I
"O werthe Druckerkunst/ die Gottes Gütt' erwecket" - so hat ein Breslauer Prediger und Professor im Jahre 1640 in einem Gedicht die Erfindung des Buchdrucks gepriesen.
Wie er haben viele Menschen gedacht - und denken so bis heute: Es gibt wohl keine andere technische Erfindung, die so nachhaltig gefeiert worden ist, und es gibt wohl keinen anderen Erfinder, der so sehr verehrt worden ist wie Johannes Gutenberg: Ihm zu Ehren wurden Feste gefeiert, Umzüge veranstaltet, Feuerwerke abgebrannt und Denkmäler gebaut.
Für die Buchdrucker ist er wie ein Zunftheiliger. Auch der Titel der heutigen Konferenz über das Lesen im digitalen Zeitalter ist ja eine Verbeugung vor Gutenberg: Wenn die digitale, die "zweite" Medienrevolution, zu "Gutenbergs Folgen" gezählt wird, dann sehen die Veranstalter dieser Konferenz das digitale Zeitalter offenbar nicht als das Ende, sondern als Weiterentwicklung des Zeitalters des Buchdrucks. Für diese Sicht der Dinge gibt es gute Gründe.
II
Heute wie damals sind Technik und Kultur nicht voneinander zu trennen: Wie Gutenbergs Erfindung revolutioniert auch die digitale Technik nicht allein die Herstellung von Texten und Bildern. Sie revolutioniert auch die Verbreitung von Wissen und, was noch wichtiger ist, die Verbreitung von Ideen. Der Buchdruck war die Grundlage für die moderne Massenkommunikation: für den Austausch von Informationen und von Ideen über die bestehende und über die wünschenswerte Ordnung der kleinen und der großen Welt der Menschen. Die Digitalisierung vervielfacht und beschleunigt die technischen Möglichkeiten, und trägt - richtig eingesetzt - dazu bei, dass mehr Menschen als je zuvor am weltweit verfügbaren Wissen teilhaben und am Austausch von Ideen teilnehmen können.
Die meisten Menschen wissen heutzutage, wie sehr der Buchdruck gesellschaftliche Veränderungen angestoßen und beschleunigt hat. Denken Sie an die Ausbreitung der Reformation zunächst in Deutschland und dann in anderen europäischen Ländern. Denken Sie an die Französische Revolution und auch an die vielen weniger dramatischen Veränderungsprozesse, die in die demokratischen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts mündeten.
Unsere insgesamt positive Bewertung der ersten Medienrevolution rührt nicht zuletzt daher - das sollten wir nicht vergessen -, dass wir auf sie als Teil unserer Vorgeschichte zurückblicken. Bei den Menschen, die ihre Anfänge erlebten, haben die neuen technischen Möglichkeiten auch Ängste und Unruhe ausgelöst.
III
Über die Bedeutung der heutigen "zweiten" Medienrevolution, die wir erst in ihren Anfängen erleben, wird heftig gestritten. Manche sehen sie als Beginn einer neuen Etappe auf dem Weg, möglichst vielen Menschen Zugang zu verschaffen zu den Bibliotheken und Museen, zu den Archiven und sogar zu den Straßen und Plätzen der Städte und Länder dieser Welt - wenn auch nur im virtuellen Raum. Das könnte - so wird argumentiert - der Beginn einer weltumspannenden sozialen Demokratie sein. In diesem Sinne wäre die zweite Medienrevolution die Fortsetzung der ersten mit verbesserten technischen Mitteln.
Sie könnte jedoch auch, sagen andere, das Gegenteil der ersten Medienrevolution produzieren: den Beginn einer weltumspannenden Diktatur. Diese Skeptiker verweisen vor allem auf die neuen Überwachungsmöglichkeiten von Internetnutzern. Häufig wird Orwells "1984" beschworen. Andere Kritiker verweisen auf die Verbreitung von "Hass im Internet", auf die Verbreitung von Pornografie und die Förderung von Voyeurismus. Wieder andere verweisen auf die sozialen Kosten der neuen Kommunikationstechnologien: auf den Verlust von Arbeitsplätzen in vielen Bereichen, auf die Ausgrenzung derjenigen, die die neuen Medientechnologien nicht beherrschen oder die aus finanziellen Gründen keinen Zugang dazu haben.
Wir sollten diese Befürchtungen ernst nehmen; denn eines haben uns die vergangenen Jahrhunderte, ganz besonders das 20. Jahrhundert, ganz deutlich gezeigt: Technologischer und kultureller Fortschritt gehen nicht automatisch Hand in Hand. Gegenwärtig scheint zum Beispiel in unserem Land, aber nicht nur in unserem Land, parallel zum Siegeszug der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auch der Analphabetismus mit all seinen Folgen zu wachsen. Dafür sind nicht die neuen Medientechnologien verantwortlich. Ihre Existenz allein schützt aber wahrlich noch nicht vor solchen Entwicklungen.
IV
Wenn wir darüber nachdenken, wie wir die Welt gestalten wollen; wie wir sie menschengerecht gestalten wollen zum Wohle aller, dann brauchen wir das Wissen und die Fähigkeit, die nötig sind, um die Chancen der neuen technischen Möglichkeiten auch wirklich zu nutzen. Damit meine ich nicht allein die nötige technische Kompetenz, sondern auch das nötige Verantwortungsbewusstsein. Erinnern wir uns: Gutenbergs Erfindung, der Buchdruck, führte dazu, dass der Zugang zum Wissen über die Welt und zu den Vorstellungen von der Welt nicht mehr das Privileg der gehobenen Stände war - bei Hof, in den Klöstern und Universitäten und in den Städten. Die technische Herstellung und Vervielfältigung von Texten und auch von Bildern waren dafür eine wichtige, wenn auch nicht die alleinige Voraussetzung. Eine andere Voraussetzung dafür war, dass immer mehr Menschen Lesen und Schreiben, diese grundlegenden Kulturtechniken, gelernt haben. Lesen und Schreiben bleiben, wie die "Stiftung Lesen" immer wieder zu Recht betont, auch im digitalen Zeitalter die Basis für Medienkompetenz. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Bilder zu deuten. Wie es um die Medienkompetenz gegenwärtig bestellt ist, damit beschäftigen Sie sich bei diesem Kongress.
Der Erfolg des Buchdrucks war auch deshalb so gewaltig, weil es Menschen gab, die die neuen technischen Möglichkeiten als Chance für gesellschaftliche Veränderungen und Verbesserungen sahen. Luther und später die Enzyklopädisten zum Beispiel waren nicht nur von der allgemeinen Bildungsfähigkeit des Menschen überzeugt, sondern für sie war der Zugang zum gesamten verfügbaren Wissen ein Recht aller Menschen. Hier gingen technischer Fortschritt und sozialer Fortschritt Hand in Hand.
V
Was heute zur technischen und zur ethischen Medienkompetenz gehört, das ist Gegenstand einer facettenreichen Debatte. Diese Debatte wird nach meinem Geschmack noch zu wenig außerhalb der fachlich besonders interessierten Kreise geführt. Wir brauchen eine breite Öffentlichkeit für diese Fragen: Dazu gehören die Debatten über die Vor- und Nachteile von Zugangsbeschränkungen zum Internet; dazu gehören die Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Bild und Text; dazu gehören auch die Diskussionen über die Veränderung unserer Sprache durch die neuen Medientechniken.
Das ist mir besonders wichtig. Wenn wir über die Zukunft des Lesens nachdenken, dann geht es nicht nur um die Frage, ob wir Texte auf Papier gedruckt oder am Bildschirm lesen. Es darf auch nicht allein darum gehen, welche Art von Texten wir lesen oder wie wir den Analphabetismus bekämpfen. All das ist wichtig. Wir müssen uns aber auch mit der Frage beschäftigen, wie es um die Sprache bestellt ist, die wir lesen, schreiben und sprechen; denn wir alle nehmen die Welt in und durch Sprache wahr, und nur so können wir sie gestalten.
Ich bekomme immer wieder Briefe von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die sich Sorgen darüber machen, ob unsere deutsche Sprache nicht immer mehr verdrängt werde: verdrängt durch das Englische - oder besser: Amerikanische - das mit dem Internet endgültig die vorherrschende neue globale Kommunikationssprache werde; verdrängt auch dadurch, dass so viele Amerikanismen in die deutsche Sprache eindrängen, dass nicht nur ihr Wortschatz, sondern auch ihr Satzbau verändert werde.
Solche Sorgen pauschal als "Deutschtümelei" abzutun, halte ich für falsch. Gewiss stecken hinter manchen Argumenten nationalistische Einstellungen. Wer sich zum Beispiel darauf beruft, dass Deutsch zu den erhaltenswerten "Kultursprachen" Europas oder der Welt gehöre, der muss sich fragen lassen, welche Sprache seiner Auffassung nach keine Kultursprache und daher nicht erhaltenswert sei. Wer hingegen darauf aufmerksam macht, dass weltweit jährlich viele Sprachen aussterben, und wer danach fragt, ob dieser Prozess nicht durch die zweite Medienrevolution beschleunigt werde, der stellt eine wichtige Frage.
VI
Keine Sprache ist ein geschlossenes System. Sprachen sind lebendig. Sie wachsen und sie verändern sich im Laufe der Zeit, so wie sich die historischen und gesellschaftlichen Verhältnisse verändern. Jede und jeder von uns könnte dafür viele Beispiele nennen. Es hat sehr lange gedauert, bis Deutsch sich als Hochsprache entwickelt und durchgesetzt hat. Es hat sehr lange gedauert, bis die gehobenen Stände bei Hof darauf verzichteten, Französisch zu sprechen. Es hat sehr lange gedauert, bis die europäische Wissenschaft Latein als Wissenschaftssprache aufgegeben hat und Deutsch sich zur Wissenschaftssprache entwickelt hat. Der große Jacob Grimm musste seine Antrittsvorlesung in Göttingen noch auf Latein halten. Das war im Jahre 1830.
Es hat sehr lange gedauert, bis es in Deutschland eine Hochsprache gegeben hat, in der sich die verschiedenen Dialektgruppen verständigen konnten. Auch dazu hat die erste Medienrevolution einen entscheidenden Beitrag geleistet: Luthers Bibel war das erste in der Hochsprache gedruckte Buch, das massenhafte Verbreitung fand. Bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein war Deutsch in der internationalen Wissenschaft eine der wichtigsten Sprachen. Von diesem Platz ist es seitdem verdrängt worden, und viele deutsche Wissenschaftler veröffentlichen inzwischen ihre Beiträge auf Amerikanisch.
Die Durchsetzung des Englischen oder des Amerikanischen als weltweit akzeptierte Wissenschaftssprache mag in den experimentellen Wissenschaften keine so wichtige Rolle spielen. Überall dort aber, wo es um Vorstellungen und Theorien über den Menschen geht und über die Welt, in der er lebt - ob in den Sozialwissenschaften und in den Sprachwissenschaften, aber auch in der Evolutionstheorie bis hin zu den sogenannten Lebenswissenschaften - überall dort ist die Vielfalt von Sprachen, in denen gedacht, nachgedacht und gesprochen wird, von großer Bedeutung; denn jede Sprache sieht die Welt ein Stück anders. Das wissen nicht nur Literaturübersetzer, die versuchen, Gedichte aus der Sprach- und Bilderwelt einer Sprache und Sprachgemeinschaft in die Sprach- und Bilderwelt einer anderen zu übertragen. Darum verlieren wir mit jeder Sprache, die ausstirbt, auch einen besonderen Blick auf die Welt und damit auch ein Stück Welt. Mit jeder Sprache, die wir zusätzlich erwerben, gewinnen wir dagegen, wie ein slowakisches Sprichwort sagt, "ein Stück Seele".
Das gilt nicht nur für die Inhalte, die gesagt und geschrieben werden. Das gilt auch für die Gefühlswelten, die wir durch den Klang der Sprache erfahren. Assia Djebar, die algerische Schriftstellerin, die in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen hat, hat daran in ihrer Rede in der Paulskirche erinnert. Sie spricht das Berberisch ihrer Kindheit kaum. Dennoch ist für sie der gemurmelte Klang dieser Sprache die Quelle, aus der sie immer wieder die Kraft geschöpft hat, Nein zu sagen, Nein zu sagen zu unterschiedlichen Formen der Unterdrückung. Das Berberische ist die Quelle der Kraft, die es ihr möglich macht, auf Französisch, in der Sprache der ehemaligen Kolonialmacht, die Geschichte der Unterdrückung Algeriens zu schreiben. Es ist die Quelle der Kraft, die es ihr möglich macht, auch die Geschichte der Unterdrückung der Frauen im muslimischen Algerien zu schreiben.
VII
Kulturelle Vielfalt bereichert unsere Welt. Dazu gehört auch die sprachliche Vielfalt. Wenn wir andere Kulturen verstehen wollen, müssen wir zumindest eine Ahnung von deren Sprache haben. Wenn wir unsere eigene Kultur schätzen, muss man das auch daran ablesen können, wie wir mit unserer eigenen Sprache umgehen. Die wird gegenwärtig in vielen Bereichen eher lieblos behandelt. Der Gebrauch von Amerikanisch oder besser: Amerikanismen in den Medien und in der Werbung hat in den vergangenen Jahren noch einmal stark zugenommen. Manchmal ist das witzig. Oft ist es albern und häufig dumm. Wir verwenden sogar Wörter und Wendungen wie "Handy" oder "Protected Drive", die die Amerikaner nicht verstehen, weil es sie im Amerikanischen nicht gibt. Das ist eine ziemlich eigenartige Form von Kosmopolitismus, die den wenigsten von uns bewusst zu sein scheint.
Es wäre natürlich unsinnig, Begriffe, für die es keine treffende deutsche Entsprechung gibt oder die sich so durchgesetzt haben wie "Hobby" oder "Team", gewaltsam durch deutsche Begriffe zu ersetzen. Und niemand will ernsthaft einen "Big Mac" in "doppeltes belegtes Brötchen" umbenennen. Warum aber Schreibwarengeschäfte "Mc Paper" heißen, warum Schlussverkauf und Ausverkauf in vielen Geschäften nur noch "Sale" genannt werden, und warum ein Informationsstand der Deutschen Bahn "Service Point" heißen muss, das leuchtet mir nicht ein.
Der inflationäre Gebrauch von Amerikanismen in der Werbung und in den Medien, aber auch in den Veröffentlichungen vieler Unternehmen und Behörden, soll Fortschrittlichkeit und Modernität signalisieren. Tatsächlich aber ist er oft ein Hinweis auf die Verarmung der Ausdrucksfähigkeit in der eigenen Sprache. Tatsächlich grenzt er all diejenigen aus, die Englisch und Amerikanisch nicht verstehen: viele Ältere, viele Jugendliche, die nicht die entsprechende Schulbildung haben, viele Menschen aus den neuen Ländern und, das sollten wir auch nicht vergessen, viele der in unserem Land lebenden Ausländer. Wenn diese Ausgrenzung eine der Botschaften des gegenwärtigen Sprachgebrauchs ist, dann geht es um einen gesellschaftlichen Fortschritt, der nicht für alle ist und der deswegen in meinen Augen kein wirklicher Fortschritt ist.
Nicht nur der Gebrauch von amerikanischen Versatzstücken in unserer Sprache gibt jedoch zu Besorgnis Anlass. Mir fällt auf, dass die Wörter zunehmen, die der Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen als "Plastikwörter" bezeichnet hat. Das sind Wörter, die als neutrale "wissenschaftliche" Begriffe daher kommen und ihre Herkunft aus bestimmten Gedankengebäuden oder politischen Programmen verdecken; Wörter, die eine Diskussion über die in ihnen enthaltenen Zielvorstellungen verhindern sollen; Wörter, die mit ganz unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden können; Wörter, die uns vorgaukeln, es gebe nur einen Weg in die Zukunft, einen Weg ohne Alternative; Wörter, die das Nachdenken erschweren, statt es zu fördern. "Entwicklung" und "Globalisierung", "Projekt" und "Effizienz" sind solche Wörter. "Wissensgesellschaft" - die Veranstalter mögen mir diesen Hinweis verzeihen - auch.
Ich wünsche mir, dass wir die Möglichkeiten der zweiten Medienrevolution dazu nutzen, die Sprachenvielfalt und die Eigenheit jeder Sprache zu erhalten und uns nicht in Richtung Einheitssprache oder Einheitsjargon abdrängen zu lassen. Ich bin sehr dafür, dass alle in Deutschland andere Sprachen lernen, aber die deutsche Sprache bitte auch. Es liegt an uns, ob wir die zweite Medienrevolution in diesem Sinne nutzen und dafür sorgen, dass sie tatsächlich im positiven Sinne zu "Gutenbergs Folgen" wird und, in den Worten des eingangs zitierten Predigers, zu einem Geschenk Gottes.