Welch eine Freude, im schönen Galway zu sein. Ich weiß, dass diese Stadt vielen als die irischste
von allen gilt, da man auf ihren Straßen die irische Sprache so häufig hört wie kaum anderswo. Wenn ich in Europa reise, fällt mir immer wieder auf, welch ungeheurer Schatz die kulturelle Vielgestaltigkeit unseres Kontinents ist. Galway – und mit ihm seine Universität – ist ein wunderbares Beispiel für die Vielfalt Europas. Aus diesem Reichtum schöpft Europa auch seine Kraft.
Eine andere Kraftquelle sind die Werte, die wir auf unserem Kontinent und ganz gewiss innerhalb der Europäischen Union teilen: Es ist vor allem die Achtung vor dem Individuum und seinen Rechten. Nur wenn Menschen mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, können sie ihre ganze kreative Kraft entfalten. Wie passend also, dass Sie sich hier an der National University of Ireland, Galway, gerade auch der Forschung zu den Menschenrechten widmen. Das ist wertvoll, und es verdient große Anerkennung. Und es freut mich, als europäischer Bürger und als Präsident der Bundesrepublik Deutschland.
Menschenrechte
und Europa
– damit bin ich schon mitten in meiner Rede. Doch bevor ich allzu tief in mein heutiges Thema gerate, möchte ich doch zunächst ein Wort an Sie richten, Herr Universitätspräsident. Ich bin dankbar, sehr dankbar dafür, dass Sie mir heute so eine großzügige Würdigung zuteil werden lassen. Sie erweisen mir damit eine große Ehre!
Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Ost-West-Konflikts hegten wir in Europa einen Traum – den Traum vom Kontinent der freien und gleichen Demokratien. Und wir begannen, diese politische Vision Realität werden zu lassen. So unterzeichneten die Teilnehmerstaaten der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – darunter die Sowjetunion – im November 1990 die Charta von Paris für ein neues Europa
. Sie bekannten sich zu dem Ziel, die Demokratie als einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken
und damit ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit
zu begründen.
Dieses Ziel streben die Regierungen Europas noch immer an. Doch die einstige Hoffnung, dass sich die liberale, westliche Idee von der freiheitlichen Demokratie an immer mehr Orten der Welt durchsetzen würde, sie hat sich nicht erfüllt oder sie hat sich noch nicht erfüllt. Noch vor ein paar Jahren blickten wir Europäer hoffnungsvoll übers Mittelmeer nach Süden, wo sich ein arabischer Frühling
zu entfalten und neue Demokratien hervorzubringen schien. Doch – wir haben es alle gesehen – statt Wohlstand und Demokratie prägen heute Krisen und Instabilität diese südliche Nachbarschaft der Europäischen Union. Leider gilt dasselbe für die östliche Peripherie der Union. Weltweit ist die Akzeptanz der Demokratie als Regierungsform so niedrig wie nie seit 1989.
Wie ist das geschehen?
Wir wissen, dass die internationale Ordnung, die sich nach 1990 herausgebildet hatte, unter Druck geraten ist. Diese Tendenz war schon länger zu beobachten und sie hat sich zuletzt leider weiter verstärkt. Doch es ist etwas Neues hinzugekommen, ein Phänomen, das für mich zu den wichtigsten Erscheinungsformen der Krisen gehört, die uns erfasst haben: Es haben sich jene Regierungsmodelle gefestigt, die ohne allzu viel Demokratie auskommen. Die Autokratien, die lange Zeit in der Defensive waren, bewerben nun nach innen ganz offensiv ihre eigenen Stärken. Mal ist es ein Effizienzversprechen, das sie attraktiv erscheinen lassen mag, mal sind es patriotische Gefühle, die befriedigt werden. Und mit diesen scheinbaren Erfolgen wächst das Selbstbewusstsein dieser Widersacher der liberalen Demokratie. Sie greifen die angebliche Doppelmoral
des Westens an, der nach Einhaltung von Menschenrechten rufe und doch nur seine eigenen Interessen im Sinn habe. Was sie alle vereint, ist: Sie sind Gegenbilder zu einer Vision, die einst in Paris Gestalt annahm.
Bisweilen trifft sogar in europäischen Ländern mancher Gedanke und mancher Gestus aus diesen Gegenwelten auf Sympathie. Oftmals ist es nur die Entschiedenheit der neuen Autoritären, die beeindruckt. Manchmal gefallen sie, weil sie der Sehnsucht nach nationaler Autonomie Raum zu schaffen scheinen. Zweifellos sind es auch antiwestliche Reflexe, die sich in diesen Sympathien spiegeln.
Es ist mancherorts geradezu beliebt geworden, ein verzerrtes Bild der Europäischen Union zu zeichnen: Intransparent, ungerecht, undemokratisch – kurz: es entsteht das Feindbild Brüssel
.
Ausdruck dieser Skepsis sind die Erfolge populistischer Kräfte am linken wie am rechten Rand des politischen Spektrums übrigens in zahlreichen Ländern Europas. Selbst in den wohlhabenderen und als sehr offen geltenden Gesellschaften innerhalb der Union steigt der Einfluss solcher Strömungen und Parteien. Und dieser Befund erscheint besonders bedenklich, wenn wir uns vergegenwärtigen, von welchem Kontinent eigentlich die Rede ist: Fünfzehn der zwanzig friedlichsten Länder der Welt liegen heute in Europa – das hat gerade der aktuelle Welt-Friedens-Index ergeben. Das ehemalige Schlachthaus Europa
mit seiner langen Geschichte verheerender Kriege ist zu einem Ort des Friedens, der Freiheit und der Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen Bürgers geworden. Die Europäische Union steht – und dies verbindet sie mit ihren transatlantischen Partnern – auf einer festen Wertebasis. Und diese Werte heißen: unveräußerliche Menschenrechte und Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung, repräsentative Demokratie und Volkssouveränität.
Blicken wir zurück: Es waren existenzielle Momente und Erfahrungen voller Gewalt, Schmerz und Leid, die der Gründung der Europäischen Gemeinschaft vorausgingen. Die Gründer dieser Union waren Pioniere. Sie brachten Europa auf einen Weg, der keine historischen Vorbilder kennt.
Für diese Menschheitsleistung erhielt die Europäische Union 2012 den Friedensnobelpreis. Ja, unsere Union hat Frieden geschaffen. Sie hat Dialog und Versöhnung ermöglicht – nicht zuletzt auch hier zwischen Irland und Großbritannien. Und sie fußt darauf, dass es Demokratien sind, die sich in freier Selbstbestimmung zusammenfinden im europäischen Verbund. Das Nobelkomitee machte uns allen mit seiner Entscheidung nochmals bewusst, dass die europäische Integration gerade deshalb zur Erfolgsgeschichte wurde, weil sie Wege fand, alte Feindschaften zu überwinden und ein Konzept der Kooperation und Solidarität zu entwickeln.
Wir tun deshalb gut daran, auch in der gegenwärtigen Krise eine klare Sprache zu finden und gleichzeitig die Solidarität zu bewahren: Wir dürfen die Beschreibung der Herausforderungen nicht jenen überlassen, die eine Rückkehr zu einer Politik der nationalen Egoismen anstelle von Ausgleich und Zusammenarbeit innerhalb Europas anstreben. Und wir müssen die anspruchsvollen Lösungen, die aus diesem Geist der Kooperation hervorgehen, den einfachen Rezepten der Populisten selbstbewusst entgegenstellen. Wir sollten auch die ermutigenden Zeichen und die Erfolge betonen: Viele wichtige Reformen sind eingeleitet.
Ihre Freiheit mag vielen Europäern inzwischen zur Gewohnheit geworden sein – doch nichts hat sich daran geändert, dass es in aller Welt Menschen gibt, die nach eben dieser Freiheit streben, weil sie ihnen vorenthalten bleibt. Die Freiheit hat es zunehmend schwer, Jahr für Jahr und in den meisten Regionen der Welt – das dürfen wir niemals vergessen. Doch die Sehnsucht nach Demokratie und Freiheit ist zutiefst menschlich, und auch deshalb ist sie universell. Und deshalb lässt sich diese Sehnsucht nicht dauerhaft stillen, indem individuelle Freiheitsrechte durch materielle Güter oder sozialen Status ersetzt werden.
Allein schon dieser Blick von außen macht deutlich, was wir an der Europäischen Union haben.
Die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte
, wie sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 festschreibt, gehört zu den Lehren aus den grausamen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges.
Die Menschenrechte sind nicht verhandelbar, auch wenn wir wissen, dass der Weg zu ihrer globalen Beachtung weit ist, ja, dass sie in vielen Teilen der Welt nur auf dem Papier stehen. Aber die europäische – besonders die deutsche – Geschichte legt eine klare Schlussfolgerung nahe: Menschenrechte dürfen keinen machtpolitischen Interessen geopfert werden und auch nicht dem Anspruch auf eine angebliche kulturelle Besonderheit. Udo di Fabio, ein deutscher ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, spricht vom Denken und zugleich von der Würde eines jeden Menschen als angeborenem Gattungsmerkmal
, und zwar vor jeder Staatlichkeit, vor jeder politischen Gemeinschaft.
Menschenrechte brauchen aber Menschen, die sie mit Leben füllen. Menschenrechte brauchen Menschen, die sie verteidigen. Menschenrechte brauchen Staaten, die auf ihnen gründen. Menschenrechte dürfen keine Lippenbekenntnisse sein, wie ich es in der untergegangenen DDR erlebt habe und von anderen totalitären oder autoritären Staaten weiß. Weil ich weiß, was ich lange vermisst habe, sage ich heute: Der Einsatz für die unveräußerlichen Menschenrechte muss uns Europäern eines unserer höchsten Ziele bleiben. Wo heute nationalistische Überlegenheitsgefühle auf dem Vormarsch sind, wo sich heute in Europa Antisemitismus oder Islamophobie oder sonstige Fremdenfeindlichkeit zeigen, dort sind wir alle im Namen der unveräußerlichen Rechte des Einzelnen gefordert.
Was wir heute die europäische Wertegemeinschaft nennen, das ist über eine lange, lange Zeit gewachsen. Dabei haben auch die Iren eine wichtige Rolle gespielt: Wissen und Bildungsgut aus der Antike fanden durch die iroschottischen Mönche ihren Weg hinüber in das Mittelalter und auf das europäische Festland – wir wollen das nicht vergessen, gerade an diesem historischen Ort. Die Wanderung der irischen Mönche, schreibt der deutsche Mediävist Arno Borst, schloss den Kontinent Europa zum ersten Mal seit der Völkerwanderung zu einer geistlichen Einheit zusammen.
Reformation und Aufklärung, Renaissance und Humanismus, die republikanischen Ideen der Revolutionen von 1789 und 1848 – all dies ist ein gemeinsames europäisches Erbe, aus dem sich schließlich das Bekenntnis zu den unveräußerlichen Menschenrechten geformt hat. Das ist der Kern unserer Zusammengehörigkeit. Je fester dieser innere Zusammenhalt Europas ist, desto überzeugender und stärker kann Europa für Menschenrechte und Demokratie in der Welt eintreten und werben.
Wie glaubwürdig die Europäische Union in Fragen der Menschenrechte ist, das hängt in der aktuellen Situation davon ab, wie wir in Europa mit jenen Menschen umgehen, die bei uns Zuflucht suchen. Nicht vergessen wollen wir dabei, dass einst zahlreiche Iren wie auch unzählige Deutsche die Reise über den Atlantik wagten, um Not und Unfreiheit in ihrer Heimat zu entkommen oder um überhaupt ein neues Leben beginnen zu können. Eigentlich ist es in die Geschichte unserer Länder eingegraben, dass wir Verständnis für die Fliehenden haben sollten.
Für unsere Länder sind Menschenrechtsfragen unverzichtbare Leitlinien der Außenpolitik. Erstmals hat Deutschland – im Jahr des 70. Geburtstages der Vereinten Nationen – den Vorsitz im VN-Menschenrechtsrat inne. Derzeit gehört auch Irland dem Rat an und arbeitet dort – wie Deutschland – daran, die Zivilgesellschaft weltweit zu stärken. Einen verlässlicheren Partner in der Menschenrechtspolitik als Irland könnten wir Deutschen und wir Europäer uns wohl kaum wünschen.
Schon in der irischen Verfassung von 1937 werden umfangreiche Fundamental Rights betont. Der irischen Regierung ist der Schutz von Menschenrechtsverteidigern ein besonderes Anliegen.
Ich bin vielen dieser außergewöhnlichen, dieser engagierten Menschen begegnet, und so ist es mir ein ehrliches Bedürfnis zu sagen: Wer sich friedlich für die Förderung von Menschenrechten einsetzt, der hat unseren Schutz, den Schutz der Europäer verdient.
Menschenrechten und Menschenrechtsverteidigern in der Welt beizustehen, das wird für uns alle eine Herausforderung bleiben. An dieser Aufgabe wollen wir gemeinsam weiter wachsen, statt an ihr zu zweifeln.
Die höchste Auszeichnung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurde inspiriert von den Versen eines großen irischen Dichters – Seamus Heaneys From the Republic of Conscience
. Diese Republik des Gewissens beschrieb Heaney als stillen und kargen Ort, wo Menschen in sich gehen, sich selbst prüfen und einen beständigen Auftrag erhalten. Dieses Vermächtnis möchte ich an den Schluss des heutigen Bekenntnisses stellen. Zu Botschaftern des Gewissens und der Aufrichtigkeit können Menschen auf allen Erdteilen werden, ja wir alle können es sein, wenn wir es uns nur zutrauen und unsere eigene Sprache finden. Das wünsche ich mir, zum Wohle unserer Länder, unserer Union und unserer Rechte als Menschen.