Meine Damen und Herren,
I.
Schon bald nach der Gründung hat Bundespräsident Theodor Heuss die Schirmherrschaft über den Deutschen Sportbund übernommen. Damit hat er von Anfang an deutlich gemacht, welch hohe gesellschaftliche und auch politische Bedeutung der Sport hat.
Heute wird gerne betont, der Sport sei unpolitisch. Jeder weiß aber, dass das nicht stimmt.
Ob es
v um Stadionneubauten geht,
v um öffentliche Sportförderung,
v um Fernseh-Übertragungsrechte,
v um die Austragungsorte großer Meisterschaften,
v um Sponsoring,
v um Doping:
Immer ist der Sport nicht nur für sich genommen wichtig, sondern auch ein Faktor von großer gesellschaftlicher und politischer Bedeutung, von seiner Funktion als Wirtschaftsfaktor ganz zu schweigen.
II.
An einem kleinen Beispiel lässt sich illustrieren, für wie wichtig der Sport vom Staat gehalten wird.
Dazu eine Frage: Was, glauben Sie, ist der Beitrag des Bundespräsidenten zum Sport, den fast jedes Kind kennt?
Nun, ich will das schnell auflösen: auf der sogenannten Ehrenurkunde, die Schülerinnen und Schüler für besonders gute Leistungen bei den Bundesjugendspielen bekommen, steht die Unterschrift des Bundespräsidenten. Nur auf den Ehrenurkunden, nicht auf den Siegerurkunden, die man schon mit weniger Punkten bekommt.
Und ich finde, es ist mehr als eine Anekdote am Rande, wenn ein Staat für gute sportliche Leistungen in der Schule eine Urkunde mit der Signatur des Staatsoberhauptes herausgibt.
Weder eine eins in Englisch noch eine in Musik wird mit einer solchen Urkunde belohnt, auch nicht der Sieg in anderen Bundeswettbewerben wie "Jugend forscht" oder "Jugend musiziert".
Das zeigt: Sport gehört wie weniges sonst zur deutschen Kultur.
Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang von einer beeindruckenden Dokumentation der fast unglaublichen Präsenz des Sports erzählen.
Im Gasometer in Oberhausen wurde in diesem Jahr die große Ausstellung über die Geschichte des Fußballs gezeigt. Da konnte man in der unteren Etage auf großen weißen Plakatwänden die Fußballergebnisse eines einzigen Spieltages in Deutschland studieren. Es waren die Ergebnisse aller Ligen, von den Kleinsten bis zu den Senioren, von Männern und Frauen.
Das waren an diesem einen Spieltag, und da habe ich wirklich gestaunt, knapp 35.000 Ergebnisse von 35.000 Spielen. Wenn für jede Mannschaft 11 Spieler gespielt haben, sind das 770.000 aktive Spieler. Dazu kommen 35.000 Schiedsrichter, dazu Linienrichter, Trainer, Zeugwarte. In den Kinder- und Jugendligen darf man auch die Eltern nicht vergessen, die auf vielerlei Art beteiligt und engagiert sind. Also eine riesige Zahl aktiver Fußballer und Fußballfreunde, sicher mehr als eine Million. Von den Zuschauern einmal ganz zu schweigen.
Und das ist jetzt nur eine einzige Sportart. An jenem Wochenende im Jahre 1999 haben aber gewiss hunderttausend andere Wettbewerbe, Turniere, Liga- und Pokalspiele stattgefunden. Niemand kennt ihre Zahl.
Wenn man sich das einmal konkret vor Augen führt, dann wird deutlich, warum man den Sport zu Recht als größte Volksbewegung in Deutschland bezeichnen kann - im doppelten Sinn des Wortes.
III.
Sport gehört aber nicht nur für die zum Alltag, die ihn aktiv betreiben, oder für die vielen tausend ehrenamtlichen Helfer, Mitarbeiterinnen und Funktionsträger in den Vereinen und Verbänden.
"Sportlichkeit" gilt in unserer Gesellschaft als hoher Wert. Allerdings ist hier oft in erster Linie ein sogenanntes sportliches Aussehen gemeint. Sportliche Körper, sportliche Kleidung bestimmen nicht nur die Werbung. Längst schon ist Sportkleidung auch im Alltag bei immer mehr Gelegenheiten und Anlässen als Mode präsent - wenn auch nicht immer passend.
Die großen Marken der Sportartikelhersteller versuchen, sich selber einen Kult-Status zu geben, dem auch quasi-religiöse Formen nicht fremd sind. Die Entscheidung für eine Sportmarke scheint manchmal vergleichbar mit der Wahl einer Konfession. Große Eröffnungsfeiern, aber auch schon fast jedes Bundesliga-Spiel erwecken den Eindruck, als kehre der Sport zu seinen kultischen Wurzeln zurück - nun aber selber als Welt-Religion.
Sport kann wirklich etwas Wunderbares sein. Wir sollten aber nie vergessen, dass er für die Beteiligten ein Wettkampf, ein Erproben der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten ist und für die Zuschauer eineUnterhaltungs- und keineHeilsveranstaltung.
Am Anfang der Sportbewegung steht nicht der Kult, nicht die Ästhetik, erst recht nicht die sportliche Mode, sondern ein bestimmtes Verständnis von Sportlichkeit.
v Dazu gehören fair play und Mannschaftsgeist,
v dazu gehören die eigene Anstrengung und die Anerkennung der Leistung anderer,
v dazu gehören auch das Gewinnenwollen und das Verlierenkönnen,
v die Anerkennung von klaren Regeln,
v die Freude am Spiel und die Bescheidenheit beim Sieg.
All das ist es, was man "sportlich" nennt.
Es gibt eine ganze Ethik, die man aus solch echtem Sportsgeist entwickeln könnte. Albert Camus, der als Torwart aktiv war, hat gewiss nicht nur im Spaß gesagt: "Alles, was ich von Ethik und Verantwortung weiß, habe ich beim Fußball gelernt."
Ich frage mich manchmal, ob man das auch heute noch sagen kann. Ich frage mich, ob im Sport selber noch jene Sportlichkeit zu finden ist, die ich gerade skizziert habe.
Es mangelt nicht an Leistung, nicht an Rekorden, nicht an Medaillen. Aber wir brauchen auch Vorbilder an Fairness und Teamgeist. Vorbilder, die nicht nur das neueste Outfit präsentieren, sondern auch zeigen, dass Sport eine Sache der Persönlichkeitsbildung, des Charakters, eine Frage der inneren Einstellung ist. Auch wenn Millionen Menschen in Deutschland in Sportvereinen Sport treiben, so wird das Bild des Sports und des Sportlers doch ganz weitgehend von wenigen großen Stars geprägt - auf dem Umweg über die Medien.
IV.
Sport ist das Medienereignis Nummer eins. Für nichts müssen die Sender soviel Geld bezahlen, aber auch mit kaum etwas anderem lässt sich so viel Quote machen. Nichts eignet sich für eine Live-Übertragung besser als ein Sportereignis: Einerseits weiß der Zuschauer eines Fußballspiels, eines Boxkampfes oder eines Tennismatches, was auf ihn zukommt und er kann sich darauf freuen, andererseits weiß niemand, wie es ausgeht. Wenn es Zuschauersport nicht schon lange gäbe, spätestens für das Fernsehen hätte er erfunden werden müssen.
Natürlich weiß ich, dass es nur ein kleiner Teil der Sportarten schafft, zum großen Medienereignis zu werden. Viele Sportarten, in denen große Leistungen gelingen, finden in den Medien nur am Rande statt.
Aber sie verdienen Beachtung: Nicht nur als Anerkennung der Leistungen, sondern auch als Unterstützung und Werbung. Zumindest das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat in meinen Augen die Pflicht und die Chance, hier wenigstens für etwas weniger Einseitigkeit zu sorgen.
Sport und Medien: Das ist ein faszinierendes Kapitel der Unterhaltungsindustrie geworden - mit weitreichenden Folgen und Gefahren: Die Unterwerfung des Sports unter die Gesetze der Medien und die unauflösliche Verbindung zwischen Sport und Geschäft.
Wo so viel Geld auf dem Spiel steht, da ist die Gefahr groß, dass das Geld letztlich auch bestimmt, wie es im Sport zugeht.
v Mediengerechte Regeländerungen,
v die Wahl von Austragungsorten und Austragungszeiten,
v sponsorengerechte Darstellung,
v die Ausreizung der sogenannten menschlichen Potentiale bis an die äußersten Grenzen:
All das sind Erscheinungen, die mich fragen lassen, ob das Medienereignis Sport eigentlich immer noch Sport ist, also fairer Wettkampf zwischen Sportlern, nach transparenten Regeln und unter gleichen Bedingungen für alle, bei dem der bessere gewinnen soll.
Wir können nicht auf der einen Seite entschieden gegen Doping eintreten, so richtig und wichtig das ist, und auf der anderen Seite nur noch die mediengerechte Höchstleistung mit öffentlicher Beachtung und mit Geld belohnen. Wer den sauberen Sport will, der muss auch den ehrlichen Sport wollen, der muss sich und andere daran erinnern, was "Sportlichkeit" im umfassenden Sinne meint.
Es gibt Zyniker, die sagen, der Sport sei eben ein Spiegel der Gesellschaft und darum könne er nicht besser sein als sie. Am Anfang der Sport- und auch der Turnbewegung steht aber ein ethischer Impuls: tatsächlich mehr zu sein als nur ein Spiegel der Gesellschaft. Sich körperlich und charakterlich zu trainieren, um ein besserer Mensch zu werden. Das sollte nicht vergessen werden.
V.
Ich habe bis jetzt vom Spitzensport gesprochen, denn der begegnet uns in den Medien. Bei aller Kritik an Fehlentwicklungen und Auswüchsen der Kommerzialisierung, sage ich: Ich bin für Spitzensport - und wir sollen Spitzensport fördern. Einmal, damit sich Talente entfalten können. Dann aber auch, weil Spitzensportler Jugendliche und Kinder animieren können, es ihnen nachzumachen und auch Sport zu treiben. Ohne Boris Becker und Steffi Graf kein Tennis-Boom in Deutschland, ohne Jan Ullrich und Erik Zabel nicht die große Begeisterung fürs Radfahren.
Und schließlich: Wir alle freuen uns doch daran, gute und hervorragende Leistungen, eben Spitzensport zu sehen. Und auch wenn wir jedem Nationalismus abgeschworen haben: Wir freuen uns eben doch, wenn ein Landsmann im Wimbledon-Finale steht, wenn eine Deutsche eine Goldmedaille gewinnt oder wenn "unsere" Mannschaft den Weg zur Weltmeisterschaft findet. Das macht uns froh, ein bisschen stolz, und das ist auch ganz in Ordnung so.
VI.
Das klare Ja zur Förderung des Spitzensports ist für mich unauflöslich verbunden mit dem Klaren Ja zur Förderung des Breitensports.
Ohne Breitensport kein Spitzensport, das ist gewiss ein einfacher und ein einleuchtender Grund.
Aber es geht noch um etwas anderes: die vielen Hunderttausende, die Sport treiben wollen, die Freude haben am Verein, die den Ausgleich suchen zu ihrer Arbeit, die sich fit halten wollen: Sie alle verdienen Förderung.
Auch im Sport fängt alles im Jugendbereich an. Ich danke den vielen tausend ehrenamtlichen Trainern und den Verantwortlichen in den Vereinen.
Ich danke den Müttern und Vätern, die ihre Kinder zum Training oder zum Wettbewerb fahren, die ihre Trikots waschen, die im Verein die Feste mitorganisieren, die Kuchen backen, Brötchen schmieren, hinter dem Getränkeausschank stehen und die sich mit ihren Kindern freuen oder mit ihnen leiden.
Das ehrenamtliche Engagement ist und bleibt die Seele des Sports, nicht nur im Kinder- und Jugendbereich. Viele werden gebraucht, damit Vereine überhaupt funktionieren können. Viele können durch ehrenamtliches Engagement auch Achtung und Anerkennung gewinnen.
Im Sportverein können - nicht nur junge - Menschen Fairness, Toleranz, Hilfsbereitschaft und Teamfähigkeit lernen. Hier kommen Menschen ganz unterschiedlicher Milieus und Berufe zusammen. Hier entstehen Begegnungen und Gespräche. Hier entstehen soziale Netze, die für dasWachsen der Bürgergesellschaftvon großer Bedeutung sind.
VII.
Nicht alle Kinder und Jugendlichen finden den Weg in den Sportverein, obwohl immer noch gilt, dass Sport im Verein am schönsten ist.
Weil aber nicht alle in einen Verein gehen und weil auch die Möglichkeiten, sich zu bewegen oder einfach irgendwo zu bolzen vor allem in den Städten immer geringer werden, gerade darum hat der Sportunterricht an den Schulen so große Bedeutung.
Man sollte denken, jeder Mensch könne von Natur aus zumindest laufen, springen oder einen Ball werfen. Das ist aber leider nicht so. Die Lebensweise unserer Kinder verbindet aber manchmal.
Schon länger machen Mediziner und Sportlehrer darauf aufmerksam, dass vielen Kindern und Jugendlichen elementare motorische Fähigkeiten fehlen, dass sie zum Teil nicht einmal richtig laufen und werfen können.
Und andersherum: Vielen Kindern gelingt es vor lauter Zappeligkeit nicht, eine normale Schulstunde ruhig durchzuhalten. Bewegung und körperliche Anstrengung können uns helfen, uns besser zu konzentrieren - und vor allem auch gesünder zu leben. Hier geht es um die Gesundheit jedes einzelnen jungen Menschen. Man darf aber auch ruhig darauf aufmerksam machen, was ungesunde Lebensweise und Bewegungsmangel unsere Gesellschaft kostet.
Der Sportunterricht darf ruhig hohe Ansprüche stellen. Er soll die Talentierten entdecken und fördern und möglichst auch Brücken zu den Vereinen bauen. Er sollte aber auch die Leistungsschwächeren und weniger Begabten fördern, ihre Entwicklung belohnen und sie nicht an absoluten Standards messen. Nur dann können Selbstwertgefühl und Freude am Sport wachsen.
Der Sportunterricht gehört zur ganzheitlichen Bildung. Er gehört aber auch zur Gesundheitsförderung und zur Prävention.
Der Sportunterricht darf an unseren Schulen schon deshalb nicht fehlen. Wer sagt: Schulen ans Netz, der muss auch sagen: Schüler auf den Sportplatz oder in die Halle oder ins Schwimmbad. Das Klicken mit der Maustaste stärkt vielleicht die Muskulatur des rechten Zeigefingers, wird aber auf absehbare Zeit keine olympische Disziplin werden.
VIII.
Dass Sport eine Sache für alle ist, das sehen wir vielleicht am deutlichsten im Behindertensport. Ich finde es gut und bin sehr dankbar dafür, dass über die Paralympics inzwischen in den Medien viel ausführlicher berichtet wird als früher. Das kann viele Behinderte ermutigen, selber Sport zu treiben. Wo wir können, sollten wir alles tun, um auch ihnen sportliche Betätigung nach ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten möglich zu machen.
IX.
Ja, Sport soll eine Sache für alle sein. Alle müssen die Möglichkeit haben, sich sportlich zu betätigen. Vor allem im Kinder- und Jugendbereich müssen staatliches und privates Engagement zusammenkommen.
Vielleicht darf ich zum Schluss einen Wunsch äußern: Könnte es nicht vielleicht ein wenig mehr Solidarität geben zwischen den Spitzenverdienern mit Millionengehältern und den Vereinen, die immense Umsätze machen, auf der einen Seite und den vielen kleinen Vereinen und Initiativen, denen es oft am Nötigsten fehlt, auf der anderen?
Ich glaube, an solcher Solidarität könnte sich zeigen, dass Begriffe wie "Sportlichkeit" oder "Sportsgeist" auch heute noch eine wirkliche Bedeutung für unsere gesamte Gesellschaft haben.