Elke Büdenbender hat am 6. März an der Verleihung des Anne-Klein-Frauenpreises an die indische Menschenrechtlerin und Frauenaktivistin Prasanna Gettu teilgenommen und die Laudatio gehalten.
Mit dem Anne-Klein-Frauenpreis ehrt die Heinrich-Böll-Stiftung Frauen, die sich durch herausragendes Engagement für die Verwirklichung von Geschlechterdemokratie auszeichnen. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert und wurde seit 2012 jährlich vergeben.
Ansprache von Elke Büdenbender:
Es ist auf den Monat genau zwei Jahre her, dass ich in Indien, genauer: in Chennai war. Die Bilder aber habe ich noch vor Augen, als sei es gestern gewesen: Frauen, die jede Bewegung ganz langsam ausführten. Es waren physiotherapeutische Übungen, und sie absolvierten sie sehr vorsichtig und bedächtig. Ihre Gesichter waren teilweise entstellt von den Brandwunden, die Arme und Beine bandagiert. Sie alle waren Opfer von Brandanschlägen geworden. Brandanschläge, die von Menschen aus der eigenen Familie oder der Familie des Ehemannes begangen worden waren.
Ich erinnere mich an eine Frau, die ihre Finger kaum bewegen konnte. Und dennoch probierte sie mit eisernem Willen, kleine Metallstäbe in ebenso kleine Löcher auf einem Holzbrett zu stecken, um die Feinmotorik wieder herzustellen. Jede Bewegung kostete sie sichtlich Mühe. Aber sie kämpfte, das sah man ihr an. Denn da, wo sie war, gab man ihr den Willen zu kämpfen. Im Vordergrund steht dabei natürlich zunächst die Heilung des Körpers und – so gut es geht – auch der Seele. Aber die Mitarbeiterinnen dort machten ihr ebenfalls deutlich, dass sie ein Recht auf ein besseres Leben hat, ein gewaltfreies Leben und ja, auch ein selbstbestimmtes Leben. Dass sie selbst entscheiden darf, was sie möchte und was ihr wichtig ist. Sie hat gelernt – oder war dabei zu lernen –, dass nicht sie die Schuld an dem trägt, was ihr widerfahren ist, sondern einzig und allein der- oder diejenige, die den Anschlag auf sie verübt hat.
Uns mag das selbstverständlich erscheinen, aber für viele Frauen in Indien, denen ähnliches widerfahren ist, war es das zunächst nicht. Zu tief sitzen alttradierte Rollenbilder, nach denen Frauen sich unterzuordnen haben – selbst wenn es vielleicht gerade auch in Indien sehr selbstbewusste, sehr selbstbestimmte und sehr emanzipierte Frauen gibt, wie unsere heutige Preisträgerin. Ich hatte seinerzeit auch die Gelegenheit, sehr beeindruckende Frauenrechtlerinnen verschiedener Generationen kennenzulernen. Drei Generationen Frauen, nicht immer einer Meinung, aber alle mit dem gleichen Ziel.
Die Bilder der versehrten Frauen aber haben sich mir tief eingebrannt, weil sie mich so bewegt haben. Bewegt und beeindruckt.
Ich hatte damals das große Glück, eine Einrichtung der Nichtregierungsorganisation International Foundation for Crime Prevention and Victim Care, kurz: PCVC, besuchen zu dürfen. Die Leiterin führte uns durch die Räumlichkeiten und berichtete von ihrer Arbeit. Ich erinnere mich, wie beeindruckt ich von dieser zierlichen und dennoch so starken Frau war, die sich in einem Land wie Indien für die Rechte der Frauen einsetzt. Denn obwohl ihr Schutz in der Verfassung verankert ist, eine Vielzahl entsprechender Gesetze erlassen wurde und es mittlerweile eine breite öffentliche Debatte darüber gibt, ist die soziale Realität der meisten Frauen noch immer von systematischer Benachteiligung und Diskriminierung bestimmt. Tradierte Rollenbilder sitzen tief und bestimmen noch immer ihr tägliches Leben. Im Global Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums fiel Indien von Rang 108 im Jahr 2018 auf 112 von insgesamt 149 Ländern in 2019. Gewalt und sexuelle Übergriffe gegen Frauen sind in Indien ein massives Problem: 29 Prozent der Frauen sind laut UN Women (2016) von sexuellen bzw. gewalttätigen Übergriffen in der Lebenspartnerschaft betroffen.
Zu viele Zahlen will ich gar nicht nennen, aber hier verdeutlichen sie dennoch das Umfeld, in dem sich diese couragierte Frau engagiert. Sie zeigen, wie groß die Aufgabe ist, der sie sich stellt. Diese Frau ist Dr. Prasanna Gettu, die heute Abend mit dem Anne-Klein-Frauenpreis ausgezeichnet wird. Mit dem Preis fördert die Heinrich-Böll-Stiftung jährlich Frauen, die sich durch herausragendes Engagement für die Verwirklichung von Geschlechterdemokratie auszeichnen. Und in dieser Hinsicht könnte ich mir kaum eine würdigere Preisträgerin als Dr. Gettu vorstellen.
Seit 2001 setzt sie sich für die Rechte von Frauen in Indien ein. In diesem Jahr gründete sie gemeinsam mit zwei Studienkolleginnen die Organisation PCVC, die sich für die Opfer von häuslicher und zwischenmenschlicher Gewalt einsetzt. Das Helferteam besteht aus Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen und ehemaligen Betroffenen. Durch den Kriseninterventionsservice erhalten betroffene Frauen Informationen über den Umgang mit Polizeidienststellen, Hilfe bei Gesprächen und Vermittlungen mit ihren Familien, Rechtsberatung und medizinische Hilfe, spezielle Unterstützung für Kinder und Hilfe, wenn sie ihr Zuhause verlassen wollen.
Über die Jahre wuchs das Angebot von PCVC entsprechend dem Bedarf der Frauen und ihrer Kinder. So wurden beispielsweise besondere Polizeistationen mit geschultem weiblichem Personal eingerichtet, weil sich Frauen in ihrer Not eher Frauen zuzuwenden schienen als Männern. Als Frau Gettu beobachtete, dass viele Frauen ihre Kinder mitbringen, schuf sie Notunterkünfte für Frauen und Kinder, wo diese sich erholen können und Hilfestellung für eine neue Zukunft bekommen.
Auch ein Behandlungsangebot namens Smiles
für Kinder, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, wurde ausgearbeitet, weil man erkannte, dass Jungen aus solchen Familien oft später selbst zu Tätern werden, während Mädchen später dazu neigen, selbst gewalttätige Partner zu wählen. Das Ziel des Programms: den Kindern beizubringen, gewaltfreie Beziehungen wertzuschätzen. Allein dieses Programm kann man gar nicht genug wertschätzen, denn nur wenn wir bei den Kindern anfangen, kann sich ein wahrer Wandel im Denken und Handeln der Menschen vollziehen. Denn Kinder sind unsere Zukunft, also unsere künftige Gegenwart.
Im März 2018, als ich mit meinem Mann Indien bereiste und Frau Gettu in Chennai kennenlernen durfte, hatte ich die große Ehre, eine Hotline eröffnen zu dürfen, über die betroffene Frauen durch geschulte Ansprechpartnerinnen rechtliche und medizinische Beratung bekommen sollten. Diese hat sich bereits gut etabliert, wie ich hörte, und das freut mich wirklich sehr. Denn ein Anruf fällt vielen Frauen zunächst sicherlich leichter, als direkt zu PCVC zu kommen. Die Scham über das Geschehene ist – paradoxerweise – oft bei den Opfern doch sehr groß.
Auch in der Prävention tut PCVC viel. An Schulen, Universitäten und in Betrieben bieten sie Fortbildungen an, um geschlechtsspezifische Vorurteile und Rollenklischees in allen Bereichen abzubauen und so Gewalt in Lebenspartnerschaften oder auch sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz von vornherein zu verhindern.
Als Dr. Gettu erkannte, dass immer mehr lesbische Frauen und Transgender ihre Hilfe suchten, schuf sie auch für sie Unterstützungsangebote, die ihren Bedürfnissen im Besonderen entsprechen. Das hätte die Namensgeberin des Preises sicherlich ganz besonders gefreut, da bin ich mir sicher, denn nicht nur hat sich Anne Klein 1989/90 als Senatorin in Berlin vehement und erfolgreich für Frauenhäuser und Mädchen-Weglaufhäuser eingesetzt, sie war auch eine offen lesbisch lebende Politikerin. Das war im Berlin der achtziger Jahre sehr mutig.
Was mich an Dr. Gettu so beeindruckt, ist ihre resolute, aber unaufgeregte Art. Sie berichtete mir von der Arbeit ihrer Organisation, als sei das das Selbstverständlichste auf der Welt. Dabei ist es das ganz und gar nicht. Sie selbst denkt aber gar nicht in großen Worten oder großen Taten, sie handelt einfach. Sie sieht ein Problem und findet eine Lösung dafür.
Alles, was sie tut, tut sie zu hundert Prozent. Halbe Sachen kennt sie nicht. Sie ruht nicht, bevor nicht eine Lösung gefunden ist. Als die beiden anderen Gründerinnen von PCVC 2002 und 2005 ausschieden, stand sie vor der Wahl, alles aufzugeben oder alleine weiterzumachen. Für Prasanna Gettu konnte es nur eine Entscheidung geben: weitermachen. Seitdem ist sie für alle Aktivitäten allein verantwortlich, wobei sie von einem Beirat aus Mitgliedern und von Mitarbeiterinnen unterstützt wird.
Ich habe mich schon damals bei unserem Besuch gefragt, wie sie all diese Schicksale der vielen Frauen, denen sie hilft, erträgt. Die Wunden, die Geschichten, die Trauer, der lange Weg zu einem Selbstwertgefühl und schließlich im besten Fall zu Selbstbestimmung. Es sei nicht so, dass ihr das nicht naheginge, erklärte sie mir. Aber es gäbe da einen Reflex in ihr, der sich nicht mit den eigenen Gefühlen aufhält, sondern der sofort auf Lösungssuche schalte. Den Frauen in Not hilft sie damit sicher mehr als mit einer Überidentifikation mit deren Schicksal.
Weil ihr tägliches Tun für sie selbst keine Heldentat, sondern so selbstverständlich ist, hat sie auch gar nicht daran glaubt, dafür einmal ausgezeichnet zu werden.
Dabei ist schon ihre eigene Geschichte nicht selbstverständlich. Sie selbst wuchs nämlich extrem behütet auf, wie sie selbst sagt. In einer wohlhabenden Familie. Überall wurde sie hingefahren – zur Schule, zu Freundinnen, zum Einkaufen. Und immer war jemand da, der auf sie wartete, um sie dann wieder heimzufahren. Sie selbst erfuhr also keine Gewalt bis zu diesem Zeitpunkt.
Mit 21 Jahren heirate sie. Es war eine arrangierte Ehe, sie bekam zwei Kinder. Dabei ließ sie es sich nicht nehmen, nach ihren Möglichkeiten weiter zu rebellieren – wenn auch im scheinbar Kleinen. Sehr zum Ärger ihrer Schwiegermutter trug sie zum Beispiel Jeans, als sie schwanger war. Und auch sonst sei sie ein Wildfang gewesen, sagt sie selbst über sich. Ich glaube, das ist es, was es braucht: ein Stück Unangepasstheit.
Schon früh begeisterten sie Kriminalgeschichten, und eigentlich wollte sie später selbst Verbrechen aufklären. Aber ihre Eltern wollten, dass sie etwas Anständiges studierte, und so machte sie zunächst ihren Master in Geologie. Dann aber setzte sie doch noch Kriminologie obendrauf und promovierte in dem Fach. Bei einem Studienaufenthalt im Fach Viktimologie an der Tokiwa University in Japan lernte sie erfolgreiche Projekte für die Opfer häuslicher Gewalt kennen und erkannte: Die Opfer häuslicher Gewalt brauchen eine andere Form der Unterstützung als Opfer anderer Gewaltformen. Und ihr wurde bewusst, wie groß der Bedarf in ihrem Heimatland an genau dieser Form der Unterstützung ist.
Zurück aus Japan zögerte sie nicht lange, sondern gründete mit zwei Kommilitoninnen, die ebenfalls mit ihr in Japan studiert hatten, PCVC. Ursprünglich richtete sich das Angebot an Männer und Frauen, aber innerhalb eines Jahres wurde offenbar, dass es zu 99 Prozent Frauen waren, die sich hilfesuchend an sie wandten.
Werbung musste sie nie machen. Schnell sprach sich herum, dass es da eine Anlaufstelle für Frauen in Not gab und gibt. Manche Frauen kamen von selbst, andere mussten von Freunden oder Familienangehörigen dazu überredet werden. Das ist noch heute so. Und es werden mehr. Einerseits, weil die Gewalt gegen Frauen und Mädchen nicht abnimmt, aber auch, weil nach meinem Eindruck jetzt in der indischen Gesellschaft viel mehr darüber gesprochen und diese Form der Gewalt auch offiziell geächtet wird. Vor allem wenden sich jetzt auch mehr junge Frauen an PCVC.
Frau Gettu stimmt das hoffnungsfroh. Es zeigt, dass diese Frauen erkannt haben, dass sie das Recht auf ein gewaltfreies und selbstbestimmtes Leben haben. Viele Frauen bräuchten eine Weile und würden nicht gleich bei der ersten Gewalterfahrung anrufen oder vorbeikommen. Aber letzten Endes täten sie es dann doch. Da hat sich etwas geändert.
Stets hat PCVC auch mit der Regierung zusammengearbeitet. Weil sie erkannt haben, dass sie allein gegen häusliche Gewalt nichts ausrichten können. Die Regierung wiederum hat erkannt, dass die Sicherheit von Frauen gewährleistet werden muss. Frauen sind die Hälfte der Welt, und die kann man nicht alleinlassen. Das wird natürlich nicht allein das Verdienst von PCVC gewesen sein, aber dennoch werden die Erfahrungen und Erkenntnisse aus der jahrelangen Arbeit von Dr. Gettu sicher nicht ungehört verklungen sein. Die Mitarbeiterinnen von PCVC wurden jedenfalls über die Jahre immer gut von der Regierung unterstützt. Auch das gibt Dr. Gettu die Hoffnung, dass sich die Dinge langfristig zum Positiven ändern.
Wie also kommt eine Frau, die auf den ersten Blick selbst keine Gewalterfahrung machen musste und lange Jahre nicht bewusst diese Seite der Gesellschaft wahrgenommen hat, dazu, eine Organisation für Gewaltopfer zu gründen?
Sie selbst sagt, dass oft Menschen, die etwas Furchtbares überstanden haben, eine Hilfsorganisation gründen, um besser mit dem eigenen Schicksal zurechtzukommen. Bei ihr sei es aber genau umgekehrt gewesen. Ja, den ursprünglichen Impuls zu helfen bekam sie in Japan, als sie realisierte, dass es da Lösungen für Probleme ihrer Landsfrauen gab. Aber erst nach vielen Jahren der Arbeit mit Opfern häuslicher und zwischenmenschlicher Gewalt erkannte sie: Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen der Gewalt sind natürlich da, aber jede Form wiegt schwer und hinterlässt Folgen am Opfer. Und sie begriff: Häusliche Gewalt ist allgegenwärtig – und zwar über die verschiedenen sozialen Schichten hinweg. Gewalt ist kein Phänomen von Armut.
Und dabei erkannte sie auch, dass sie selbst einer Art von Gewalt ausgesetzt war: Sie wurde gezwungen, so zu leben, wie es ihre Familie und die ihres Mannes für sie entschieden hatten. Sie zog hieraus ihre eigenen Konsequenzen und trennte sich von ihrem Mann. Sie wollte mit diesem Widerspruch nicht mehr leben: während der Arbeit die Frauen dahingehend zu bestärken, ihre Rechte einzufordern, und zu Hause auf ihre eigenen zu verzichten.
So dient sie anderen ganz gewiss als Vorbild, obwohl sie das sicher nie angestrebt hat. Sie selbst hat übrigens keine Menschen, die ihr als Vorbilder dienen. Sie orientiert sich vor allem an Werten. Erkennt sie etwas als richtig, integriert sie es in ihr eigenes Handeln. Erkennt sie, dass etwas falsch war, lässt sie es wieder fallen. Pragmatisch und lösungsorientiert und dennoch immer voller Empathie. In ihrer wenigen Freizeit ist sie am liebsten mit Tieren zusammen, vor allem mit Katzen und Hunden. Doch statt das Zusammensein einfach mal nur zu genießen, sagt sie: Später mache ich mal ein Tierheim auf!
Dabei lacht sie, aber ich glaube, sie meint das ernst.
So bin ich mir sicher, dass von der Tatkraft der diesjährigen Preisträgerin des Anne-Klein-Frauenpreises noch viele profitieren werden – seien es Menschen, Tiere oder am Ende womöglich Pflanzen oder das Klima. Eines steht fest: Von Dr. Gettus unermüdlichem Engagement können wir uns alle eine große Scheibe abschneiden.
In diesem Sinne möchte ich Ihnen, liebe Frau Dr. Gettu, von Herzen danken für alles, was Sie für diese vom Schicksal schwer geprüften Frauen tun. Nicht nur retten Sie deren Leben, indem Sie sie aus ihrem gewalttätigen Umfeld herauslösen und ihnen die medizinische Hilfe zukommen lassen, die sie akut brauchen. Mehr noch: Sie geben ihnen ihre Würde zurück. Selbstwertgefühl und Selbstbestimmung sind für diese Frauen der Schlüssel zu einem besseren Leben, und Sie geben diesen Frauen diesen Schlüssel in die Hand. Die Tür müssen sie selbst aufschließen, ja, aber das Werkzeug dafür hätten sie nicht ohne Sie, und dafür können wir Ihnen gar nicht genug danken. Der Anne-Klein-Frauenpreis geht an Sie, und das mehr als zu Recht.