Rede von Bundespräsident Johannes Rau zum Gedenken an die Opfer des Mordanschlages vor dem Dom zu Erfurt

Schwerpunktthema: Rede

Erfurt, , 3. Mai 2002

Liebe Lehrerinnen und Lehrer,

liebe Schülerinnen und Schüler,

liebe Erfurterinnen,

liebe Erfurter,

I.

in dieser Stunde gedenken wir der Opfer des schrecklichen Verbrechens vom vergangenen Freitag. Eine ganze Woche ist vergangen, aber das Entsetzen hat uns nicht verlassen.

Wir trauern um:

Heidrun Baumbach,

Monika Burghardt,

Birgit Dettke,

Ivonne-Sofia Fulsche-Baer,

Andreas Gorski,

Rosemarie Hajna,

Susann Hartung,

Gabriele Klement,

Hans Lippe,

Ronny Möckel,

Carla Pott,

Heidemarie Sicker,

Helmut Schwarzer,

Hans-Joachim Schwertfeger,

Anneliese Schwertner und

Peter Wolff.

Schüler haben ihre Lehrer und Mitschüler für immer verloren, Lehrer trauern um ihre Kollegen, eine Schule um ihre Mitarbeiterin, Eltern fassen nicht den Tod ihrer Kinder, Polizeibeamte beklagen den Tod eines Kollegen.

In Familien, in Freundschaften, in Nachbarschaften, in ganz Erfurt hat der Tod eine furchtbare Spur gezogen und tiefen Schmerz gebracht.

Sie sind in Ihrer Trauer nicht allein. Die Nachricht hat in ganz Deutschland und in vielen Teilen der Welt Entsetzen, Trauer und Mitgefühl ausgelöst.

Wir sind ratlos. Wir haben nicht für möglich gehalten, dass so etwas bei uns geschieht.

Wir sollten unsere Ratlosigkeit nicht zu überspielen versuchen mit scheinbar naheliegenden Erklärungen. Wir sollten uns eingestehen: Wir verstehen diese Tat nicht. Wir werden sie
- letzten Endes - auch nie völlig erklären können.

Gewiss, wir möchten verstehen, was den Täter angetrieben, was ihn verführt, was ihn jeden menschlichen Maßstab hat verlieren lassen. Wir suchen nach Ursachen und nach Verantwortung. Wir möchten schnell wissen, welche Konsequenzen gezogen werden müssen, damit so etwas nicht wieder geschieht.

All das verstehe ich gut. An erster Stelle aber stehen heute die Trauer um die Opfer und das Mitgefühl für alle, die so plötzlich einen nahen Menschen verloren haben.

II.

Wir nehmen Abschied von der Schulsekretärin und von den Lehrerinnen und Lehrern, die für die Schülerinnen und Schüler, die ihnen anvertraut waren, ihr Bestes gegeben haben. Sie sind aus der Mitte des Lebens gerissen worden. Sie hinterlassen Ehepartner und Kinder, Eltern und Geschwister. Sie hatten Ziele und Träume, die sie verwirklichen wollten.

Wir trauern um die Schülerin und um den Schüler, die noch ganz am Anfang ihres Lebensweges standen und die sich auf das Leben gefreut haben. Wir trauern mit ihren Eltern und Freunden, die einen so plötzlichen und schrecklichen Verlust erlitten haben.

Wir nehmen Abschied von dem Polizeibeamten, der helfen und retten wollte und dabei von den Kugeln des Mörders getroffen wurde. Ihm und seiner Familie gehört unser Mitgefühl.

Wir denken an die Verletzten, an ihr Leid, ihren Schmerz und wir hoffen, dass sie wieder ganz gesund werden.

Opfer der furchtbaren Tat sind auch all die Schüler und Lehrer, die mitansehen und erleben mussten, was am vergangenen Freitag am Gutenberg-Gymnasium geschehen ist. Sie waren in Todesangst. Sie haben erleben müssen, wie einer der ihren, ein Schüler wie sie, zu einem Massenmörder geworden ist.

Meine Gedanken gehen auch zur Familie des Täters. Niemand kann ihren Schmerz, ihre Trauer und wohl auch ihre Scham ermessen. Ich möchte ihnen sagen: Was immer ein Mensch getan hat: er bleibt ein Mensch.

Die ganze Stadt Erfurt schließlich, ihre Bürgerinnen und Bürger, wir alle werden von der Erinnerung an den vergangenen Freitag noch sehr lange Zeit geprägt sein.

Wo ist Trost, wo ist Hilfe in einem solchen Moment? Liebe Schülerinnen, liebe Schüler, Michaela Seidel, Eure Schulsprecherin, hat am vergangenen Sonntag gesagt: "Das ist es, was ich mir wünsche, was in allen Familien passiert: dass man einfach in den Arm genommen wird. Und das Gefühl hat, es ist jemand da, und Du bist nicht allein."

Michaela hat Recht. Darauf kommt es an. Die Menschen in dieser Stadt werden gegenseitige Hilfe brauchen, Zuhören und einander Stützen. Nur dann können sie lernen, mit dem Ereignis zu leben, das wohl jeden einzelnen in der Stadt erschüttert hat.

III.

Wir sind ratlos, und wir spüren, dass schnelle Erklärungen so wenig helfen wie schnelle Forderungen. Diese Stunde der Trauer ist aber auch eine Stunde der Besinnung.

In den Tagen nach der Untat haben wir gefragt: Wie kann ein Mensch so etwas tun? Viele aus der Umgebung des Täters haben gesagt: wir kannten ihn eigentlich nicht sehr gut.

In diesem Satz zeigt sich eine Entwicklung unserer Gesellschaft insgesamt. Wir leben miteinander und kennen uns häufig nicht. Wir gehen miteinander zur Schule oder zur Arbeit und wir kümmern uns oft nicht um den anderen.

Wenn unsere Gesellschaft zusammenhalten soll, wenn unsere Familien, unsere kleinen Gemeinschaften, unsere Schulen, unsere Betriebe, unsere Vereine zusammenhalten sollen, dann müssen wir uns umeinander kümmern.

Wir brauchen zweierlei: Wir müssen einander achten und wir müssen aufeinander achten.

Wir müssen einander achten: Niemand darf abgedrängt werden, niemand darf an einen Punkt kommen, an dem er glaubt, sein Leben sei nichts wert, weil er in einem bestimmten Bereich nur wenig leisten kann, weil er "nichts bringt", wie man so sagt. Kein Mensch kann leben ohne Zuwendung, ohne Geborgenheit, ohne Liebe. Jeder ist wertvoll durch das, was er ist, und nicht durch das, was er kann.

Wir müssen aber auch aufeinander achten: Es darf uns nicht gleichgültig sein, wenn unsere Freunde, unsere Schulkameraden, unsere Kinder, unsere Kollegen nicht mehr mitkommen, wenn sie Wege gehen, die ins Abseits führen, wenn sie aus der Wirklichkeit in die Scheinwelten von Drogen oder elektronischen Spielen flüchten.

Aufeinander achten, das heißt, einander mitnehmen, füreinander da sein.

Alle Menschen sind beeinflussbar - und junge Menschen ganz besonders. Zum Guten wie zum Bösen. Wir sind verführbar. Unser Handeln hat manchmal Ursachen, die wir selber nicht kennen.

Es gibt im menschlichen Handeln aber keinen Automatismus von Ursache und Wirkung. Es gibt eine letzte Verantwortlichkeit des Einzelnen für das, was er tut.

Es stimmt: Welche Ziele und Vorbilder wir angeboten bekommen - davon hängt vieles ab.

Es stimmt aber auch: Welche Idealewir selberwählen und mit anderen teilen - auch davon hängt vieles ab.

IV.

Diese Stunde der Trauer und der Besinnung stellt uns vor viele Fragen. Einige Fragen gehen die ganze Gesellschaft an, uns alle:

Wie rücksichtslos ist oft unser alltäglicher Umgang miteinander? Was gilt der andere, der schwächer ist oder älter oder der nicht ganz so cool ist oder nicht ganz so fit? Wie viel Herabsetzung und Ausgrenzung mutet uns manche Werbung zu? Wie viel Gewalt steckt oft schon in der Sprache?

Haben wir uns nicht zu sehr daran gewöhnt, dass Gewalt, Hass und Hemmungslosigkeit nicht nur im Film und in Computerspielen selbstverständlich sind, sondern dass sie auch manche Talkshow und manche unserer Gespräche bestimmen?

Doch bevor wir allein den Medien die Schuld geben: Tragen wir nicht selber dazu bei, dass mit der Darstellung von Hass und Gewalt, dass mit menschlichem Leid hohe Einschaltquoten erzielt werden?

Warum geht es in vielen Spielen immer darum, möglichst viele Gegner und Feinde zu töten und nicht darum, möglichst viele vor einer Gefahr zu schützen oder aus einer gefährlichen Situation herauszuholen?

Warum sind die Helden in so vielen Filmen eiskalt, unbeirrbar und ohne Mitleid?

Die Selbstkontrolle der Medien ist wichtig. Unsere eigene Selbstkontrolle ist aber noch wichtiger. Wir müssen uns gegen die Verrohung unserer Gesellschaft wehren - und diesen Kampf muss jeder bei sich selber beginnen.

V.

Unsere Kinder und unsere Schüler brauchen eine lebendige Phantasie, die sie zu selbstbestimmten und selbstbewussten Menschen werden lässt. Sie dürfen aber nicht in die Gefangenschaft künstlicher Welten geraten, aus der sie nicht mehr herausfinden.

Die modernen Kommunikationsmedien sind unverzichtbar. Schulen brauchen aber mehr als den Anschluss ans weltweite Netz. Schüler brauchen lebendige, erfahrbare Netze, die sie halten; sie brauchen Netzwerke aus Mitmenschlichkeit und Interesse am anderen.

Unsere Kinder und Schüler müssen sich aneinander messen. Sie müssen lernen, Konkurrenz auszuhalten. Ohne Leistung, ohne Leistungsbereitschaft wäre jede Schule wirklichkeitsfremd. Immer muss aber klar sein, dass die Beurteilung einer Leistung kein Urteil über eine Person ist. Kein Schüler, kein Mensch ist ein hoffnungsloser Fall.

Schulen dürfen nicht zu Orten der Angst werden - weder für Schüler noch für Lehrer. Ich danke allen Lehrerinnen und Lehrern in ganz Deutschland für die großartige und engagierte Arbeit, die so viele von ihnen leisten. Manchmal tun sie das unter ganz schwierigen Bedingungen. Sie sorgen dafür, dass ihre Schule ein Ort ist, an dem man lernen kann, in Achtung voreinander zusammen zu arbeiten und zu leben.

Keiner glaube, wir könnten den Kampf gegen Gewalt, Aggression und Hass allein an die Schulen delegieren. Da sind wir alle gefordert.

Wir dürfen unseren Kindern nicht vorgaukeln, die Welt sei heil. Aber wir sollten in ihnen die Zuversicht wecken, dass die Welt nicht unheilbar ist.

Kinder brauchen die Erfahrung, dass sie Konflikte lösen, dass sie Enttäuschungen überwinden können und dass Anstrengungen sich lohnen.

Wer dieses Vertrauen mit auf den Weg bekommen hat, der wird auch als Erwachsener den Mut haben, Schwierigkeiten anzugehen und nach vernünftigen Lösungen zu suchen.

Unser Zusammenleben darf nicht zu einem erbarmungslosen Konkurrenzkampf werden. Eine menschenfreundliche Gesellschaft lebt von gegenseitiger Hilfe, von Solidarität mit den Schwachen, von der Aufmerksamkeit füreinander. Zeit füreinander haben: Das gehört zum Kostbarsten, was wir uns schenken können. Nur so schaffen wir eine Gesellschaft, in der wir selber gerne leben.

VI.

Ich wünsche allen, die am vergangenen Freitag einen nahen Menschen verloren haben, dass sie Menschen haben oder finden, die sie begleiten, die Ihnen zuhören, die ihnen helfen, die nächsten Schritte im Leben zu tun. Ich wünsche Ihnen allen, dass Sie Quellen des Trostes finden auf dem schweren Weg, der noch vor Ihnen liegt, und dass Sie neue Zuversicht gewinnen können.

Lassen Sie uns gemeinsam innehalten in Schmerz und Trauer.

Lassen wir einander nicht allein.