen besetzt sind, schlecht bezahlt werden. Warum auf Frauen, die sich bewusst einige Zeit dafür entscheiden, sich der Familie zu widmen, herabgeschaut wird.

Beim Übergang zum dritten Themenkomplex Vielfalt anerkennen stolpere ich über meine eigenen Wörter, die ergänzt werden müssen. Denn längst bestehen Familien nicht mehr ausschließlich, dem klassisch bürgerlichen Verständnis folgend, aus Vater, Mutter und Kindern – verheiratet natürlich. Familienmodelle sind vielfältig geworden, genauso wie andere Lebensgemeinschaften. Längst teilen sich nicht mehr nur Mütter und Väter Erziehungsarbeit und Haushalt.

Gute Freundinnen ziehen mit ihren Kindern in Wohngemeinschaften, Paare trennen sich und tun sich anderweitig zusammen, Kinder pendeln. Oder auch Eltern pendeln. Zwei Väter entscheiden sich dafür, gemeinsame Kinder zu bekommen, genauso wie zwei Mütter sie liebevoll großziehen. Und Menschen sind keine schlechteren Mitglieder unserer Gesellschaft, wenn sie keine Kinder haben. Auch dafür gibt es vielfältige Gründe.

Ich finde es toll, dass unsere Gesellschaft so vielgestaltig ist. Jede und jeder sowie auch jede Person, die sich keinem dieser beiden Geschlechter zugehörig fühlt, gehört für mich dazu und bringt sich mit Fähigkeiten und Talenten in die Gemeinschaft ein. Und wenn sich jemand in seinem Körper nicht zu Hause fühlt, ist es seine Entscheidung, durch entsprechende Behandlungen die Heimat in seinem Körper zu finden.

Wir dürfen also gespannt sein, was den Pilgernden auf ihren Wegen begegnet, auffällt, ja, auch aufstößt. Sie werden auf jeden Fall vieles zu berichten und erzählen haben. Und das darüber Reden hilft dabei, die Schieflage zwischen den Geschlechtern zu begradigen.

Ich wünsche der Initiative viel Erfolg!