Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau beim Festakt zur Eröffnung der Ausstellung "WeltFlechtWerk - Die Einheit hinter den Gegensätzen"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 16. Mai 2002

I.

Calw in Berlin: ein Hesse-Festival mit über zweihundert Veranstaltungen; Ausstellungen in Paris, Budapest Wien und Berlin; Konzerte, Vorträge, Lesungen und vieles mehr. So begeht Calw, die Geburtsstadt Hermann Hesses, seinen 125. Geburtstag, wie wir gerade gehört haben.

Da kann einem schon der Gedanke kommen, dass das Motto "Internationales Hermann-Hesse-Jahr" zu bescheiden ist, dass es eigentlich "Hermann-Hesse-Marathon" heißen müsste. Wer allein an allen Veranstaltungen in Calw teilnehmen wollte, der könnte außer Atem geraten - jedenfalls dann, wenn er nicht so gut zu Fuß ist, wie Hermann Hesse das offenbar war.

Passt dieser "Medienrummel" zu dem Schriftsteller, dessen Verhältnis zu den Medien zwiespältig war? Er nutzte zwar Zeitungen und Radio für seine Texte, er war aber konsequent gegen eine Verfilmung seiner Werke. Für das Fernsehen ließ er sich nicht erwärmen.

Passt all die Aufmerksamkeit zu dem Dichter, der jedenfalls in seinen ersten Lebensjahrzehnten eher scheu und in sich gekehrt war? Passt das zu dem Menschen, der den größten Teil seines Lebens in Württemberg und in der Schweiz verbracht hat - in Landschaften, die "zum Ausruhen, nicht zum Aufbruch" einladen, wie sie immer wieder beschrieben werden?

II.

Die überwältigende Resonanz, die Hermann Hesses Werk schon früh gefunden hat und bis heute findet, legt nahe, dass die öffentliche Aufmerksamkeit auch zu ihm passt: zu diesem meist übersetzten und im Ausland meist gelesenen deutschsprachigen Autor des 20. Jahrhunderts; zu diesem "Klassiker", den gerade junge Menschen immer wieder gelesen haben - freiwillig und begeistert; zu diesem vielfach offiziell geehrten Literaturnobelpreisträger, dessen Werke die Protestgeneration der sechziger Jahre verschlungen hat und der mit einem seiner Romane gar zum Namenspatron einer amerikanischen Rockgruppe wurde: Steppenwolf.

Hesse wird viel zitiert. Es wird Ihnen gehen wie mir: Wie oft hat man an Geburtstagen die "Stufen" gehört oder in Todesanzeigen gelesen - man kann sie fast singen: "Wie jede Blüte welkt und jede Jugend/ dem Alter weicht, ..." und wer kennt nicht die Zeile: "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne"?

Hermann Hesse hat viele inspiriert - bei uns und in den sechziger Jahren besonders in Amerika - die gegen diese bürgerliche Welt demonstriert haben. Wie passt das wohl zusammen? Diese Frage wird in diesem Jahr nicht zum ersten Mal gestellt und auch nicht zum ersten Mal beantwortet - oder zumindest zu beantworten versucht.

Hesse-Liebhaber verweisen auf die Zeitlosigkeit seines Werks, besonders in der Darstellung der inneren Zerrissenheit des Einzelnen, der unter gesellschaftlichen Zwängen leidet. Sie verweisen auf Hesses Utopie einer Welt, in der gegenseitige Achtung und Toleranz das Miteinander bestimmen. Sie hat viele Menschen inspiriert, und sie tut das bis heute. Wir werden Professor Kuschel gleich zuhören, wenn er über "Hesses Suche nach einem Menschheitsethos" spricht.

Kritiker Hesses haben dagegen einige seiner Werke als "Pubertätsliteratur" abgetan. Sie haben ihm "Beliebigkeit" vorgeworfen und auch "Kulturpessimismus". Gewiss lassen sich für die Positionen der Hesse-Liebhaber wie der Hesse-Kritiker Belege in seinem Werk finden. Es liegt nun einmal in der Natur der Sache, dass Leser, die versuchen, aus dem Werk eines Autors "herauszulesen", was er gemeint haben könne, vielfach sich selber in dieses Werk "hineinlesen".

Ich bin kein Literaturkritiker und möchte auch nicht so tun, als wäre ich einer. Ich spreche deshalb auch nicht über Hesses Werk, sondern über Hesses Lebensweg und über seine politischen Auffassungen. Der Mensch Hermann Hesse hat uns meines Erachtens auch heute, - 125 Jahre nach seiner Geburt und vierzig Jahre nach seinem Tod - noch viel zu sagen.

III.

Werfen wir einen Blick auf seinen Lebensweg: Hermann Hesse wurde in Calw geboren und wuchs dort in einem pietistischen Elternhaus auf. Beide Eltern waren als Missionare in Indien gewesen. Da weht auch hier ein Hauch von Liebenzell durch den Saal: Schon der Großvater mütterlicherseits war Liebenzeller und ein bekannter Indologe.

Viele Hesse-Interpreten sehen darin den Grund dafür, dass Hesse sich mit fernöstlicher Religion und Philosophie beschäftigt hat. Auch seine tiefe Religiosität und sein Engagement für den Dialog zwischen unterschiedlichen Religionen, Kulturen und politischen Lagern seien ohne das Elternhaus nicht zu verstehen. Das ist gewiss richtig.

Richtig ist aber auch, dass Hermann Hesse zu den Menschen gehört, die es sich und die es anderen nie leicht gemacht haben. Wer seine Gedankenwelt und sein Werk ganz verstehen will, der muss wissen, wie sehr Hermann Hesse in seinem Leben mit sich selber gerungen hat, auch sich selber unterlegen ist; wie sehr er an sich selber und an der Welt gezweifelt hat und manchmal verzweifelt ist.

Hesse kommt mit den Schulen nicht zurecht, die seine Eltern für ihn aussuchen. Er ist mit fünfzehn lebensmüde und kommt in eine Nervenheilanstalt. Er verlässt die Schule ohne Abschluss, und bricht zwei Lehren ab. Erst als die Buchhändlerlehre bei Heckenhauer in Tübingen beginnt, erst da beginnt sich sein Leben ein wenig zu stabilisieren.

Ich sage bewusst "ein wenig"; denn auch in den drei Jahrzehnten danach wurde sein Leben nicht "stromlinienförmig". Er durchlebte bis zum Beginn seines sechsten Lebensjahrzehnts immer wieder tiefe Krisen und Zweifel an seinem schriftstellerischen Werk. Seine Ehen und die Trennung von den Kindern, von der Heimat - das alles wären noch andere Themen.

Vergegenwärtigen wir uns auch, dass Hermann Hesse in Zeiten lebte, die von tiefen politischen Brüchen und von massiver Gewalt gekennzeichnet waren: Er erlebte den Ersten Weltkrieg, die Revolution von 1918/19, den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg.

Den Ersten Weltkrieg begrüßte er anfänglich wie viele europäische Intellektuelle der damaligen Zeit als Ende des "blöden Kapitalistenfriedens". Anders als viele andere wurde er im Laufe des Krieges aber zum Kriegsgegner.

Anders als viele andere wandte er sich durch die Erfahrung des Krieges nicht den neu entstehenden extremistischen Bewegungen zu. Schon früh, 1933, warnt er vor dem Nationalsozialismus. Er beteiligt sich aber nicht am offenen Widerstand. Freilich, mit seiner dritten Frau hilft er Verfolgten, die aus Deutschland fliehen müssen. In der NS-Zeit waren seine Werke nicht verboten. Sie wurden aber nicht neu aufgelegt, und das "Glasperlenspiel" konnte 1943 in Deutschland aus Papiermangel nicht erscheinen.

IV.

Wenn wir uns mit Hesses Lebensweg beschäftigen, dann lernen wir einen anderen Hesse kennen als den, den viele von uns in ihrer Jugend gern gelesen haben, den Autor von "Narziß und Goldmund", "Demian" und "Steppenwolf". Wir begegnen auch einem anderen Hesse als dem, der so gut zu Geburtstagsfeiern und Todesanzeigen passt. Mir ist es jedenfalls so gegangen. Wenn man seinen Lebensweg kennt, dann klingen die vielzitierten Zeilen anders:

"Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Es gab in Hesses Leben keine innere Dynamik, die sozusagen automatisch dazu geführt hätte, dass er sich zu einem Humanisten entwickelt hat, der sich stets für eine gewaltfreie Welt einsetzte. Er hat sich dafür immer wieder entschieden.

Er konnte das gewiss tun, weil er in seinem Leben auch immer Zuwendung, Freundschaft und Unterstützung gefunden hat, seelisch wie materiell. Ich habe mich oft gefragt, was aus ihm geworden wäre, wenn es nicht Mäzene gegeben hätte, die ihn immer wieder großzügig unterstützt haben. Ich frage mich manchmal auch, was heute aus ihm würde.

V.

Die Hilfe, die Hesse erfahren hat, war für ihn wohl unverzichtbar. Sie allein erklärt aber nicht, wie er mit seinen Ängsten und seinen Lebenskrisen umgegangen ist. Er hat früh, und er hat immer wieder die Verantwortung für sein Leben übernommen. Er war überzeugt - ich zitiere:

"Ein Lebensweg mag von gewissen Situationen aus noch so sehr determiniert erscheinen, er trägt doch stets alle Lebens- und Wandlungsmöglichkeiten in sich, deren der Mensch selbst irgend fähig ist."

Hermann Hesse hat sich seinen Ängsten gestellt. Er ist nicht aus seiner Angst den Weg in den Hass gegangen, in den Hass gegen die Welt und gegen alles "Andere", wie es viele tun, die Angst haben. Damals sind viele diesen Weg von der Angst zum Hass und vom Hass zur Gewalt gegangen. Hermann Hesse hat den Weg zu Versöhnung und Toleranz gesucht, und das verdient unseren Respekt.

Er hat sich viele Jahrzehnte intensiv mit fernöstlicher Philosophie und Religion auseinander gesetzt. Mit der auch damals modischen Esoterik hatte das nichts zu tun. Darum ist seine Stimme auch wichtig in der aktuellen Diskussion über eine Ethik für die globalisierte Welt.

Aber nicht nur seine Stimme ist wichtig. Hermann Hesse gehört als Mensch zu den Vorbildern, die wir brauchen, um gerade junge Menschen tolerant und gewaltfrei zu erziehen und sie immer wieder dazu zu ermutigen, es zu bleiben.

Herrmann Hesses Lebensweg zeigt uns: Ein Leben in Verantwortung schließt Umwege und Scheitern ein. Es gibt kein Scheitern ein für allemal. Es gibt mehr als eine Chance. Es gibt aber auch eine gesellschaftliche Verpflichtung, jungen Menschen und Menschen in materieller und in seelischer Not zu helfen. Hesses Lebensweg zeigt vor allem, dass es auch in schweren Zeiten eine Alternative zu Hass und Gewalt gibt.

Darum hat Hermann Hesse all die Aufmerksamkeit verdient, um die seine Heimatstadt Calw sich in diesem Jahr bemüht. Ich wünsche Ihnen, dass Sie das mit großem Erfolg tun, damit sein Werk und sein Leben nicht vergessen werden.