Rede von Bundespräsident Johannes Rau bei der Veranstaltung zum 70. Jahrestag der Bücherverbrennungen "Literatur auf dem Scheiterhaufen, der Geist im Feuer"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, Akademie der Künste, , 9. Mai 2003

I.

In diesen Tagen und Wochen ist es siebzig Jahre her, dass in deutschen Städten öffentlich Bücher verbrannt wurden: hier in Berlin, aber auch in Bonn und in Göttingen, in Greifswald und in Marburg, in München und in Würzburg, um nur wenige Beispiele zu nennen.

Diese Bücherverbrennungen waren keine spontanen Aktionen. Sie waren von den Nationalsozialisten geplant und vorbereitet, die erst knapp drei Monate zuvor die Macht übernommen hatten. Sie riefen dazu auf, öffentlich Bücher zu verbrennen. Sie veröffentlichten eine Liste von Autoren, deren Bücher verbrannt werden sollten. Sie stellten sogenannte Feuersprüche zusammen, die bei den Bücherverbrennungen gerufen werden sollten.

Hier in Berlin leitete am 10. Mai 1933 Joseph Goebbels, der "Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda", wie das damals hieß, die Aktion. Das war auf dem Platz neben der Oper genau gegenüber dem Hauptgebäude der heutigen Humboldt-Universität. Erich Kästner war in der Menschenmenge, die zusah, wie auch seine Werke verbrannt wurden.

Ihn schockierte besonders, dass die Bücher in Berlin wie in fast allen Städten hauptsächlich von Studenten in die Flammen geworfen wurden, von den "Blüten der Nation", wie er mit bitterer Ironie schrieb. Die Nationalsozialisten wurden von vielen Studenten begeistert unterstützt. Wir werden Kästners Augenzeugenbericht nachher hören.

Allein in Berlin wurden am 10. Mai 1933 mehr als 20.000 Bücher verbrannt. Es blieb aber nicht dabei: Bücher, die die Nationalsozialisten als "entartet" und als "undeutsch" denunzierten, wurden aus allen öffentlichen Bibliotheken entfernt.

Die Autoren - Schriftsteller, Wissenschaftler und Journalisten - und ihre Verleger wurden verfolgt. Sie hatten Publikationsverbot. Sie verloren ihre Ämter in Universitäten und ihre Mitgliedschaften in Verbänden und in Akademien. Einige wurden verhaftet, misshandelt und ermordet, wie Erich Mühsam. Andere, wie Anna Seghers und Else Lasker-Schüler, flüchteten aus Deutschland und gingen ins Exil. Einige, wie Kurt Tucholsky und Walter Benjamin, trieb die Erfahrung von Verfolgung und Exil in den Selbstmord.

II.

Im Exil zu leben, was das bedeutet, das kann wohl nur der ganz erfassen, der selber eine solche Erfahrung machen musste. Jeder, der sich diese Frage stellt, kann aber zumindest ahnen, wie schwer es sein muss, sich in einem fremden Land, in einer fremden Kultur und in einer fremden Sprache eine Lebensgrundlage oder brutaler: eine Überlebensgrundlage zu schaffen.

Da geht es ja nicht allein darum, das materielle Überleben zu sichern, obwohl das schwer genug ist, wie wir aus vielen Exil-Biographien wissen. Gewiss, es gab international bekannte Schriftsteller, Wissenschaftler, Experten und Politiker, die auch im Exil erfolgreich waren.

Viele konnten ihre Berufe nicht weiter ausüben und mussten versuchen, sich und ihre Familien mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten. Manchen ist das gelungen, manche sind daran auch seelisch und körperlich zugrunde gegangen.

Das lag nicht allein an schwierigen Lebensbedingungen in einem fremden Land. Das lag auch an der Erfahrung, gewaltsam aus dem eigenen Vaterland und aus der eigenen Muttersprache vertrieben worden zu sein.

Kulturelle Entwurzelung - das wissen wir aus vielen Lebensgeschichten aus dem Exil - kann genauso bedrohlich sein wie materielle Not. Nur in und durch Kultur, nur in und durch Sprache, findet ja jeder von uns zur eigenen Identität.

All jene, für die Schreiben ihre Lebensgrundlage, ja ihr Leben ist, müssen den Verlust des eigenen Sprachraums als besonders schmerzlich empfinden. Wir wissen aus der gesamten Literaturgeschichte, dass nur wenige Schriftsteller, die ihr Land verlassen mussten, sich so in eine andere Sprache hineinfinden konnten, dass sie auch in ihr geschrieben haben. Ich denke an Joseph Conrad, an Wladimir Nabokov und an den viel zu früh gestorbenen Joseph Brodsky.

Es ist ja schon schwierig genug, in einem fremden Land weiter in der eigenen Sprache zu schreiben. Einige von denen, die heute hier sind, wissen das aus eigener Erfahrung.

Umso dankbarer sind wir dafür, dass viele der besten deutschen Schriftsteller in anderen Ländern so viel Unterstützung gefunden haben, dass sie überleben und weiter schreiben konnten. Umso dankbarer sind wir auch dafür, dass einige von ihnen - wie Thomas Mann und wie Anna Seghers - nach 1945 aus dem Exil zurückkamen und beim kulturellen Wiederaufbau Deutschlands mitgeholfen haben - in beiden deutschen Staaten.

III.

Die Vertreibung aus Deutschland war für fast alle Schriftsteller, Wissenschaftler und Journalisten eine Erfahrung, die sie ein Leben lang gezeichnet hat. Für die deutsche Gesellschaft selber war dieser erzwungene Exodus des Geistes eine Katastrophe, die Jahrzehnte nachgewirkt hat und die in manchem bis heute spürbar ist.

Den Verlust, den die ins Exil Vertriebenen erlitten haben und den Verlust, den Deutschland sich selber zugefügt hat, hat Micha Ullman mit seinem Denkmal für die Bücherverbrennung unter dem Bebel-Platz hier in Berlin eindrücklich zum Ausdruck gebracht.

Der Verlust für Deutschland war deshalb so groß, weil die Nationalsozialisten so viele fähige Köpfe aus Deutschland vertrieben hatten. Ihre Positionen an Universitäten und Akademien wurden oft mit mittelmäßigen Nachfolgern besetzt, bei denen ihre sogenannte arische Abstammung oder ihre nationalsozialistische Gesinnung wichtiger waren als ihre Qualifikation.

Der Verlust war aber auch deshalb so groß, weil die Nationalsozialisten die deutsche Kultur nicht einfach von all dem befreien wollten, das sie als "entartet" oder "artfremd" klassifizierten. Sie wollten sie im "arischen" Sinne neu gestalten.

An die Stelle des "Undeutschen" sollte eine neue Ästhetik treten. Das galt für Literatur und bildende Kunst, für Film und Fotografie, für Musik und Architektur.

1936 wurde jegliche Kunst der Moderne und der Avantgarde verboten. "Entartete Musik" durfte nicht gespielt, "entartete Filme" nicht gezeigt werden. Kunstwerke wurden zerstört oder ins Ausland verkauft. Ich erinnere an die berühmt-berüchtigte Ausstellung "Entartete Kunst", die 1937 in München gezeigt wurde und die einen Eindruck von dem vermittelt, was damals als "undeutsch" galt.

Im selben Jahr wurde in München die "Große deutsche Kunstausstellung" als Gegenbild dazu eröffnet. Sie sollte zeigen, was deutsche Kunst sei, und sie sollte - vor allem junge Künstler - dazu anregen, sich an der Schaffung der neuen "deutschen" Kunst zu beteiligen.

Sie alle kennen die Bilder von nordischen Menschen, von Arbeitern und Bauern, von stillenden Müttern, aber auch von Soldaten, die damals in Malerei und Skulptur, in Film und Fotografie, aber auch für politische Propagandaplakate geschaffen wurden.

Sie alle kennen auch die Bilder von Massenaufmärschen und von Parteitagen. Die Neugestaltung von Kunst und Kultur im nationalsozialistischen Deutschland bezog die politische Kultur des Landes mit ein und entwickelte neue nationale Rituale und Symbole.

Auch in der nationalsozialistischen Kunst gab es unterschiedliche Stilrichtungen. Eines war ihr aber gemeinsam: Wie in allen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens sollte es auch in Kunst und Kultur keine Vielfalt mehr geben. Sie sollten allein der Durchsetzung der nationalsozialistischen Ziele dienen: der Schaffung einer rassistischen Gesellschaftsordnung und des "neuen" Menschen, der in diese Ordnung passte.

IV.

Wenn wir uns mit der Kunst und Kultur des nationalsozialistischen Deutschlands beschäftigen, dann fällt es schwer nachzuvollziehen, dass die Vernichtung von Kunstwerken, dass das Verbrennen von Büchern, so viele Menschen gleichgültig gelassen hat.

Noch schwerer fällt es uns festzustellen, dass diese Zerstörung das Werk der "Blüten der Nation" war, wie Erich Kästner geschrieben hat.

Was hat Professoren und Schriftsteller dazu gebracht, sich aktiv an der Vertreibung ihrer jüdischen oder sozialdemokratischen Kollegen aus Ämtern und Funktionen zu beteiligen? Was hat sie dazu getrieben, eine "arische" Germanistik, eine "arische" Geschichtswissenschaft, eine "arische" Physik zu entwickeln? Was hat sie dazu gebracht, "Blut-und-Boden-Romane" zu schreiben oder Propagandafilme wie "Jud Süß" zu drehen?

Was hat Studenten Anfang Zwanzig dazu gebracht, Bücher zu verbrennen, die sie doch eigentlich hätten lesen sollen, und dabei sogenannte Feuersprüche zu rufen wie: "Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung"; "gegen volksfremden Journalismus demokratisch-jüdischer Prägung"; oder: "gegen Verfälschung unserer Geschichte und Herabwürdigung ihrer großen Gestalten"?

Was hat so viele gebildete junge Menschen dazu gebracht, ihrer eigenen Entmündigung nicht nur zuzustimmen, sondern sie auch noch öffentlich zu inszenieren?

Dafür gibt es viele Gründe. Wer 1933 Student war, der hatte als Kind und Jugendlicher den Ersten Weltkrieg und die politische und ökonomische Instabilität der Anfangs- und der Endjahre der Weimarer Republik erlebt.

Er war in einer Gesellschaft groß geworden, in der viele Ältere Arbeitslosigkeit, Inflation und Weltwirtschaftskrise der Demokratie anlasteten - dem "System", wie damals gesagt wurde.

Das hat gewiss dazu beigetragen, dass auch viele junge Menschen damals bereit waren, die Freiheiten der Weimarer Republik gegen die erhoffte Sicherheit des Dritten Reiches einzutauschen - zumal die Nationalsozialisten sich als eine Bewegung der Jungen gegen die Alten darstellten.

Wir dürfen aber auch nicht übersehen, dass viele gebildete Menschen davon überzeugt waren, dass die nationalsozialistische Weltanschauung fortschrittlich und modern war.

Die Nationalsozialisten schienen die einzigen zu sein, die eine zukunftsfähige Alternative zur ungeliebten, weil scheinbar erfolglosen, demokratischen Gesellschaftsordnung anboten. Sie stellten ihre Alternative als wissenschaftlich fundiert dar.

Wir müssen uns daran erinnern: Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert waren immer mehr Menschen, nicht nur in Deutschland, davon überzeugt, dass eine "vernünftige" Gesellschaftsordnung nur dann möglich sei, wenn sie auf modernster naturwissenschaftlicher Erkenntnis beruhte, nämlich auf Darwins bahnbrechender Theorie von der Evolution der Natur.

Darwins Evolutionstheorie wurde damals vielfach so missverstanden, als sei sie bloß der Beweis dafür, dass Fortschritt in Natur und Gesellschaft ein ständiger Kampf zwischen Starken und Schwachen sei, aus dem der Stärkere als Sieger hervorgehe.

Die Gleichsetzung von Natur und Gesellschaft beruhte darauf, dass viele aus Darwins Theorie den vermeintlichen Beweis dafür herauslasen, dass der Mensch nichts anderes sei und nicht mehr als ein biologisches Wesen, ein Wesen, das in erster Linie von seinen Trieben und von den ehernen Gesetzen der Evolution bestimmt sei.

Darum erschien die Rassenideologie der Nationalsozialisten vielen Menschen, gerade auch Wissenschaftlern und Forschern, nicht rückwartsgewandt, sondern modern, auf der Höhe der Zeit. Sie hielten die Vorstellung, man könne eine Gesellschaftsordnung nicht auf der Basis biologischer Ungleichheit, sondern auf der Basis der rechtlichen Gleichstellung aller Menschen errichten, für veraltet und für nicht zukunftsfähig.

Darum waren so viele gebildete Menschen, darum waren auch so viele junge gebildete Menschen bereit, die alte Gesellschaftsordnung zu zerstören und den "demokratischen Geist" auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.

V.

Warum erinnern wir uns heute, siebzig Jahre danach, an die Bücherverbrennungen? Dafür gibt es mehrere Gründe.

Wir können gewiss keine einfachen Lehren aus der Geschichte des Nationalsozialismus für unsere heutige Zeit ziehen. Man muss auch nicht mit der Geschichte des Nationalsozialismus vertraut sein, um zu wissen, dass Meinungsfreiheit zu den wichtigsten demokratischen Errungenschaften gehört und dass niemand wegen seiner Anschauungen verfolgt werden darf.

Wir können aber sehen, was mit einer Gesellschaft geschieht, die die kritische Auseinandersetzung mit sich selber, die den Wettstreit von Ideen, die kulturelle Vielfalt nicht duldet, sondern ins Exil verbannt: Sie richtet sich schließlich selber zu Grunde.

Wir können auch sehen, was geschieht, wenn eine Gesellschaft vermeintlich objektive Wissens- oder Glaubenserkenntnisse festsetzt, statt die Rahmenbedingungen der Freiheit durch demokratisch legitimierte Politik zu bestimmen und zu schützen: Sie schafft keinen inneren Frieden, sondern einen Zustand permanenten Terrors.

Das sind, wie Sie wissen, keine akademischen oder rückwärtsgewandten Probleme. Auch heute gelten Bücher noch als gefährlich, und es gibt vereinzelt immer noch Fälle von Bücherverbrennungen.

Es gibt Publikationsverbote für Schriftsteller und sogar Todesdrohungen, wie das Beispiel Salman Rushdie zeigt. Er ist - leider - kein Einzelfall.

Das P.E.N.-Zentrum, das den heutigen Vormittag mit gestaltet, hat 1960 das Programm "Writers in Prison" und 1992 das Programm "Writers in Exile" gegründet, weil weltweit immer noch viele Schriftsteller und Journalisten aus politischen oder religiösen Gründen verfolgt, ins Gefängnis geworfen, hingerichtet oder ins Exil getrieben werden.

Natürlich kann man die Staaten und die Gesellschaften, in denen das geschieht, mit dem nationalsozialistischen Deutschland nicht vergleichen. Eines gilt aber für alle Staaten in Vergangenheit und Gegenwart, in denen Bücher verbrannt und Schriftsteller verfolgt wurden oder werden: Es geht um mehr als um das Verbot der freien Meinungsäußerung. Es geht um den Versuch, das freie Denken selber zu verbieten.

Freies Denken ist die Grundlage dafür, dass der Mensch sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit lösen kann. Für jedes Regime, das Menschen wieder in die Unmündigkeit zurückzwingen will, sind daher all die gefährliche Feinde, die unabhängig denken und unabhängige Gedanken verbreiten.

Allein im vergangenen Jahr sind dem P.E.N. Zentrum weltweit 1.153 Fälle bekannt geworden, in denen Schriftsteller "verschwunden" oder erwiesenermaßen getötet, verhaftet, unter Hausarrest gestellt, ins Exil gezwungen oder auf andere Weise bedroht worden sind. Die Dunkelziffer dürfte um vieles höher sein.

Das geschieht nicht nur weit weg, außerhalb von Europa, außerhalb der Europäischen Union oder außerhalb der NATO. Das geschieht auch nicht nur unter fundamentalistischen Regimen.

Ich finde das erschreckend, und ich bin besonders besorgt darüber, dass die Verfolgung von Schriftstellern nach dem 11. September 2001 weltweit zugenommen hat. Darum bin ich der Meinung, dass wir immer wieder darauf hinweisen müssen, dass auch im Kampf gegen Terrorismus nicht alle Mittel erlaubt sind.

Vor allem aber: Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass das Recht auf Meinungsfreiheit, das seit 1948 in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" durch die UNO und seit 1950 in der "Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten" festgeschrieben ist, überall in Europa und überall in der Welt Geltung bekommt.