Liebe Landsleute in aller Welt,
von Freunden in vielen Teilen der Welt, aber auch durch manchen Brief, der mich erreicht, weiß ich, dass die Gedanken und Gefühle der Menschen, die im Ausland wohnen, gerade in der Weihnachtszeit besonders mit der Heimat verbunden sind. Man denkt vielleicht an die Orte der Kindheit und Jugend, an alte Freunde, an die Familien.
In diesen Tagen des Wunsches nach Frieden auf Erden werden aber auch die Sorge um kranke Angehörige, werden Einsamkeit, Streit oder der Verlust eines Menschen stärker, schmerzlicher erlebt als sonst.
Stärker als sonst erfahren wir zu Weihnachten: Wir gehören zusammen. Deswegen beschenken wir uns, deswegen tauschen wir Grüße aus, deswegen rufen wir einander an. "Wir gehören zusammen": das ist auch eine Bedeutung der weihnachtlichen Botschaft, die den "Frieden auf Erden" verkündet.
Der Friede auf Erden bleibt unser aller Hoffnung. Diese Hoffnung bekommt manchmal neue Nahrung, manchmal geht sie in Erfüllung. Ich freue mich darüber, dass die Menschen in Jugoslawien sich von Diktatur und Kriegstreiberei befreit haben. Ich freue mich darüber, dass sie sich auf den Weg gemacht haben zurück nach Europa.
Zur Sicherung des Friedens im Bereich des früheren Jugoslawien leisten auch viele Deutsche ihren Beitrag. Ich danke allen Soldaten, die sich gemeinsam mit ihren ausländischen Kameraden in multinationalen Verbänden unter großem persönlichen Risiko für Frieden und Menschenrechte einsetzen. Ich danke auch den vielen zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedenen Hilfswerke, die dort und an vielen anderen Orten der Welt ihren schwierigen aber unersetzlichen Dienst leisten.
Ich freue mich ganz besonders darüber, dass es in diesem Jahr zum ersten Mal Begegnungen gegeben hat zwischen Menschen aus Nord- und Südkorea. Wir Deutschen wissen, was die Teilung eines Landes an Schmerz und Leid bis hinein in Familien und Lebensläufe bringen kann. Um so mehr freuen gerade wir uns mit den Menschen in Korea darüber, dass die Begegnungen zahlreicher werden und die Grenze eines Tages, der hoffentlich nicht allzu fern liegt, ganz verschwindet.
Die Hoffnung auf Frieden wird immer wieder auch bitter enttäuscht. So schien vor kurzem noch der Friede im Nahen Osten zum Greifen nahe zu sein. Dann drohte er, in einem Sog von Hass und Gewalt unterzugehen. Wir wünschen uns gerade in diesen Tagen nichts sehnlicher, als dass Friede gerade in dem Land einkehren möge, in dem die Botschaft vom Frieden auf Erden zuerst verkündet wurde.
Nach Israel hat mich eine meiner Reisen in diesem Jahr geführt. Als erster deutscher Bundespräsident war ich eingeladen, vor der Knesset, dem israelischen Parlament, zu sprechen. Diese Einladung - und dass ich dort auf deutsch gesprochen habe - hat gezeigt, dass wirklich Versöhnung möglich ist.
Der Friede auf Erden hängt nicht nur vom friedlichen Miteinander der verschiedenen Völker und Staaten ab. In der globalisierten Welt wird in mehr und mehr Staaten das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft zu einem innenpolitischen Thema erster Ordnung.
Wir in Deutschland haben in diesem Jahr - als einen Beitrag zur besseren Integration - das Staatsbürgerschaftsrecht grundlegend reformiert. Inzwischen gibt es ungezählte Initiativen, die sich zum Ziel gesetzt haben, das Zusammenleben zu verbessern, um die Angst voreinander zu nehmen und um spürbar zu machen, dass alle, die in einem Land zusammenleben, auch zusammengehören und aufeinander angewiesen sind.
Wir müssen und wollen friedlich miteinander leben. Dafür brauchen wir guten Willen. Illusionen aber führen zu nichts: Es ist oft nicht leicht, miteinander auszukommen, wenn wir uns in Sprache und Herkunft, in Religion und Kultur fremd sind. Manche fühlen sich überfordert, manche haben Angst, manche haben vielleicht auch schlechte Erfahrungen gemacht - Deutsche wie Ausländer. Solche Sorgen und Schwierigkeiten darf man nicht beiseite schieben. Wir müssen darüber reden und dann handeln. Nur so können wir Fremdheit überwinden und die Probleme lösen.
Ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam erfolgreich sein werden. Die ganz große Mehrheit der Deutschen ist nicht fremdenfeindlich und sie ist auch nicht bereit, Fremdenfeindlichkeit zu dulden.
Wir müssen noch mehr als bisher aufeinander zugehen. Ich nenne zwei kleine Beispiele:
Ich habe vor einigen Tagen den Unterricht an einer Hauptschule in München besucht. Eine Klasse bestand komplett aus Schülern nichtdeutscher Herkunft. Alle sprachen gut deutsch. Das spricht für die Jugendlichen und ihre Bereitschaft, heimisch zu werden, das spricht aber auch für das Engagement der deutschen Lehrer.
Dann war ich vor kurzem in einer Grundschule im Berliner Wedding. Dort lernen Mütter aus der Türkei und aus dem Libanon deutsch - in derselben Schule, in die ihre Kinder gehen. Manche der Mütter leben schon mehr als zwanzig Jahre in Deutschland, ohne deutsch zu sprechen. Jetzt haben sie den richtigen Schritt gemacht. Das ist möglich, weil es engagierte Kursleiterinnen gibt - und weil die nötigen Mittel und Räume zur Verfügung stehen. Ich wünsche mir überall in Deutschland ähnliches Engagement - von beiden Seiten.
Sie kennen aus Ihrer eigenen Situation gewiss manche Probleme, die das Leben in einer anderen Kultur mit sich bringt. Sie werden es zu schätzen wissen, wenn man als Ausländer nicht ausgegrenzt wird, wenn man die Möglichkeit hat, teilzunehmen am gesellschaftlichen Leben. Ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie gute Erfahrungen machen und so aufgenommen werden, wie Sie es sich wünschen.
Wahrscheinlich ist auch bei Ihnen im letzten Jahr über Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit in Deutschland berichtet worden. Ich will diese Phänomene nicht verharmlosen. Darum habe ich am 9. November gemeinsam mit mehr als 200.000 Mitbürgerinnen und Mitbürgern an einer Kundgebung am Brandenburger Tor teilgenommen, um ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu setzen. Die kleine, teils verbohrte, teils hirnlose Minderheit von Rassisten und Gewalttätern darf das Bild Deutschlands in der Welt nicht bestimmen.
Deutschland ist ein weltoffenes Land, ein freies Land, ein Land, in dem man gerne und gut leben kann. Es gibt vieles, für das wir dankbar sein können, manches, auf das wir stolz sein dürfen:
Wir leben in einer offenen und freien Gesellschaft, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst ist.
In unserem Grundgesetz sind wichtige Wertentscheidungen getroffen, die die Basis unseres Zusammenlebens ausmachen.
Wir haben eine lebendige Demokratie, die ihre Stärken gerade darin zeigt, dass sie mit schwierigen Situationen fertig wird.
Das sollte - unter allen anderen Nachrichten - nicht in Vergessenheit geraten.
Ich darf Sie, die Sie für viele auch eine Art Botschafter Deutschlands sind, bitten, wo es geht, einem falschen Bild Deutschlands entgegenzuwirken.
Ihnen, Ihren Familien und Freunden, wo immer in der Welt Sie jetzt sind, wünschen meine Frau und ich ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest und ein gutes, ein glückliches Neues Jahr.