Ihr Leben umfasste das 20. Jahrhundert. Sie hat es in seinen Schrecken erlebt und erlitten, sie hat es in seinem Guten gelebt, geliebt und gestaltet. Ihre Kindheit, ihre Herkunft verweisen in eine lang vergangene Zeit. Bis zuletzt hat sie auf die Frage nach ihrer Heimat Ostpreußen geantwortet, und sie hat immer hinzugefügt, dass Heimat vor allem ein geistiger Begriff ist, etwas, was einem nicht zufällt, sondern, was erworben werden muss. Da war sie wirklich Preußin. Die guten Traditionen Preußens, das war der Boden, auf dem ihre Überzeugungen wuchsen.
Das Besondere ihres Beitrags zur deutsch-polnischen Aussöhnung, die sie wie andere - wie die katholischen Bischöfe, wie die Ostdenkschrift der EKD, wie Klaus von Bismarck und Richard von Weizsäcker vorangebracht hat und die ihr Lebensinhalt war, diese deutsch-polnische Aussöhnung war in ihrer Persönlichkeit angelegt. Ihre Biographie und ihr Charakter, ihre Überzeugung und ihr praktisches Handeln sind in ihr eine glückliche Verbindung eingegangen.
Ihre Meinung zu sagen, sie nicht für sich zu behalten, sie unüberhörbar auszusprechen, für sie einzutreten auch gegen Widerstand, das waren Maximen ihres Lebens, die aktuell bleiben und die sie zum Vorbild machen. Sie ist diesen Grundsätzen auch in Zeiten großer Bedrängnis treu geblieben. So wurde aus gelebtem Anstand hohe Glaubwürdigkeit. Anstand, so hat sie selber das gesagt, das war das Gefühl für das, was man tut und nicht tut. So klar und einfach konnte sie formulieren und damit überzeugen.
Sie wollte nicht, dass man viel Aufhebens um sie machte. Der Einzelne, so war sie erzogen worden, hatte gegenüber der Gemeinschaft zurückzustehen. Ihre Bescheidenheit entsprang einer klaren Vorstellung von Verantwortung. Verantwortung trägt jeder an dem Platz, an dem er steht, für die Menschen, die mit ihm und um ihn sind, Verantwortung für das Gelingen des Ganzen. Das hat sie vorgelebt, das hat sie angemahnt. "Es gibt kein System," so hat sie gesagt, "das eingeführt, keine Aktion, die gestartet werden könnte, um die notwendige Bewusstseinsveränderung hervorzubringen. Sie kann", so sagt Marion Gräfin Dönhoff, "nur durch die Bürger selber zustande gebracht werden.
Es kommt wirklich auf uns an, auf jeden einzelnen von uns."
So steht es in ihrer Streitschrift "Zivilisiert den Kapitalismus".
Sie geht darin hart mit den Mechanismen einer Gesellschaft ins Gericht, die sich einseitig auf die Maximierung von Vorteil und Gewinn ausrichtet, die soziale Verantwortung und Solidarität ausblendet. Ihre Kritik gilt aber nicht dem Markt als Instrument. Sorge machte ihr der Verlust des "ethischen Unterbaus" in der Gesellschaft, die Stabilität unserer Demokratie, die gefährdet ist, wenn wir die Gesellschaft freier Bürgerinnen und Bürger zu einer Konsumgesellschaft werden lassen. Sie ist nicht müde geworden darauf hinzuweisen, dass eine Gesellschaft Normen und Spielregeln braucht, dass sie ohne einen ethischen Minimalkonsens keinen Bestand haben kann. Manche nennen das wertkonservativ; vielleicht wird ihr das noch nicht gerecht.
Ihre Haltung, ihre Persönlichkeit - beides entzog sich jeder Kategorisierung. Sie war unbeugsam, konnte unbedingt sein. Aber mit der gleichen Leidenschaft, mit der sie für Pflichten, für Bindungen, für Verantwortung stritt, kämpfte sie für Gerechtigkeit und dafür, dass jedem Menschen die gleiche Würde zukam. Sie lieh die Macht ihres Wortes den Opfern; ob es in der Sowjetunion war oder im Südafrika der Apartheid.
Marion Dönhoff war keine Beharrende, die gegen jede Vernunft am Althergebrachten festhielt. Sie selber sagte, dass "die Geschichte gnadenlos über den hinweggeht, der auf Stillstand und Bewahren setzt". Sie wusste, dass Deutschland nur dann wieder eine Chance hätte, wenn eine tiefgreifende geistige Erneuerung gelänge. Dafür hat sie mit all ihren Möglichkeiten gearbeitet und geworben. Dieser Weg war auch der Weg des Neuanfangs im Verhältnis zu unseren Nachbarn.
Diesen Weg zu gehen war schmerzlich. Es hieß einzusehen, dass ihre Heimat nie wieder zu Deutschland gehören würde. Aber sie hat das, was sie verlor, auf neue Art wiedergewonnen. Ihr ist es zu verdanken, dass in Kaliningrad, im früheren Königsberg, wieder ein Denkmal für Immanuel Kant steht, und im früheren Nikolaiken gibt es jetzt ein Marion-Dönhoff-Lyzeum. So ist aus "Namen, die keiner mehr nennt", so eines ihrer Bücher, das andere geworden: "Namen, die man wieder nennt". Das war das Thema des Symposiums vor zwei Jahren zu ihrem 90. Geburtstag.
In dem Roman "Der Leopard" wird uns eine vergehende Adelswelt gezeigt. Das war die Welt, aus der Marion Gräfin Dönhoff stammte. Der Autor legt einem jungen Adligen den Satz in den Mund, den alle kennen, oft zitieren:Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, müssen wir vieles ändern.
Mir scheint dieser Satz wie auf Marion Gräfin Dönhoff gemünzt. Wir müssen loslassen, um bewahren zu können. Sie konnte mit untrüglicher Sicherheit unterscheiden zwischen dem, was wir verändern müssen, und dem, was Bestand haben soll. Danach hat sie gehandelt, das war ihre große Lebensleistung, das ist ihr Vermächtnis.
Wir erinnern uns an eine große Deutsche, an eine herausragende Journalistin, an eine kluge und liebenswürdige Frau, die aufrecht und bescheiden war, vornehm und unprätentiös und stets voller Zuversicht. "Liebe Freunde, seid nicht kleinmütig, seid voller Hoffnung", hat sie uns in einem ihrer letzten Kommentare zugerufen. Wir sollten versuchen, dieser Aufforderung gerecht zu werden.
Marion Dönhoff ist jetzt am Ziel ihres Lebens. Wir aber haben noch zu tun, und wir sollten uns der Maßstäbe erinnern, die sie gesetzt hat. Marion Gräfin Dönhoff hat sich um Deutschland verdient gemacht. Wir nehmen heute von ihr Abschied in Dankbarkeit und voller Zuneigung.