Der Zufall oder eine hintergründige Regie will es, daß Volkshochschultage immer in die Mitte der Amtszeiten von Bundespräsidenten fallen. Das macht es mir leicht, der guten Tradition meiner Vorgänger zu folgen, zumindest einmal den Vertretern der Volkshochschulen meine Referenz zu erweisen.
Im "Europäischen Jahr des lebensbegleitenden Lernens" bin ich besonders gern bei Ihnen, und mit Leipzig als Veranstaltungsort haben die Organisationen eine ausgesprochen glückliche Hand bewiesen.
Sie geben mir Gelegenheit, einen generationenalten erzieherischen Irrtum zu korrigieren, der sich in der Volksweisheit ausdrückt: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr." Der Spruch ist - zugegeben - für Eltern ganz nützlich, wenn sie ihre Sprößlinge zu mehr Aufmerksamkeit in der Schule anhalten wollen. Aber es stimmt heute einfach nicht mehr, daß mit dem Abschlußzeugnis der Schule das Lernen - oder gar die Fähigkeit zum Lernen - aufhört. Deshalb bin ich Ihnen dankbar, daß Sie der Notwendigkeit des "lebenslangen oder des lebensbegleitenden Lernens" allgemeine Aufmerksamkeit verschaffen. Bei dieser Aufgabe haben ohne jeden Zweifel die Volkshochschulen einen gewichtigen Beitrag zu leisten. Denn sie sind für viele Mitbürger nach dem Ende der Schulzeit die wesentlichen, für manche sogar die einzigen erreichbaren Bildungsträger.
Von der besonderen Bedeutung von Bildung und Wissen brauche ich Sie nicht zu überzeugen. Früher hätte man in diesem Zusammenhang vielleicht auf das Selbstverständnis der Deutschen als Volk der "Dichter und Denker" verwiesen. Heute kommt - profaner, aber nicht weniger profund - eher der Hinweis auf den Produktionsfaktor Wissen, auf Bildung als zentrale Bestimmungsgröße des Standorts Deutschland in Betracht. Ich habe darauf schon mehrfach, im besonderen vor dem Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Halle und vor der Hochschulrektorenkonferenz in Berlin, hingewiesen. Ich möchte das nicht im einzelnen wiederholen.
Dennoch will ich die Gelegenheit heute nutzen, noch einmal auf die Bedeutung des "lebenslangen Lernens" für unsere Gesellschaft hinzuweisen. Erst wenn hierfür ein breites Bewußtsein gewachsen ist, kann daraus die Bereitschaft zur Weiterentwicklung der notwendigen Strukturen und zu ihrer Finanzierung folgen.
Zunächst ist es eine unbestreitbare Tatsache, daß die "Halbwertzeit" des Wissens fortwährend sinkt. Heute leben und arbeiten mehr Wissenschaftler auf der Welt als in allen früheren Zeiten zusammengenommen. Ihre Zahl und Leistung, die Möglichkeiten der modernen Kommunikationstechnologien, die Popularisierung von Wissen und die damit verbundene Demokratisierung von Wissensproduktion und Wissensanwendung führen zu einer dynamisch-chaotischen Explosion des Wissens. Sowohl in der Arbeits- und Berufswelt als auch bei der privaten Lebensgestaltung müssen wir uns daher heute und erst recht künftig einem fortdauernden Lernprozeß unterziehen. Eigentlich gibt es dazu gar keine Alternative. Trotzdem sollten wir uns nicht als Objekte oder gar als Opfer einer schicksalhaften Entwicklung sehen, sondern - positiv gewendet - vor allem die Chancen des lebenslangen Lernens sehen.
Wenn es also die Notwendigkeit zu lebenslangem Lernen gibt, dann sollten wir auch herausarbeiten, um welche Lerninhalte es geht und welche Bereiche betroffen sind.
Zunächst einmal - und darüber besteht Konsens - bedeutet "lebenslanges Lernen" berufliche Weiterbildung und Weiterqualifizierung. In einer freien Gesellschaft, die Berufe und Arbeitsplätze nicht nach staatlichen Planvorgaben zudiktiert, verlangt das dem einzelnen Flexibilität und die Fähigkeit ab, aus der Vielfalt der Wissenselemente in eigener Verantwortung auszuwählen und die Kompetenz zu erwerben, entsprechende Angebote auch persönlich erfolgreich zu nutzen. Aber je größer das Wissen, desto schwieriger die Auswahl! Es gilt also vornehmlich, Selbstlernprozesse beratend zu begleiten sowie methodisch und technisch zu fördern.
Wir werden zur Lerngesellschaft und erschließen damit unser vorhandenes Wissen einer immer größeren Nutzer- und Anwendergruppe. Und: Es geht um selbständiges Lernen, also selbstgesteuertes und selbstverantwortetes Lernen, nicht aber notwendig um ein Lernen in stiller Abgeschiedenheit. Vielmehr wird häufig das Lernen in der Gruppe und die Auseinandersetzung mit dem Wissensvermittler, dem Lehrer oder Dozenten, notwendig sein. Denn dieser Wissensvermittler wird auch im Zeitalter des Computers keineswegs überflüssig.
Sicher hilft uns "computerunterstütztes Lernen" beträchtlich. Und man wird Lernvorgänge besonders bei technischem Wissen durch Computeranwendungen wesentlich verbessern können - ob wir nun Operationstechniken durch dreidimensionale Bilder aus dem Inneren des Menschen studieren oder ob wir durch einen Flugsimulator das Fliegen lernen.
Aber das allein reicht zum Lernerfolg nicht aus. Lernen heißt ja letztlich: erkennen und verstehen. Es ist nur dann erfolgreich, wenn ein Verständnis der Zusammenhänge erreicht wird. Gerade bei der ungeheuren Vermehrung von Wissen und Fakten kommt es darauf an, daß der einzelne Mensch über die reine Information hinaus das fortentwickelt, was ihn von Natur aus vor allem auszeichnet; seine Fähigkeit zur Erkenntnis und zum übergreifenden Verständnis der Dinge und Abläufe.
Gerade in einer Lerngesellschaft bedarf es also einer Lernkultur mit einer entwickelten Fähigkeit zum Begreifen der Dinge und zum Dialog über sie sowie zu flexiblem Eingehen auf neue Anforderungen.
Damit komme ich zu einem zweiten, nicht minder wichtigen Gesichtspunkt: der Notwendigkeit lebenslangen oder lebensbegleitenden Lernens für die Persönlichkeitsentwicklung, für eine sinnvolle Gestaltung des persönlichen Weges jenseits des Berufslebens. Denn es gibt dieses Leben außerhalb des Berufes gottlob. Schon lange stellen Erwerbsarbeit und Beruf nicht mehr in dem Maße den Lebensmittelpunkt dar wie in der Zeit der industriellen Revolution. Damals nahm die Arbeit den Menschen vom Tagesanbruch bis in die Nacht in Anspruch. Heute und künftig sind wir - jedenfalls in den entwickelten Staaten - imstande, unseren Lebensunterhalt mit einem Zeiteinsatz zu verdienen, der viel Freiraum für individuelle Lebensgestaltung läßt. Wozu erfreulicherweise für viele Mitbürger das Stillen ihres Wissensdurstes gehört, eben das Lernen auch jenseits von Zwang und Muß. Soziologen kann das ebenso beruhigen wie Philosophen oder auch Politiker; denn dieses freiwillige Lernen verhindert Müßiggang, in dem bekanntlich der Volksmund aller Laster Anfang sieht. Und tatsächlich ist es so: Wer mit sich und seiner Zeit Sinnvolles anzufangen weiß, der gehört eher zu den Zufriedenen unserer Spezies.
Unabhängig von Fragen der Beteiligung am Erwerbsleben, der Verteilung des Einkommens oder der Auswirkungen des demographischen Wandels stehen wir heute vor dem Problem der individuellen Sinngebung unserer Existenz. Unser Leben definiert sich nicht allein, ja nicht einmal mehr überwiegend durch den Beruf. Es wird geprägt durch den - viel weiter gefaßten - Lebensinhalt, den wir ihm selbst geben und zu dem entscheidend Bildung gehört.
Neben dem Erwerb von Schlüsselqualifikationen für die Berufswelt, wie Fähigkeit zum abstrakten Denken, zur Kreativität, zum Verstehen komplexer Zusammenhänge, zur Verantwortungsbereitschaft, Belastbarkeit und Entscheidungsfähigkeit, sollten daher auch elementare soziale Fähigkeiten - wie Mitmenschlichkeit - vermittelt werden. Wie ich höre, wollen katholische Schulen in einem Modellprojekt "Compassion"- also die Fähigkeit zum Mitgefühl - in ihren Schulalltag einbringen. Früher hätte man vielleicht eher "Nächstenliebe" eingefordert. Aber man muß ja begrifflich up to date sein, um bewährte Botschaften modern zu vermitteln - warum auch nicht! Und in der Tat: Es geht darum, neben all dem, was uns beruflich "fit macht", auch Mitmenschlichkeit, die Fähigkeit zum sozialen Dialog und die Bereitschaft zur Mitverantwortung im privaten und öffentlichen Leben zu fördern.
Wenn wir also Bildung als persönlichen und gesellschaftlichen Dauerauftrag sehen, dann brauchen wir dazu die Bereitschaft derjenigen, die sich "weiter-bilden" wollen, sollen und müssen. Und wir brauchen das notwendige Instrumentarium, das diese Weiter-Bildung möglich macht.
Von der notwendigen Fähigkeit und Bereitschaft, künftig fortwährend selbstbestimmt und selbstverantwortet zu lernen, habe ich schon gesprochen. Das kann aber nicht "von der Wiege bis zur Bahre" in planmäßig organisierten Bildungsveranstaltungen stattfinden. Denn das wäre das Ende jeder fruchtbaren Weiterbildung. Vielmehr sollte das Lernen im umfassenden Sinn zur aktiven Gewohnheit des einzelnen werden.
Je weniger sich Lernen aber auf formelle Bildungsabschlüsse richtet, desto freier sind die Lernenden bei der Auswahl der Inhalte und Lernmethoden. Im einen Fall mag die Vermittlung eines Wissenspensums die Hauptsache sein, im anderen die Freude an der Erarbeitung des Stoffes. Entscheidend ist, zunächst das gewaltige und sich ständig erweiternde Angebot zu erschließen. Der einzelne muß in die Lage versetzt werden, aus den vielfältigen formalen und nichtformalen Lernsystemen auszuwählen und sie zu nutzen - vom gezielten Unterricht bis hin zum Lernen aus der Alltagserfahrung oder aus der Medienwelt. Wir müssen auch beim Lernen Subjekt bleiben und dürfen nicht Getriebene immer neuer Informationsmoden werden!
Daß die Bürger durchaus erkennen, welche Bedeutung der Weiterbildung im Berufsleben und ebenso zur persönlichen Fortentwicklung zukommt, zeigen die Zahlen des Bundesbildungsministers. Er hat berechnen lassen, daß 1994 immerhin rund 20 Millionen Bundesbürger an Weiterbildungsmaßnahmen teilgenommen haben. Allerdings erweist sich auch, daß Personen mit niedriger schulischer Bildung und geringer beruflicher Qualifikation nach wie vor nur schwach vertreten sind.
Die Lernbereitschaft der Bürger ist groß. Freilich dürfen die Hürden dazu nicht zu hoch sein. Wenn das Lernen in seinen vielfältigen Ausprägungen "Volkssport" sein soll, dann brauchen wir vielfältige "Lern-Netzwerke". Und zwar dort, wo die Bürger leben. Mit Programmen, die die Menschen nutzen können. Und zu Kosten, die die Lernenden tragen können. Kurzum: wir brauchen Volkshochschulen, die ich praktischerweise nicht mehr zu fordern brauche, weil sie schon lange existieren.
Wenn ich hier das Lob etwas dick auftrage, dann tue ich es gern und aus Überzeugung. Denn die Volkshochschulen sind der bewährte Kern des deutschen Modells der Erwachsenenbildung. Die kommunale Trägerschaft macht deutlich, daß ihre Aufgabe zur Grundversorgung der Bevölkerung im Bereich der Weiterbildung gerechnet werden muß. Freilich können die Volkshochschulen keine philanthropischen Inseln sein. Sie sind öffentlich verantwortete Dienstleistungszentren und sie stehen im Wettbewerb mit freien Trägern und kommerziellen Weiterbildungsanbietern. Das muß Sie nicht schrecken. Im Gegenteil. Denn die Volkshochschulen setzen bisher durchaus Qualitätsmaßstäbe für die gesamte plurale Weiterbildung.
Und selbstverständlich muß die von den Volkshochschulen wahrgenommene öffentliche Weiterbildung sich fortwährend dem Gebot stellen, effektiv, effizient und an den Bedürfnissen der Menschen orientiert zu arbeiten. Dabei geht es um allgemeine Erwachsenenbildung ebenso wie um berufliche Weiterbildung.
Für die konkrete Gestaltung haben die Volkshochschulen einen relativ großzügigen Rahmen. Frei von staatlicher Aufsicht sind sie zwar der öffentlichen Verantwortung aufgrund der Finanzierung und der allgemeinen Verantwortung der Trägerkommunen unterworfen. Das läßt ihnen aber einen erheblichen Freiraum für Kreativität und für autonom entwickelte Modelle und Angebote.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang bemerken, daß nicht nur Programme und Inhalte stimmen müssen, sondern auch das Marketing. Die "Kundschaft" - auch im Bereich des Bildungswesens - will umworben sein, und da könnte ich mir - bei aller Anerkennung des Geleisteten - doch etwas mehr Pep und Phantasie vorstellen. So könnten die Einschreibemöglichkeiten für Kurse vielerorts durchaus noch erleichtert werden. Die Öffnungs- und Bürozeiten der Volkshochschulen kommen Berufstätigen nicht immer entgegen, und die telefonische Anmeldung ist - wie ich höre - ebenso die Ausnahme wie die Bezahlung der Kurse mit einem modernen Zahlungsmittel, etwa der Kreditkarte. Überhaupt ist es für den Bürger und Kunden je nach Tageszeit oft schwierig, in einer Volkshochschule einen anderen Ansprechpartner als den automatischen Anrufbeantworter zu bekommen. Am Freitag ist wie in vielen Behörden schon am Mittag Dienstschluß, und auch während der Ferienzeiten soll es Defizite geben.
Zwar sind die USA nicht das "gelobte Land", aber der Hinweis sei mir doch gestattet, daß in einem amerikanischen Community College von Freitagmittag bis Sonntagabend lebhafter Unterrichtsbetrieb herrscht, da gerade an diesen drei Tagen die Menschen freie Zeit zum Lernen haben. Auch könnte ich mir vorstellen, daß die Öffentlichkeitsarbeit der Volkshochschulen, ihre Werbung mit den Semesterprogrammen, durchaus noch etwas "kundenfreundlicher" werden kann. Und anstelle der eher zurückweisend wirkenden seitenlangen und kleingedruckten Anmelde- und Teilnahmebedingungen könnte man mitunter schon zu einer echten Einladung übergehen, die "Lust am Lernen" macht.
Und vor allem: Dabei sollte die Jugend nicht vergessen werden - obwohl wir natürlich vorrangig die Erwachsenenbildung im Auge haben. Aber die Bereitschaft zum lebensbegleitenden Lernen muß, wenn sie erfolgreich vermittelt werden soll, schon im jungen Alter "eingepflanzt" werden.
Das alles soll - ich habe es bereits gesagt - das über Jahrzehnte hinweg Geleistete nicht schmälern.
Übrigens sollten wir den Gedanken, daß Weiterbildung zur kommunalen Daseinsvorsorge gehört, auch in der Europäischen Union vertreten. Die meisten Partnerländer sind bislang nicht diesen Weg gegangen. Wir wollen auch niemandem etwas aufzwingen oder einreden. Aber die Bedeutung des "lebenslangen Lernens" gibt gerade den Volkshochschulen und ihrem System Nachdruck und Zukunftsperspektive. Und wir haben auch keinen Grund, das auf europäischer Ebene zu verstehen.
Dem Deutschen Volkshochschultag wünsche ich fruchtbringende Diskussionen und ein gutes Gelingen.