Virtuelle Eröffnung des Childhood-Hauses in Berlin gemeinsam mit I.M. Königin Silvia von Schweden

Schwerpunktthema: Bericht

24. September 2020

Elke Büdenbender hat am 24. September gemeinsam mit I.M. Königin Silvia von Schweden das Childhood-Haus Berlin mit einer virtuellen Ansprache eröffnet.

Elke Büdenbender bei der virtuellen Eröffnung des Childhood-Hauses in Berlin gemeinsam mit I.M. Königin Silvia von Schweden

Elke Büdenbender hat am 24. September gemeinsam mit I.M. Königin Silvia von Schweden das Childhood-Haus Berlin mit einer virtuellen Ansprache eröffnet.

Ansprache von Elke Büdenbender:

Könnten wir es nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden? Wie aber sollte das geschehen, und wo sollte man anfangen? Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern.

Das hat die berühmte schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren in ihrer Dankesrede Niemals Gewalt! für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels gesagt. Das war im Jahr 1978, und wir müssen feststellen, dass es uns noch nicht gelungen ist, eine ganz neue Art Mensch zu werden. Noch immer gibt es zu viel Gewalt in unserer Welt, und noch immer sind es oft die Kleinsten und Schwächsten unter uns, die ihr hilflos ausgesetzt sind.

Zwar trug Astrid Lindgrens Appell damals dazu bei, den Weg für eine gewaltfreie Erziehung politisch und gesellschaftlich zu ebnen. Majestät, in Ihrem Heimatland Schweden wurde im Jahr darauf, also 1979, das weltweit erste Gesetz gegen das Schlagen von Kindern verabschiedet. In Deutschland wurde erst vor zwanzig Jahren das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung vom Deutschen Bundestag beschlossen. Insgesamt sind es aber nur 60 Länder, in denen das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert ist, und die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.

Weltweit sind schätzungsweise eine Milliarde Mädchen und Jungen jedes Jahr von physischer, sexueller oder psychischer Gewalt betroffen. Dabei wird Gewalt häufig gerade durch die Menschen ausgeübt, die für den Schutz der Kinder verantwortlich sind: Weltweit erleben 300 Millionen Kinder zwischen zwei und vier Jahren alltäglich körperliche oder psychische Gewalt durch Erziehungsberechtigte.

Das ist zutiefst verstörend, und es ist unsere gemeinsame Pflicht und die eines jeden Einzelnen von uns, etwas dagegen zu tun. Denn der Schutz vor Gewalt, Missbrauch und Misshandlung ist ein Kinderrecht, das in der UN-Kinderrechtskonvention verankert ist. Auch die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, zu der sich die 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen verpflichtet haben, schreibt mit dem nachhaltigen Entwicklungsziel Nummer 16.2 die Beendigung von Missbrauch, Misshandlung, Ausbeutung, Menschenhandel und aller Formen von Gewalt gegen Kinder und Folter von Kindern vor.

Das zeigt: Die rechtliche Verpflichtung der Mitzeichnerstaaten ist gegeben, aber wir müssen uns noch mehr bemühen – gerade in der Prävention. Beispielweise müssen wir die Jugendämter personell besser ausstatten, um die Arbeit der sehr engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirksam zu unterstützen.

Im Hinblick auf sexuellen Missbrauch von Kindern brauchen wir mehr geschulte Experten, denen es gelingt, im Darknet der Internet-Kinderpornografie zu ermitteln. Pädagogisches Personal in Kindergärten, Schulen und Sportvereinen sollte – soweit dies nicht schon geschieht – ebenfalls speziell geschult werden, um schneller zu erkennen, welches Kind möglicherweise Gewalt und Missbrauch ausgesetzt ist. Als Juristin muss ich sagen: Das Thema Kindesmissbrauch gehört auch in die juristische Ausbildung! Und natürlich ist auch die Fortbildung im richterlichen Bereich ungeheuer wichtig.

Die Diskussion darüber, ob die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden sollten, spielt hier ebenfalls eine wichtige Rolle, und es ist gut, dass wir sie so intensiv führen. Die Berichte über Lügde, Bergisch Gladbach und Münster haben uns in den vergangenen Monaten traurige Gründe geliefert. Kinder und Jugendliche sind keine bloßen Anhängsel ihrer Eltern. Sie haben eigene, schützenswerte Interessen und Bedürfnisse. Sie haben ihre eigene Perspektive auf das Leben und unsere Gesellschaft. Ob dies nicht auch in unserer Verfassung zum Ausdruck kommen sollte, müssen wir ernsthaft erwägen, und auch ob wir damit nicht ein aufmerksameres gesellschaftliches Klima schaffen können. Wenn wir Kindern im Grundgesetz ein eigenes und damit größeres Gewicht geben, stärken wir sie und auch die Familien.

Als UNICEF-Schirmherrin setze ich mich seit dreieinhalb Jahren aktiv für die Rechte von Kindern ein. Zuletzt war ich im Februar dieses Jahres mit UNICEF in Nepal. Dort besuchten wir ein Zentrum, in dem Kinder – vorwiegend Mädchen – unterkamen, die Opfer sexuellen Missbrauchs und Menschenhandels geworden waren. Ich habe gesehen, was das mit Kindern machen kann. Aber ich habe auch gesehen, wie stark sie wieder werden können, wenn man sich ihrer annimmt und ihnen Zukunftsperspektiven gegeben werden.

So freue ich mich, dass UNICEF Deutschland sich an der Kinderrechte-ins-Grundgesetz-Diskussion aktiv beteiligt und sich nun mit der neuen Kampagne Niemals Gewalt nochmals explizit für ein Ende der Gewalt an Kindern weltweit einsetzt.

Deshalb freue ich mich auch so sehr, heute wieder mit Ihnen, Majestät, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der World Childhood Foundation Deutschland zusammenzukommen, um hier in Berlin ein weiteres Childhood House in Deutschland – das dritte nach denen in Leipzig und Heidelberg – eröffnen zu dürfen. Wie ich bereits im vergangenen Jahr bei unserer gemeinsamen Eröffnung in Heidelberg sagte: Ich schätze Ihr unermüdliches Engagement, sexuellen Missbrauch an Kindern zu verhindern oder wenigstens die Folgen zu lindern, sehr.

Auch wenn das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann, so schaffen Sie es in den Childhood Houses, einer weiteren Traumatisierung entgegenzuwirken. Kindern, die so schlimme Gewalterfahrungen machen mussten, werden weite Wege erspart, da alles in einem Haus vereint ist, was dazu dient, das Geschehene aufzudecken und das Kind zu schützen: ein Arztzimmer, ein Zeugenzimmer und ein Nebenzimmer, in dem Staatsanwälte und unter Umständen auch der Angeklagte mit Rechtsbeistand sitzen, um die Zeugenaussagen, die die Kinder vor der Richterin oder dem Richter machen, anzuhören, ohne dass das Kind dem Beschuldigten begegnen muss.

Dass ein solches Childhood House hier in Berlin gebraucht wird, zeigen die Zahlen: 1.289 Kinder waren hier im vergangenen Jahr häuslicher Gewalt ausgesetzt. 807 Kinder wurden sexuell missbraucht. Die Zahl ist im Vergleich zum Vorjahr angestiegen. Im Bereich des sogenannten Cybergrooming wurde gar ein Anstieg von gut 45 Prozent verzeichnet. Und das alles sind nur die Zahlen der Fälle, die bekannt werden.

Studien belegen, dass Kinder, die Gewalt erfahren haben, Gefahr laufen, später selbst zu Gewalttätern zu werden. Sie, Majestät, und Ihre MitarbeiterInnen der World Childhood Foundation leisten mit Ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag dazu, dies zu verhindern, weil Sie sich der Kinder annehmen und sich für ihre Rechte einsetzen.

Um auch mit Astrid Lindgren zu schließen: Durch Ihre Arbeit mit den Kindern und für die Kinder und durch Ihre Aufklärung der Öffentlichkeit über die Missstände tragen Sie dazu bei, dass wir alle vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten. Dass wir alle versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden. Denn Sie beginnen von Grund auf – bei den Kindern.

Dafür gebührt Ihnen unser aller Dank – meiner ist Ihnen gewiss.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier