Rede von Bundespräsident Johannes Rau anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Chula-Longkorn-Universität in Bangkok

Schwerpunktthema: Rede

Bangkok, , 25. Juni 2002

I.

Ich danke Ihnen herzlich für die Verleihung der Ehrendoktorwürde Ihrer Universität. Ich bin stolz auf diese Auszeichnung und betrachte sie auch als Ausdruck der ausgezeichneten Beziehungen zwischen Thailand und Deutschland.

Ich möchte diesen Anlass dazu nutzen, einige Gedanken dazu anzustellen, wo ich den Platz unserer beiden Länder in einer Welt sehe, die sich in den vergangenen Jahren rasch gewandelt hat.

II.

Ihre Hochschule trägt den Namen eines bedeutenden und weitsichtigen Monarchen. Als König Chula-Longkorn 1868 an die Regierung kam, war das damalige Siam mit epochalen Herausforderungen konfrontiert: Die großen Kolonialmächte hatten ihr begehrliches Auge auf Ihr Land gerichtet. Wirtschaftliche Abhängigkeiten erschwerten eine eigenständige Entwicklung und die politischen Strukturen Siams waren jenen Herausforderungen nicht gewachsen, die wir heute als eine frühe Phase der Globalisierung sehen können.

Der König erkannte, dass Siam sich bestimmten Entwicklungen nicht würde entziehen können. Er sah und nutzte daher die Vorteile und Fortschritte der technischen und wirtschaftlichen, aber auch der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Europa und Nordamerika. Er führte die von seinem Vater eingeleiteten Reformen in allen Bereichen des staatlichen und öffentlichen Lebens entschlossen fort.

Er schaffte die Sklaverei und den Frondienst ab. Er baute ein modernes Bildungs- und Erziehungswesen auf, zu dem jeder gleichberechtigten Zugang haben sollte. Ihre Universität war die Krönung dieser Bemühungen.

Der König war ein toleranter Mann, der Glaubensfreiheit gewährte. Obwohl selber gläubiger Buddhist, stellte er es jedem seiner Untertanen frei, seinen Glauben zu leben. Er verschenkte Land, damit Moscheen und Kirchen errichtet werden konnten.

Bei seinen Reformen stützte der König sich auf viele ausländische Berater aus ganz unterschiedlichen Ländern. Auch deutsche Experten arbeiteten damals in Thailand. Sie waren vor allem in den Bereichen tätig, die besonders dazu beigetragen haben, dass unsere Welt zusammenwächst: im Verkehrswesen und in der modernen Kommunikationstechnik.

Thailand ist das einzige Land Südostasiens, das nie Kolonie gewesen ist. Das verdankt es ganz wesentlich der klugen, energischen und mutigen Politik König Chula-Longkorns. Seine Politik ist vorbildlich, weil ihm zweierlei gelungen ist: Er hat sein Land erfolgreich modernisiert und er hat zugleich seine Unabhängigkeit und seine unverwechselbare Identität bewahrt.

III.

Auch die Entwicklungen unserer Zeit, die wir mit dem Begriff "Globalisierung" umreißen, setzen uns Einwirkungen und Einflüssen aus, denen wir uns nicht entziehen können. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert, wir können sie gestalten. Gerade in Thailand weiß man, wie schwer das oft genug ist.

Die Globalisierung bietet großartige Möglichkeiten - und die wollen wir nutzen. Die Dynamik der Entwicklung kann Menschen, ja ganze Länder oder Regionen aber auch abdrängen und abhängen. Das müssen wir verhindern. Die reicheren Länder haben hier eine besondere Verantwortung. Wenn sie die wahrnehmen, dann werden sie damit auf Dauer viel mehr gewinnen, als es sie kostet.

Mit der Globalisierung ist auch die alte Einteilung der Länder in Erste, Zweite und Dritte Welt, in 'Nord' und 'Süd' hinfällig geworden. Heute fragen viele Menschen in Europa und Nordamerika sorgenvoll, ob es ihnen gelingen wird, den Anschluss zu halten, ob nicht dynamische und aufstrebende Länder wie Thailand in einer viel besseren Lage sind, um langfristig von den Vorteilen der Globalisierung zu profitieren.

An meine eigenen Landsleute habe ich appelliert, die Globalisierung als Chance zu nutzen und sie nicht als Schicksal hinzunehmen. Ich habe gesagt, dass wir sie als politische Aufgabe entdecken und ernst nehmen müssen. Das bedeutet, dass wir viele Bereiche modernisieren müssen - in Deutschland zum Beispiel das Bildungswesen und unser System sozialer Sicherung, dessen Anfänge in das neunzehnte Jahrhundert zurück reichen.

Wir dürfen uns aber andererseits nicht dazu verleiten lassen, unter dem Deckmantel der "Modernisierung" in einen Wettbewerb darum einzutreten, wer mit den niedrigsten Löhnen und den geringsten Sozialstandards - vielleicht gar noch mit der höchsten Umweltbelastung - am billigsten produzieren kann. Wenn wir solchen Wettläufen nach unten nicht Einhalt gebieten, werden wir am Ende alle zu Verlierern.

IV.

Die Welt verändert sich heute sehr viel schneller, als wir das von den meisten Veränderungen aus der Geschichte kennen. Das verlangt den Menschen viel ab, oft ungeheuer viel. Daher kommt es darauf an, diesen Wandel solidarisch zu gestalten - im eigenen Lande und weltweit. Wir müssen vor allem erkennen, wo die Auswirkungen der Globalisierung die Menschen überfordern, wo Veränderung zu Verärgerung führt, ja zu Verzweiflung, Hass und Wut.

Wirtschaftlicher Fortschritt ist wünschens- und erstrebenswert. Aber muss er, so ist doch zu fragen, immer wieder mit der Preisgabe kultureller Identität einhergehen, mit dem Verlust historisch gewachsener Bindungen und auch religiöser Überzeugungen? Viele Menschen sind am tiefsten durch den Verlust ihrer Würde getroffen. Sie können es vielleicht nicht einmal sagen, aber sie spüren doch genau, wie wenig ihre Überlieferungen, ihre Kultur, ja einfach: ihre Verschiedenheit respektiert wird, wenn es darum geht, dem wirtschaftlichen Fortschritt den Weg zu ebnen.

Viele Menschen verbinden mit der Globalisierung die Angst, etwas zu verlieren: Heimat, Identität, die Möglichkeit, auf das Einfluss zu nehmen, was das eigene Leben bestimmt. Wir sollten diese Gefühle der Entfremdung sehr ernst nehmen, wir sollten ihren Ursachen nachgehen und versuchen, Antworten zu finden. Manche, so meine ich, liegen auf der Hand. Entwicklung, Demokratie und Menschenrechte müssen gefördert und die Wirtschaftsordnung an den Zielen von Solidarität und Gerechtigkeit ausgerichtet werden.

Glaubhaft können wir die weltweite Geltung dieser Grundsätze allerdings nur fordern, wenn wir zugleich bereit sind, unterschiedliche kulturelle und religiöse Identitäten und unterschiedliche wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Gestaltungsideen zu respektieren.

Das mag zunächst sehr abstrakt klingen. Lassen Sie mich aber ein Beispiel nennen, das verdeutlicht, worum es geht: der Tourismus. In vielen Ländern, auch in Thailand, bietet er vielen Menschen die Chance für Beschäftigung und Einkommen und schafft wichtige Voraussetzungen für den Ausbau der Infrastruktur und für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. Das "Kapital", das dabei eingesetzt wird, sind die Umwelt und die Kultur der besuchten Länder.

In der Vergangenheit wurde damit oft bedenkenlos umgegangen. Gemeinsam sollten wir uns daher um die Entwicklung eines "nachhaltigen Tourismus" bemühen. Wir müssen die natürlichen Lebensgrundlagen in den Reiseländern bewahren und dafür sorgen, dass die Besonderheiten und Eigenarten des Landes geachtet werden, seine Kultur und seine Überlieferungen. Dafür gibt es gute Ansätze und gelungene Beispiele.

V.

Im 19. Jahrhundert hat sich das damalige Siam erfolgreich behauptet. Wo es nötig war, hat es sich modernisiert, wo es möglich war, hat es seine Eigenständigkeiten bewahrt. Heute sind nicht übermächtige Kolonialstaaten, sondern gleichrangige Partner die Nachbarn Thailands. Im Zusammenschluss der ASEAN-Staaten haben sie den Weg in die regionale Kooperation gewählt. Die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit der Staaten einer Region - das ist eine der besten Antworten auf die Herausforderungen, vor die die Globalisierung uns heute stellt.

In der Europäischen Union ist die regionale Integration schon weit fortgeschritten. Gegenwärtig diskutieren wir darüber, wie wir unsere Zusammenarbeit noch intensiver und noch effektiver gestalten können. Dabei steht ganz oben auch die Frage, wie wir sicherstellen können, dass die Bürgerinnen und Bürger unserer Länder dem europäischen Einigungsprozess zustimmen. Das ist nicht selbstverständlich, trotz aller Vorteile, die eine solche Kooperation mit sich bringt. Wo wir gemeinsam handeln, verzichten wir ja stets auch auf ein Stück nationalstaatlicher Souveränität - gewinnen aber politische und wirtschaftliche Handlungsfähigkeit weltweit.

Regionale Kooperation, die geordnet aufgebaut wird und die auch die Grenzen der Integration festlegt, bietet einen weiteren großen Vorteil. Sie vermag den kulturellen Reichtum, die Vielfalt der Lebensart und die historisch gewachsenen unterschiedlichen Identitäten aller Teile der Union zu bewahren. Das muss sie auch tun, denn nur dann wird sie die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger dauerhaft gewinnen.

Für den Aufbau eines regionalen Zusammenschlusses gibt es so wenig ein Patentrezept wie für die Verfassung eines Staates. Die Herausforderung besteht immer darin, die politischen und wirtschaftlichen Vorteile in Einklang zu bringen mit den kulturellen Traditionen eines Landes. Dabei darf das Eine nicht zu Lasten des Anderen gehen. Freiheit und Gleichheit dürfen auf keinen Fall unter Hinweis auf angebliche kulturelle Unterschiede eingeschränkt werden.

VI.

Die Zusammenarbeitineiner Region ist die Grundlage für die Zusammenarbeitzwischenden Regionen. Die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der ASEAN-Gruppe reicht länger als zwanzig Jahre zurück. Beide Seiten haben umfassend davon profitiert und wir haben über die Jahre gute Formen der Zusammenarbeit aufgebaut.

Dennoch hat sich die Zusammenarbeit in den vergangenen fünf Jahren nur zögernd weiter entwickelt. Die europäische Seite hat darauf bestanden, dass alle Partner die Menschenrechte achten und die Grundsätze demokratischer Politik respektieren. Beides war in Myanmar nicht gewährleistet. In den zurückliegenden Wochen hat es aber Ansätze zu positiven Veränderungen gegeben. Ich bin daher zuversichtlich, dass wir die Zusammenarbeit EU-ASEAN erfolgreich beleben und fortentwickeln werden.

VII.

Lassen Sie mich zum Schluß noch ein Wort zu Ihrer Hochschule sagen. Ihr Namensgeber, König Chula-Longkorn, war ein weltoffener Mann. Seine Reisen nach Deutschland und in andere Länder Europas hat er in Briefen dokumentiert, die an Ihrer Universität übersetzt werden und bald auch in deutscher Sprache erscheinen sollen. Auf diese Lektüre freue ich mich schon heute.

Bildung und Erziehung sind der Schlüssel zur Zukunft. Darum hat der König schon vor fast hundert Jahren ein umfassendes und für alle Gruppen der Bevölkerung zugängliches Erziehungswesen geschaffen. Er hat das so formuliert: "Meine Kinder bis hin zu den Kindern in den untersten sozialen Schichten haben die gleiche Möglichkeit zu einer Ausbildung. Wir sollten wissen, dass Bildung das wichtigste aller Dinge ist."

Die Chula-Longkorn-Universität ist das handgreifliche Ergebnis dieser Vision.

Ich danke Ihnen noch einmal herzlich für die Ehre der Doktorwürde Ihrer Universität und ich wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles Gute.