Fachtag Wohnen: Perspektive Straße? Von der Jugendhilfe in die Obdachlosigkeit

Schwerpunktthema: Bericht

7. November 2019

Elke Büdenbender hat am 7. November als Schirmherrin am "Fachtag Wohnen: Perspektive Straße? Von der Jugendhilfe in die Obdachlosigkeit" teilgenommen und diesen mit einer Ansprache eröffnet. Veranstalter waren das Christliche Jugenddorfwerk (CJD) und die Caritas Hessen.

Elke Büdenbender hält eine Rede beim "Fachtag Wohnen: Perspektive Straße? Von der Jugendhilfe in die Obdachlosigkeit" des Christlichen Jugenddorfverbands in Frankfurt am Main.

Elke Büdenbender hat am 7. November als Schirmherrin am Fachtag Wohnen: Perspektive Straße? Von der Jugendhilfe in die Obdachlosigkeit teilgenommen und diesen mit einer Ansprache eröffnet. Veranstalter waren das Christliche Jugenddorfwerk (CJD) und die Caritas Hessen.

Ansprache von Elke Büdenbender:

Es ist unendlich viel zu machen und zu helfen, wenn nur jemand da ist, der es tut. Man muss die Dinge wachsen lassen, wie man eine Knospe nicht mit Gewalt aufbrechen darf. Jede liebevolle Tat wirkt irgendwie weiter, ob wir es beobachten oder nicht.

Das hat die Gründerin des Hauses Conradshöhe in Berlin-Reinickendorf vor mehr als hundert Jahren gesagt, und es ist das Leitbild, nach dem dieses Haus noch immer arbeitet. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses Conradshöhe sind da für Kinder und Jugendliche, deren Eltern sich nicht um sie kümmern können oder wollen. Schon Kinder unter einem Jahr werden hier aufgenommen und liebevoll betreut. In unterschiedlichen Wohngruppen und -formen bekommen sie die Förderung und Unterstützung, die andere Kinder und Jugendliche zu Hause von Eltern oder anderen Verwandten erfahren.

Alle Herausforderungen des jungen Lebens werden hier gemeinsam gemeistert: Trotzphasen, die Einschulung, die Entscheidung, auf welche weiterführende Schule es gehen soll. Motivationshilfe, wenn die Schule mal keinen Spaß macht oder man keine Lust auf Hausaufgaben hat. Selbstzweifel über den Wert der eigenen Person – gerade vor dem Hintergrund, dass die eigenen Eltern einen nicht zu wollen scheinen. Über all das helfen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses Conradshöhe hinweg – und das tun sie in einer beeindruckend wertschätzenden und liebevollen Art, ich konnte mir selbst ein Bild davon machen.

So wie im Haus Conradshöhe werden überall in Deutschland Kinder und Jugendliche aus nennen wir es herausfordernden Verhältnissen aufgefangen – bis sie 18 bzw. 21 Jahre alt sind. Denn dann endet für die meisten von ihnen die Jugendhilfe, und sie müssen aus der Wohngruppe ausziehen.

Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorstellen zu können, wie gefährlich dieser abrupte Bruch sein kann. Alle Eltern erinnern sich gut daran, auch ich, als das eigene Kind achtzehn Jahre alt war. In diesem Alter sind sie natürlich erwachsen, aber benötigen Unterstützung auf andere Art. Und keinesfalls würden Eltern ihre Kinder einfach so auf die Straße setzen.

Und wir reden hier und heute von Jugendlichen, die viel durchmachen mussten. Die Gewalt erfahren haben, in der Kindheit vernachlässigt wurden, Drogen- und Alkoholproblematik im Elternhaus erlebt oder selbst Drogen konsumiert haben und/oder die geflüchtet sind. Es sind junge Menschen, die sich im besten Fall gerade von all den Widrigkeiten distanziert hatten und ein Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl aufgebaut haben.

Auch wenn es in einigen Fällen gelingt, die Jugendlichen noch eine Weile im Hause zu halten, so ruft die ständige Sorge darum, wie lange man noch bleiben darf, doch große Unsicherheit und auch Angst hervor.

Denn wir alle wissen: Die Situation auf dem Immobilienmarkt ist vor allem in den Ballungsräumen sehr angespannt. Immer wieder wird in den Medien darüber berichtet, wie schwierig bis unmöglich es für Familien oder ältere Menschen ist, ihre Wohnung aufgrund steigender Mieten zu halten oder gar eine neue Wohnung zu finden. Über die jungen Menschen aus der Jugendhilfe spricht bislang fast niemand.

Über viele Jahre haben sie in Wohngruppen der stationären Jugendhilfe gelebt. Einige haben es geschafft, eine Ausbildung zu beginnen, andere beziehen Leistungen des Jobcenter und absolvieren eine berufsorientierende Maßnahme. Wieder andere sind noch auf der Suche nach dem für sie richtigen Weg im Leben.

Mit diesem Portfolio müssen diese jungen Menschen nun die Gunst der Vermieter gewinnen. Dabei konkurrieren sie mit einer Vielzahl von Menschen mit unterschiedlichen Einkommen und aus verschiedenen sozialen Situationen um die wenigen bezahlbaren Wohnungen, die es gibt. Sie können sich vorstellen, wer da oft den Kürzeren zieht.

Die Folge: Immer häufiger gelingt der Übergang von der Wohngruppe in eine eigene Wohnung nicht. Es droht die Obdachlosigkeit. Oft kann die Notunterkunft zunächst vermieden werden, weil man für eine gewisse Zeit bei Freunden und Bekannten unterkommt, oft aber immer wieder nur für wenige Tage, ohne Gewissheit, wie lange das so geht.

Am Ende steht dann oft doch als einziger Ausweg der Weg in die Notunterkunft. Laut dem Deutschen Jugendinstitut hatten 2018 37.000 Jugendliche in Deutschland keinen festen Wohnsitz. Vergegenwärtigen wir uns doch für einen Moment, was in unserem Leben auf einmal nicht mehr funktioniert, wenn wir keine Adresse mehr haben, wenn wir morgens nicht wissen, wo wir abends schlafen werden. Dann tritt alles andere in den Hintergrund. Wohnen gehört zu den elementarsten Grundbedürfnissen des Menschen.

Auf die Problematik der jungen Menschen aus stationären Jugendhilfeeinrichtungen, die eine Wohnung suchen, machten mich vor allem zwei Menschen aufmerksam: Peter Wilks, der ehemalige Leiter des Hauses Conradshöhe, der heute leider nicht hier sein kann, und Petra Densborn vom Christlichen Jugenddorfwerk, dessen Grundlage die Vision Keiner darf verloren gehen! ist. Beiden danke ich von Herzen für Ihre aufopferungsvolle Arbeit dafür, dass alle jungen Menschen die gleichen Chancen im Leben haben und niemand zurückbleibt.

Denn genau so sehe ich es: Wir dürfen niemanden zurücklassen. Jeder Mensch in unserem doch eigentlich so wohlhabenden Land muss die Chance haben, an unserem gesellschaftlichen Leben teilhaben zu dürfen. Niemand darf aufgrund seiner sozialen Herkunft oder seines vermeintlich brüchigen Lebenslaufes benachteiligt werden oder gar auf dem Abstellgleis bzw. der Straße landen. Jede und jeder verdient eine Chance – auch wenn es manchmal schon die zweite oder dritte ist.

Gerade in diesem Fall, den Jugendlichen aus der Jugendhilfe, dürfen wir es nicht zulassen, dass diese jungen Menschen, die – nicht zuletzt durch das Zutun von so vielen und mit hohem Mitteleinsatz – auf einem guten Weg sind, diesen wieder verlassen, weil sie einfach keine Wohnung finden.

Deshalb fand ich die Idee dieses Fachtages so großartig. Wir müssen aufmerksam machen auf diese jungen Menschen, die sich auf den richtigen Weg gekämpft haben und von denen die breite Öffentlichkeit viel zu wenig weiß.

Deshalb freut es mich außerordentlich, dass Sie alle heute hier sind und wir im Gespräch mit betroffenen jungen Menschen, Experten der Jugendhilfe und der Immobilienwirtschaft mögliche Lösungsansätze diskutieren werden. Denn eines steht fest: Wir müssen über das Thema sprechen, und wir müssen – alle zusammen! – Lösungen finden. Ich wünsche mir, dass das Thema einen breiten Widerhall in den Medien findet und dass sich alle angesprochen fühlen. Denn diese Herausforderung ist eine gesamtgesellschaftliche. Diese jungen Menschen gehen uns alle an, die politischen Vertreterinnen und Vertreter aus Bund, Ländern und Kommunen, Städteplanerinnen, Wohnungsbauer und Immobilienunternehmerinnen. Wir alle müssen bei uns selbst ansetzen und jungen Menschen vorurteilsfrei eine Chance geben – sei es nun als Vermieterin oder Vermieter in Bezug auf die Vergabe von Wohnraum, als Lehrerin oder Lehrer beim Zugang zu Bildung oder als Arbeitgeber für Ausbildungsplätze. Oder wir alle einfach in der Art, wie wir jungen Menschen begegnen, ob wir ihnen etwas zutrauen oder es ihnen gleich von Anfang an absprechen, weil wir meinen, ihre Vita sei nicht angemessen.

Es geht immer um Teilhabe. Die sollte allen Menschen in unserer Gesellschaft möglich sein, denn nur wer an einer Gesellschaft teilhaben kann, wird sich in diese positiv und proaktiv einbringen und sie zu einer lebendigen, für alle bereichernden Gesellschaft machen. In Zeiten wie diesen, nach Wahlergebnissen wie denen der vergangenen Monate ist das wichtiger denn je!

In diesem Sinne freue ich mich nun auf die anstehenden Vorträge und Diskussionen. Mögen Sie inspirierend und fruchtbar sein und uns guten Lösungen näher bringen.

Vielen Dank.