Rausfahren, wenn andere reinkommen.
Der Leitspruch der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger sagt eigentlich schon alles. An der deutschen Nord- und Ostseeküste sind Menschen gerade dann im Einsatz, wenn andere Schutz suchen. Seit 150 Jahren fahren die Rettungsmannschaften hinaus, um auf See Schiffbrüchige zu bergen. Der Einsatz ist selbstlos, und er ist oft gefährlich. Diesem Engagement verdanken mehr als 81.000 Schiffbrüchige ihr Leben. Allein im vergangenen Jahr haben Sie, liebe Retter, fast 800 Menschen aus Gefahren auf See befreit. Dafür danke ich Ihnen von Herzen. Ihre Hingabe und Ihre Leistung, das wollen wir heute feiern!
Ein Jubiläum festlich zu begehen, bedeutet ja nicht, aktuelles Unglück zu vergessen oder gar zu verdrängen. Schiffbruch und Seenot haben für uns im politischen Raum bedrückende Aktualität. Wir sehen erschütternde Bilder von Flüchtlingen, die in seeuntauglichen Booten auf dem Weg zu uns nach Europa sind. Viele Männer, Frauen und Kinder haben die gefahrvollen Überfahrten nicht überlebt. Dieses große Drama hat – völlig zu Recht – eine Diskussion darüber ausgelöst, wie das massenhafte Sterben im Mittelmeer am besten zu beenden ist. Und es zeigt uns auch auf ganz elementare Weise, wie wichtig und wie lebensnotwendig eine funktionierende und ambitionierte Seenotrettung ist. Ich wollte dieses Jubiläum nicht vergehen lassen, ohne auf diesen Aspekt einmal hinzuweisen. Das soll meine Dankbarkeit Ihnen und Ihren Vorgängern gegenüber aber in keiner Weise schmälern. Wir machen uns bewusst, dass es für die Aufgabe der Seenotrettung vieles braucht: aktive Menschen, aber auch Kreuzer, Boote, nautischen Sachverstand, Entschlossenheit, Mut, wenn der Funkspruch eingeht: S – O – S.
Die Flotte der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger zählt zu den modernsten und leistungsfähigsten der Welt. Und das Fachwissen der Deutschen Gesellschaft wird auch im Ausland geschätzt. So waren Vertreter der Deutschen Gesellschaft kürzlich in Genf, um die Internationale Organisation für Migration
wegen der Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer zu beraten.
In der Not kommt es darauf an, zusammenzustehen und Kräfte zu bündeln. Und wer wüsste dies nun besser als Sie, die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Sie tragen diese Idee des Zusammenhalts mit. Es ist nicht nur Fachkompetenz und der erwähnte Mut, den Sie einbringen, sondern es ist eine Grundidee des Gemeinwesens, die Sie verkörpern. Es ist mir deshalb eine große Freude, liebe Retter, Helfer und Förderer, heute das 150. Jubiläum gemeinsam mit Ihnen zu feiern, wie es mir natürlich selbstverständlich immer eine Freude ist, nach Bremen zu kommen, Herr Bürgermeister. Und warum ist das so, warum feiere ich gerne mit Ihnen, Sie haben es schon gehört eben in der Andeutung des Herrn Bürgermeister. Ich komme ja selbst von der Küste, von der Ostseeküste. Mein Vater war Kapitän. Die See, ihre Schönheit, aber auch ihre Gefahren – mit den Erzählungen und Erlebnissen davon bin ich aufgewachsen. Meine ersten fünf Lebensjahre habe ich unmittelbar an der See, in Wustrow, verbracht, auf dem Fischland, wo heute das Seenotrettungsboot Barsch
liegt; ich komme da im Sommer gelegentlich vorbei. Die Barsch
erinnert alle, die dort leben – und im Übrigen auch diejenigen, die dort Urlaub machen – daran, dass wir immer mal wieder im Leben begleitet sind und begleitet sein müssen von mutigen Menschen, denen die Sicherheit von bedrohten Menschen am Herzen liegt. Und: Wind und Wellen haben uns Küstenbewohner von Kindesbeinen an Ehrfurcht vor den Elementen gelehrt und Hochachtung für die mutigen Seenotretter.
Die Männer und Frauen der Rettungsflotte, sie leisten Großartiges! Katastrophenhilfe draußen auf der See bleibt ja riskant trotz moderner Ausrüstung und Technik. Denn Wind und Wellen sind oft unberechenbar. Zur Gefahr kommt die Bürde der Verantwortung. Die Schiffbrüchigen sind ganz auf die Hilfe ihrer Retter angewiesen. Die meisten Seenotretter tragen diese Verantwortung ehrenamtlich. Meine Hochachtung! Sie können es sich ja eigentlich zu Hause gemütlich machen, auf dem Sofa oder im Garten und mit Freunden die Freizeit genießen. Aber stattdessen ziehen Sie die Rettungsweste über und fahren raus, wenn andere in Not sind. Das nenne ich Mitmenschlichkeit.
Ihnen allen, natürlich auch den Hauptamtlichen, danke ich von Herzen für diesen Einsatz.
Genauso danke ich den Hunderten von Helfern, die die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger an Land unterstützen. Sie opfern ihre Zeit, um die Arbeit des Seenotrettungsdienstes bekannter zu machen und für Spenden und Partnerschaften zu werben. Ich freue mich, wenn ich höre, dass manche Familien die Seenotretter schon seit Generationen unterstützen – wenn der Urgroßvater selbst bei Rettungseinsätzen dabei war und später die Großmutter den Enkeln Münzen für die rot-weißen Sammelschiffchen gab. Die bekannten Spendendosen begegnen uns ja an den verschiedensten Orten, hier im Bremer Rathaus, wie ich mit Freude vernommen habe, aber eben auch in Gaststätten, in Vereinsheimen oder beim Friseur, am Arbeitsplatz. Das Ziel ist stets das gleiche: die große Sache Seenotrettung mit vielen kleinen Beiträgen zu fördern.
Die guten Taten retten die Welt
, schreibt der norwegische Dichter und Literaturnobelpreisträger Bjørnstjerne Bjørnson. Gute Taten geschehen jedoch nur, wenn sich auch tatkräftige Menschen für diese guten Taten finden. Wie die Seenotretter Schiffbrüchigen ihre Hände entgegen strecken, so brauchen wir überall in unserer Gesellschaft Männer und Frauen, die sich engagieren. Sehr viele sind es schon, aber ich wünschte, es wären mehr, noch mehr, die dem Beispiel der Seenotretter folgen. Wer hilft, statt wegzuschauen, übernimmt Verantwortung für seine Mitmenschen und letztlich auch für die Werte, die uns miteinander verbinden. Und deshalb freue ich mich immer wieder, wenn wir beim Blick in die Geschichte feststellen, dass einzelne Menschen, bevor amtliche Instanzen oder gar Regierungen auf die großen sozialen Ideen kommen, dass einzelne Menschen, Familien und Freundeskreise, Gemeinden anfangen, Mitmenschlichkeit zu organisieren. Und zwar bevor es einen Auftrag gibt. Es ist fast so wie bei der Entstehung der Demokratie: Bevor es die Demokratie als Staatsform gibt, gibt es einzelne Demokraten, die der Idee der Freiheit und Selbstbestimmtheit, der gleichen Rechte und der gleichen Würde der Menschen in ihrem privaten Raum erstmal eine Heimstadt geben. Und dann erweitert sich das Ganze in der Geschichte der demokratischen Staaten zur Verfestigung ganzer demokratischer, freiheitlicher Systeme. So ähnlich ist es auch mit dem Gedanken der Solidarität. Man kann den Solidaritätsgedanken staatlich gestalten, und unser Staat tut das auch. Aber bevor das geschieht, sind da Menschen, individuelle Träger solidarischer Gefühle, des tiefen Wissens darum, dass wir scheitern, wenn wir nicht lernen, füreinander da zu sein. Und deshalb lade ich Sie ein, die Geschichte Ihrer Vereinigung exemplarisch zu betrachten: als eine Geschichte des wachsenden solidarischen Gedankens in einer Bürgergesellschaft.
Bei der Mitmenschlichkeit ist es ja so, sie lässt sich schlecht von oben verordnen. Man kann Wohlverhalten und Rechtstreue verordnen und auch erwarten, aber wenn wir das Wort Mitmenschlichkeit benutzen, dann müssen wir etwas aus der Tiefe unserer Existenz nach vorne bringen, in den öffentlichen Raum transportieren. Und wenn wir das tun, dann wächst Mitmenschlichkeit. Dies ist eines der vielen Potenziale, die in uns ruhen und die es zu entdecken und zu entfalten gilt. Diese Gesinnung, sie soll weiter wachsen in die Gesellschaft hinein. Ich bin dankbar für die Menschen, die früh auf diese Ideen gekommen sind.
Die Gründer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger wollten das Ihrige tun, um Menschen in Not zu retten. Und sie haben ihr Maß an Mitmenschlichkeit anderen als Vorbild vorgeschlagen: Bitte folgt, helft!
Es ist schön, dass wir diesem Aufruf heute folgen können. Und die Gründer haben noch etwas getan: Sie haben Verbündete gesucht. Wenn wir eine gute Idee haben, ist das schon viel wert. Aber diese Kraft der guten Idee wird potenziert, wenn wir Verbündete für unsere guten Gedanken suchen. So entsteht Vertrauen auf Gemeinsinn und es entsteht dieses bürgerliche Verantwortungsgefühl.
Noch ein Satz zum Thema Eigenverantwortung: Nur zwei Mal im Laufe ihrer 150-jährigen Geschichte, so habe ich gelernt, sahen sich die Seenotretter gezwungen, Geld aus der Staatskasse anzunehmen, beide Male bedingt durch die Not des Krieges. Sonst waren und sind es die Menschen in unserem Land, Sie, die Bürger, die freiwillig die Suche und Rettung von Menschen in Seenot unterstützen. Sie haben es geschafft, dieses Werk der Mitmenschlichkeit aus der Bürgerschaft heraus zum Erfolg zu führen. Auch Unternehmen sind an diesem guten Werk beteiligt. Und auch das dürfen wir hier einmal sagen, dass es hierzulande eine Unternehmenskultur gibt, die vorbildlich für andere Teile der Welt ist. Das sehen wir gerade auch hier in Bremen, am Sitz der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Also allen Förderern und Freunden der Seenotretter danke ich herzlich für ihre Großzügigkeit Und meine Bitte ist, helfen Sie auch weiterhin, denn mit dem zunehmenden Schiffsverkehr auf Nord- und Ostsee wachsen ja auch die Herausforderungen für den Such- und den Rettungsdienst.
Heute Nachmittag tauft Daniela Schadt auf dem Bremer Marktplatz ein neues Seenotrettungsboot – ich darf noch nicht sagen, auf welchen Namen. Auch dieses leistungsstarke Boot haben wir den Spendern zu verdanken. Den Namen des Täuflings, ich wiederhole es, sage ich in dieser Rede nicht. Aber über die Herkunft des Rettungsbootes darf ich sprechen. Es war nämlich eine Werft aus meiner Heimat, aus Mecklenburg-Vorpommern, ich bin ja Rostocker, und in meiner Heimatstadt Rostock ist das neue Rettungsboot gebaut worden. Eingesetzt wird es demnächst an der Rettungsstation in Neustadt in Schleswig-Holstein. Diese Beziehung zwischen Ost und West mag uns heute daran erinnern, wie vor über zwei Jahrzehnten die Seenotretter in Ost und West sich sofort nach der Wiedervereinigung unseres Landes zusammengeschlossen haben.
Die gemeinsame Mission, Menschen aus Gefahren der See zu retten, diese Mission schweißt zusammen. Und das Schiff und die Seefahrt prägen ja auch unsere Alltagssprache in vieler Hinsicht: ein Beispiel dafür ist das mächtige Kirchenschiff. Es bietet der Gemeinde Raum und Sicherheit; oder das Narrenschiff, ein Mikrokosmos der menschlichen Torheit; oder das Staatsschiff, das seit der Antike für den Zusammenhalt und die Einheit des Gemeinwesens steht. Geht es um die Kunst der Staatsführung, wird bekanntlich gerne auf die Kunst des Steuermannes, auf die Verantwortung des Kapitäns oder die Erfahrung des Lotsen verwiesen. Und wenn wir dann in der Zeitung lesen, ein Politiker, ein Unternehmer oder ein Theaterdirektor habe Schiffbruch erlitten
, dann wissen wir sogleich: Dieser Mensch ist gescheitert. Mehr noch, der Schiffsuntergang ist zum Symbol für das Scheitern einer ganzen Gesellschaft avanciert, ja, einer ganzen Epoche. So wurde der Untergang der Titanic
zum Mythos der Moderne.
Es gab jedoch Zeiten, in denen man Schiffsuntergängen durchaus Sinn und Nutzen abgewann. Jedenfalls die an den Küsten wohnenden armen Menschen knüpften lange Zeit durchaus materielle Hoffnungen an das Unglück Schiffbrüchiger, auch bei uns an der Nord- und Ostseeküste. Ich habe ja früher als Pastor gearbeitet, und in den alten Zeiten, lange vor meiner Pastorenzeit, haben die Pastoren in manchem Ort an der See für einen gesegneten Strand
gebetet, also dafür, dass den Küstenbewohnern die Ladung aus einer Schiffskatastrophe beschert werden möge. Denn damals, in jenen Zeiten der Armut, war es den Küsten- und Inselbewohnern erlaubt, alles Mögliche mitzunehmen, was angespült wurde: Strandgut war eine begehrte Einnahmequelle. Tja, was sollen wir heutzutage dazu sagen? Dazu sagen wir gar nichts. Diese Zeiten haben wir glücklicherweise überwunden. Der Eigennutz ist dem wunderbaren Rettungsgedanken gewichen, den die Gründerväter der Vereinigung hatten, die wir heute feiern. Dabei denken wir an Männer wie Adolph Bermpohl und Carl Kuhlmay. Sie und viele andere Menschen waren nicht länger bereit, Schiffskatastrophen hinzunehmen wie unabwendbare Schicksalsschläge. Die Gründungsväter und ihre Mitstreiter riefen die Bevölkerung zu Spenden auf und kümmerten sich um den Aufbau von Rettungsstationen entlang unserer Küste. Plötzlich waren mutige Männer da, die sich in die tosende See hinauswagten, um Schiffbrüchige zu bergen. Diese Männer der rettenden Tat, die bewundere ich. Mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger haben sie alle ein Kapitel Zivilisationsgeschichte geschrieben, auf das wir stolz sein können.
Die noble Idee der Seenotrettung, der mutige Einsatz der Rettungsmannschaften und der Bürgersinn aller Helfer und Förderer sind nicht nur Pfeiler des Seenotrettungsdienstes, sie sind Inspiration für uns alle. Und auch das wollen wir heute in Bremen feiern!