Auszüge aus der gemeinsamen Diskussion von Bundespräsident Johannes Rau und dem portugiesischen Staatspräsidenten Jorge Sampaio mit Studenten zur "Zukunft Europas" während des Staatsbesuchs in Portugal

Schwerpunktthema: Rede

Lissabon, , 7. Mai 2003

Bundespräsident:

Zum Wesen der Staatsbesuche gehört die Zeitnot, in der man sich befindet, und darum will ich versuchen, mit wenigen Bemerkungen einzuleiten zu einer hoffentlich lebendig werdenden Diskussion. Wir sind hier, wir haben es gehört und wir haben es erlebt und mit unseren Sinnen wahrgenommen, an einem wahrlich historischen Ort, an dem man Europa feiern kann und feiern muss. Denn die Geschichte Europas und der Europäischen Union ist eine Erfolgsgeschichte. An dieser Erfolgsgeschichte trägt Portugal einen großen Anteil seit seinem Beitritt 1986. Und Portugal, das ich oft besucht habe, hat mich immer wieder mit blauen Schildern darauf hingewiesen, dass hier oder da ein Projekt der Europäischen Union umgesetzt wird in die Wirklichkeit. Diese Erfolgsgeschichte Europas, die nun weitergehen soll und muss, geht weiter mit einer Erweiterung, wie wir sie so noch nie in der Geschichte gehabt haben. Mal ist einer hinzugekommen, mal auch zwei. Aber dass an einem Tag, in einem Jahr, zehn neue Mitglieder kommen, so fast der gesamte frühere Ostblock, das ist die größte Herausforderung in der Geschichte der Europäischen Union. Wir sind Portugal dankbar dafür, dass es diesem Beitritt immer zugestimmt hat. Portugal liegt am westlichen Rand der Europäischen Union, aber es ist in Wirklichkeit im Herzen Europas. Was sind nun die Aufgaben dieses sich vergrößernden Europas? Wir wollen ja mehr sein als ein loser Staatenbund, wir wollen aber nicht sein ein Auflösungswasser für Nationalstaaten, denn wir brauchen Nationalstaaten. Es geht um die Zusammenarbeit von 25 Nationalstaaten unterschiedlichster Größe. Da ist es ganz entscheidend, dass nicht die wenigen Großen die vielen Mittleren und Kleinen majorisieren. Und genauso wichtig ist es, dass nicht die Vielzahl der Kleinen die großen Bevölkerungen dominieren und ihre Entscheidungen unmöglich machen. Also wie soll das funktionieren, Große und Kleine und Mittlere Staaten? Das sind Fragen, die werden im Augenblick im Konvent beraten, und ich bin froh darüber, dass die Konventsmitglieder Portugals heute hier an unserer Veranstaltung teilnehmen.

Wir wollen eine gemeinsame Linie, wir wollen, dass das Ergebnis der Konventsberatungen, wenn es denn da ist, von allen getragen werden kann, und dass sich niemand überfordert fühlt. Wir brauchen aber ein Europa, das nicht nur die größte Handelsregion und Produktionsregion ist, nicht nur als Binnenmarkt. Sondern wir brauchen in der Vielfalt der Kulturen zugleich eine Übereinstimmung in entscheidenden außen- und sicherheitspolitischen Fragen. Der amerikanische Außenminister Henry Kissinger hat vor über 30 Jahren gesagt: "Wenn ich Europa anrufen will, habe ich keine Telefonnummer." Und als der Jugoslawien-Konflikt begann, da fuhren drei europäische Außenminister nach Belgrad, nicht weil drei nötig wären, sondern weil man drei Meinungen hatte in Europa zu diesem Konflikt in Jugoslawien. Deshalb wird es darauf ankommen, und das ist in den letzten Monaten deutlich geworden: Wir brauchen eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Sie zu formulieren wird sehr schwierig sein. Das haben die Differenzen in der Irakfrage uns vor Augen geführt. Aber die Vereinigten Staaten von Amerika, die einzige Weltmacht, die es noch gibt, die Macht, mit der wir eng verbunden sind, braucht einen starken europäischen Partner, der erkennbar ist in dem, was er will und was er nicht will. Mein Eindruck ist, dass wir gegenwärtig in einer hochinteressanten Diskussion über das Selbstverständnis Europas sind. Wir sollten diese Diskussion nutzen, um neuen Schwung in die europäischen Ideen zu bringen. Ich bin relativ alt, ich habe die Anfänge dieses Europas noch erlebt. Damals zogen in Deutschland junge Menschen mit Europafahnen auf die Loreley und waren begeistert. Treffe ich heute junge Menschen und frage sie nach Europa, denken sie eher an Bürokratien und Hochhäuser in Brüssel. Wir brauchen wieder eine neue Idee von Europa und für Europa, und sie kann nur bestehen im Reichtum der Vielfalt der Nationen und Kulturen, und sie kann sich ausdrücken in gemeinsamem Handeln in einer Welt, die nicht ungefährdet ist. Ich komme aus Deutschland, und wir haben in Deutschland jetzt eine Phase hinter uns mit fast 60 Jahren Frieden. Das hat es in der deutschen Geschichte noch nie gegeben. Dass es eine so lange Phase ist, haben wir auch Europa zu verdanken. Und wir haben dem europäischen Gedanken zugestimmt, weil wir uns selber einbinden wollten in eine europäische Friedensordnung. Und wir haben auch gespürt, dass unsere Partner uns eingebunden wissen wollten in eine solche europäische Friedensordnung. Ich halte Europa als eine politische Kraft, die dem Frieden dient, für erstrebenswert, denn wir müssen den Frieden sicherer und die Sicherheit friedlicher machen.

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Bundespräsident(auf die Frage nach der Rolle der Zivilgesellschaft in der Europäischen Union):

Ich will gerne etwas dazu sagen. Die Entwicklung der Zivilgesellschaften ist innerhalb des größer gewordenen Europas sehr unterschiedlich stark. Es gibt Länder und Staaten, in denen die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Verbänden und Organisationen, mit Kirchen und Gewerkschaften das gesellschaftliche Leben stark bestimmt, und es gibt unter den neuen Mitgliedern der Europäischen Union solche, die noch gar keine Zivilgesellschaft haben entwickeln können nach ihrer Entlassung aus dem Ostblock. Ich glaube, dass wir bisher kein zureichendes Konzept haben, wie innerhalb des größer gewordenen Europas die Zivilgesellschaft wirklich mitwirken kann außer durch Petitionen. Wir müssen neue Phantasie entwickeln und neue Methoden der Mitwirkung finden, die wir gegenwärtig noch nicht haben, und ich finde es besser, man gibt das zu.Ich würde gern auf die Frage des ersten Sprechers noch sagen: mir scheint das Wichtigste zu sein, dass die europäischen Institutionen gestärkt werden, und zwar sowohl das Parlament als auch die Kommission und dass durch die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament eine stärkere Verzahnung geschieht. Es ist mir wichtig, dass die schleichende Kompetenzverlagerung nach Europa aufhört, d. h. dass wir mit den Mitteln der Subsidiarität ganz deutlich machen: wer ist für was zuständig, damit man sich nicht auf Europa herausredet, wenn man nicht sagen möchte, wer Verantwortung trägt.

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Bundespräsident(auf die Frage nach europäischen Studienprogrammen):

Es gibt zu wenige Studenten heute, die vor dem Abschluss ihres Studiums andere Länder und andere Kulturen und Sprachen kennen lernen. Ich bin dagegen, dass man nur zu Hause studiert, sondern ich wünsche mir sehr viel mehr Austausch unter europäischen Studenten, und ich wünsche mir dafür auch nationale und europäische Programme, die das finanziell erträglich machen.

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Bundespräsident(auf die Frage nach einem Gottes-/Wertebezug in der europäischen Verfassung):

Ich habe in der Frage, ob der Gottesbezug in der Verfassung stehen darf, die Meinung, dass dagegen keine Einwände sprechen.

Ich glaube, dass eine europäische Verfassung vor allen Dingen die Gemeinsamkeiten europäischer Werte beschreiben muss und dass sie die Kompetenzen klar abgrenzen muss. Mehr kann man von einer europäischen Verfassung nach meiner Überzeugung dann nicht verlangen, wenn die nationalen Verfassungen in Kraft bleiben sollen. Aber diese beiden Punkte muss man dann auch von einer europäischen Verfassung oder einem Grundgesetz verlangen können. Dabei gibt es Formulierungen, die können übernommen werden in die neue Verfassung, die müssen nicht neu formuliert werden; aber es ist ein Unterschied, ob das Europäische Parlament so etwas beschließt - ich wünsche mir überhaupt eine Stärkung des Europäischen Parlaments - oder ob das nur auf einer Regierungskonferenz vereinbart worden ist. Deshalb wünsche ich mir mehr direkte Beteiligung des Parlaments an der Verfassungsarbeit.

Ich finde die Differenzen in der Irak-Politik machen nicht etwa deutlich, dass es keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gibt, sondern sie machen deutlich, dass wir alles tun müssen, damit sie entsteht. Denn die Vielstimmigkeit gegenüber den Partnern sowohl in Amerika als auch in Asien wird uns auf Dauer hilflos und machtlos machen. Wenn wir Einfluss haben wollen als Europäer, dann wir ihn nur gemeinsam wahrnehmen können. Darum bin ich für die Entwicklung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit entsprechenden Konsequenzen in den Institutionen. Das zweite ist, wir müssen uns ja sowieso verständlich machen, dass Europa ein Prozess ist und kein Zustand. Sie haben das Jahr 1947 zitiert. Damals gab es die ersten großen europäischen Reden. Es gab aber Deutschland noch nicht als einen einheitlichen Staat. Es gab ihn dann ab 1949, aber als Teilstaat bis 1990. Das heißt, überall sind wir auf dem Wege der Veränderung und des Prozesses. Wenn jemand vor zehn Jahren gesagt hätte, die nächste Entscheidung über die Erweiterung der NATO wird in Prag fallen, dann hätte man den ins Irrenhaus gebracht und nicht für einen Propheten gehalten. Das ist erst 10 Jahre her. Und deshalb meine ich, wir sollten fröhlich den Weg nach Europa weitergehen.