Auf mittelalterlichen Bildern von der Geburt Jesu in Bethlehem ist der Heilige Joseph oft nur eine Randfigur – er steht, ganz buchstäblich, am Rande der Szene, wie unbeteiligt. Sogar die Hirten, ja sogar Ochs und Esel sind näher am Zentrum des Geschehens. Sie rahmen aktiv die Geburtsszene ein, während Joseph mit einem gewissen Abstand eher wie ein Zeuge dasteht.
Und ich habe so das Gefühl, dass das heute auch meine Rolle ist, weil ich ja als Ihr Präsident zu Ihnen spreche. Denn das eigentliche Geschehen, das sich hier abspielt, ist eines, das die beiden Kirchen unter sich auszumachen haben. Es sind die Kirchen, es ist nicht der Staat, die hier die aktive Rolle spielen. Sie sind es, die hier so etwas wie eine schwere Geburt vollbringen, wobei der zuschauende Josef heute geneigt ist, auch von einem Wunder zu sprechen, dass es überhaupt so weit gekommen ist.
Wer die Geschichte der getrennten Kirchen in den letzten 500 Jahren einigermaßen im Kopf hat, der kommt nicht umhin, im heutigen Ereignis zumindest ein Zusammenspiel menschlicher Anstrengung, menschlichen guten Willens auf der einen und gnädiger Hilfe auf der anderen Seite zu entdecken.
Als Staatsoberhaupt bin ich nicht der oberste Ökumenebeauftragte und erst recht kein Ökumenebestimmer. Davor würde ich mich auch fürchten. Aber da das Verhältnis der Kirchen untereinander, das für Jahrhunderte vor allem eines gegeneinander war, bei uns in Deutschland direkt und indirekt auch das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft tief geprägt hat, kann sich der Bundespräsident darüber nur von Herzen freuen. Und ich freue mich besonders, dass ich als Zeuge erleben darf, wie Versöhnung, Verständigung und Frieden eben nicht nur gewollt werden, sondern tatsächlich wachsen konnten.
Wie haben die Kriege, die aus der Feindschaft der Konfessionen erwuchsen, unser Land verwüstet! Wie hat die Feindschaft derer, die alle an denselben Erlöser glaubten, die Seelen verwüstet. Wieviel Leid ist bis vor wenigen Jahrzehnten sogar noch in Familien getragen worden, wenn über christliche Konfessionsgrenzen hinweg geliebt und geheiratet werden sollte! Wieviel üble Nachrede und böse Vorurteile, wieviel Gemeinheiten und, ja, wie man heute sagen würde: Hasspredigten hat es in alten Zeiten gegeben! Einige von Ihnen, die Sie in der Nähe meines Alters sind, können diese Sprüche alle noch aufsagen. Aber wir haben sie weggesperrt, einige haben sie sogar vergessen, weil so viele neue gute Texte und Worte übereinander an die Stelle dieser alten sogenannten Gewissheit getreten sind.
Ja, wir erleben Veränderung, und viele von den Jüngeren, meine Kinder und meine Enkelkinder, die können das gar nicht mehr verstehen, worüber ich eben gesprochen habe. Unsere Kirchen sind also weite Wege aufeinander zugegangen, und deshalb empfinde ich große Dankbarkeit.
Der Prozess, der zu diesem heutigen Ereignis geführt hat, hat eines deutlich gezeigt: Versöhnung meint nicht die Wiederherstellung irgendeines vermeintlichen Urzustandes. Wir haben vielmehr gesehen: Es gibt kein zurück. Versöhnung gibt es nur mit dem Blick nach vorne, ohne das Vergangene zu vergessen, aber auch ohne das Vergangene übermächtig bestimmend sein zu lassen. Wenn wir den Weg der Versöhnung gehen, dann bedeutet das: Wir sind keine Gefangenen unserer Geschichte, sondern wir sind – belehrt durch frühere Fehler wie durch früher schon Gelungenes – unterwegs in eine gute Zukunft.
Wenn ich jetzt also ganz kurz meine Zeugenrolle verlassen und als evangelischer Christ sprechen darf, dann möchte ich sagen: Trotz all dem, was schon erreicht ist, gerade mit dem heutigen Tag und mit der Intensität der Gefühle des heutigen Tages, das eigentliche ökumenische Wagnis echter Gemeinsamkeit, das steht unseren Kirchen noch bevor. Ich bin der Überzeugung, dass wir dieses Wagnis aus der Kraft des Geistes eingehen können. Eine Zukunft wird unser christlicher Glaube in unserem Land am ehesten als ein ökumenisches Christentum haben – in welcher Gestalt und mit welchen Profilen und mit welchen unterschiedlichen Prägungen auch immer, das wird sich zeigen.
Aber von hier und heute geht doch ein sehr hoffnungsvolles Signal aus. Und für die Nicht-Christen im Land wie für die Christen sollten wir uns eins klar machen, gerade die, die älter sind wissen es zutiefst aus eigener Lebenserfahrung: Dieses Land hat wahrlich glaubenslose Systeme gehabt. Aber die haben dieses Land nie besser gemacht. Sie haben nie mehr Menschlichkeit, nie mehr Gerechtigkeit, nie mehr Weisheit und nie mehr Nächstenliebe erzeugen können. Deshalb ist dieser christliche Glaube auch nicht nur für die Christen gut, sondern für unser ganzes Land für alle Menschen, die hier leben. Wir alle, alle Bürgerinnen und Bürger, haben etwas davon, wenn sich die Christen ihre Rolle bewusst machen und das, was sie heute miteinander bekräftigt haben, glaubwürdig vorlegen. Voller Freude stehe ich hier, als Zeuge, als Begleiter und als Beteiligter, und ich danke Ihnen und danke Gott, dass es soweit gekommen ist.
Und Sie, meine Damen und Herren, Sie sind die Träger der Gedanken, über die ich eben gesprochen hatte. Die Zukunft, die werden Sie machen.
Ich danke Ihnen.