Zunächst möchte ich Ihnen, Herr Ellenberger, herzlich gratulieren, zur Ernennung zum Vizepräsidenten des Bundesgerichtshofs am vergangenen Freitag. Ich denke mir, dass sich viele freuen, weil das wichtige Amt zuvor fast eineinhalb Jahren vakant war. Ich freue mich nun, dass es zu einer würdigen Besetzung gekommen ist, und ich wünsche Ihnen viel Erfolg im neuen Amt.
Es hat sich sicher auch schon zu Ihnen herumgesprochen, warum ich so ein glühender Anhänger des Rechtsstaates bin. Ich habe ihn fünfzig Jahre meines Lebens entbehrt. Und auch deshalb komme ich gerne in diese Hauptstadt des Rechts
. Das Bundesverfassungsgericht residiert hier – ich habe es bereits besucht -, ebenso der Bundesgerichtshof und der Generalbundesanwalt, bei dem ich heute Nachmittag zu Gast sein werde. Bereits zu Beginn meiner Amtszeit habe ich mir vorgenommen, sämtliche oberste Bundesgerichte zu besuchen.
Ich habe dort sehr viel Neues erfahren über die spezifischen Probleme der Justiz, der Fachjustiz, dem Flüchtlingsrecht, die Arbeitsbelastung der Juristen, der Gerichte und der Justizverwaltungen. Mit dem Besuch bei Ihnen nun – sozusagen der Spitze der ordentlichen Gerichtsbarkeit – finden meine Gerichtsbesuche eine Art krönenden Abschluss.
Es liegt mir besonders am Herzen, einen unmittelbaren Eindruck Ihrer Arbeit zu gewinnen – auch, weil ich nur zu gut weiß, wie bedeutsam rechtsstaatliche Strukturen und unabhängige Gerichte sind. Und das hat mit meiner Biographie zu tun. Natürlich, aus dem Erleben eines diktatorischen und rechtsfernen Alltags heraus wird man in einer besonderen Weise ein Jünger des Rechtsstaates.
In den Systemen, die wir als Diktatur bezeichnen, gab es natürlich auch Rechtspflege. Sie nannten das jedenfalls so. Und beklagenswerter Weise gab es auch im Dritten Reich bedeutende Juristen, die von ihrem ganzen Sachverstand und ihrem überragenden Intellekt nicht gehindert wurden, dem Führer ihren Dienst zu tun. Ich brauche gar keine Namen zu nennen, denn Sie sind rechtsgeschichtlich bewandert, sodass Ihnen diese Namen vor Augen stehen. Bei den Älteren mag es sogar so gewesen sein, dass einige dieser Juristen in ihrer akademischen Jugend noch eine Rolle spielten.
Wenn wir diese Zeiten anschauen: Natürlich gab es irgendwie immer auch Recht, aber es war eben beschädigtes, benutztes, vernutztes Recht. Wenn ich an die DDR-Zeit denke, da gab es nur wenige Grundrechte, kaum staatliche Garantien und kein Verfassungsgericht, das dem Bürger die ihm von der Verfassung zugesprochenen Rechte auch tatsächlich zuerkannt hätte – übrigens natürlich auch keine Verwaltungsgerichte.
Ein Eingabewesen wie früher, als man noch beim Fürsten um gnädige Nachsicht bitten durfte – so war der Alltag. Irgendwie hatte man sich daran gewöhnt, und dann in diesen Zeiten auf das Recht nicht mehr so viel gesetzt. Die Vertreter des Rechts hatten kein hohes Ansehen. Normale Leute kannten kaum Vertreter des Rechts – Richter- und Anwaltschaft waren durchsetzt, und es ist eine große Entfremdung entstanden.
Die Waffe der Unterdrückten ist in solchen Zeiten weniger das Recht, weil es von oben als Teil des Machtapparates umdefiniert ist, sondern es ist die Moral der Unterdrückten. Wenn diese Unterdrückten dann tatsächlich ihre Unterdrücker loswerden, dann hat ihre Moral gesiegt. Aber ihr Verständnis des Rechtssystems ist damit nicht automatisch geboren. Sie misstrauen ihm sogar, weil sie mit diesem Recht eine Entfremdungserfahrung gehabt haben. Deshalb ist es so, dass in vielen Transformationsgesellschaften – eben auch im Osten Deutschlands – ein Gewöhnungsprozess an die Herrschaft des Rechts stattfinden muss. Und alles, was mit Mentalität zusammenhängt, braucht sehr lange, um verinnerlicht zu sein. Dieser Prozess ist in weiten Teilen Europas immer noch nicht abgeschlossen. Das ist deshalb so eigenartig, weil sich in der Diktatur so viele nach Recht sehnen – nach Recht und Gerechtigkeit.
Manchmal ist ihnen gar nicht im Bewusstsein, wie schmerzhaft es war, dass eine unabhängige Rechtsprechung fehlte oder dass es so etwas wie rechtliches Gehör nicht gab. Auch deswegen bin ich ein solcher Liebhaber der vielfältigen Gebäude des Rechts geworden. Und zudem weiß ich, wie elementar die Aufgabe der rechtsetzenden und rechtschaffenden Institutionen für unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben ist.
Ich habe große Hochachtung und großen Respekt vor Ihrer Arbeit. Und ich will Sie mit meinem Besuch nachdrücklich in Ihrem Tun bestärken. Ich bin auch dankbar für die Leidenschaft, die Sie aufbringen, für Ihr Engagement und für Ihr Einfühlungsvermögen – Sie erfüllen damit Aufgaben für alle Bürgerinnen und Bürger. Mir ist bewusst, dass das Gebäude des Rechts immer ein wachsendes ist und ein sich veränderndes. Manches mag statisch wirken und auch sein. Aber wie wir alle in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, gibt es neue Rechtsgebiete, die wir rechtlich gestalten müssen, die auch zu Rechtskonflikten führen. Und es gibt auch im Zivil- und im Strafrecht neue Entwicklungen, die uns auf neue innovative Wege führen. Das sind Herausforderungen, die wir annehmen müssen und die Sie annehmen.
In vielen Staaten, selbst hier in Europa, ist die Justiz ja auch neu in Bedrängnis geraten. Wir sehen, dass die Errungenschaften einer unabhängigen Justiz, die allein dem Recht verpflichtet ist und keiner Staatsführung, auch keiner Ideologie oder Idee, heute nicht mehr überall als unverzichtbar angesehen werden. Damit wird aber – auch wenn das noch nicht gleich evident ist – der Rechtsstaat grundsätzlich infrage gestellt und damit ein Grundwert unserer westlichen Zivilisation, eine unverzichtbare kulturelle Errungenschaft. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind eben ohne unabhängige Justiz nicht vorstellbar.
Wenn ich jetzt ein bisschen an den Rand unserer Europäischen Union schaue und etwa in der Türkei sehe, wie tausende Richter und Staatsanwälte von einem auf den anderen Tag ihres Amtes enthoben, suspendiert oder sogar verhaftet werden können, dann kann einen das natürlich nur mit Sorge erfüllen.
Und wenn wir dann in anderen Ländern auch Tendenzen zur Einschränkung der Rechtsstaatlichkeit verzeichnen, vielleicht sogar auch in dem einen oder anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, dann frage ich mich: Ist schon vergessen, wie es etwa in Mittelosteuropa bis 1989 war, als die Macht das Recht und die Gerichte kontrollierte?
Der Blick in die Geschichte unseres Landes und auf die Situation der Justiz in etlichen anderen Ländern jedenfalls zeigt mir heute eine Gerichtsbarkeit, die diese Bezeichnung verdient. Sie ist ein kostbares Gut. Mit meinem Besuch hier beim Bundesgerichtshof möchte ich die gesamte Zivil- und Strafgerichtsbarkeit würdigen. Richterinnen und Richter genauso wie die Kolleginnen und Kollegen des nichtrichterlichen Justizdienstes – hier in Karlsruhe, aber ebenso an den Oberlandes-, Land- und Amtsgerichten! Und besonders erwähnen möchte ich auch die vielen ehrenamtlichen Richterinnen und Richter – sie alle leisten herausragend wichtige Aufgaben für unsere Gesellschaft, sie alle sind am Gelingen des Ganzen beteiligt. Hierzu zählen auch diejenigen, die als wissenschaftliche Mitarbeiter wichtige Vorarbeiten für die zu fällenden Entscheidungen leisten, diejenigen, die in der Verwaltung arbeiten, und schließlich auch diejenigen, die sich um die Gebäude und die Liegenschaft kümmern, die für Transport und Sicherheit zuständig sind. Sie alle besuche ich heute, meine Damen und Herren.
Mein Besuch ist ein Arbeitsbesuch, deshalb will ich die Rede nicht noch weiter verlängern. Vielmehr suche ich die Gelegenheit, auch mit einigen von Ihnen ins Gespräch zu kommen. Ich freue mich auf den Gedankenaustausch, und ich danke Ihnen für Ihren freundlichen Empfang.