Hinter uns liegt ein bewegtes Jahr, ja, ein dramatisches Jahr – geprägt von Kriegen und Krisen: Europa erlebte plötzlich eine gewaltsame Grenzverschiebung samt Annexion. Auf irakischem und syrischem Gebiet hat sich ein Terrorregime ausgebreitet, das sich den Mantel eines Staates überwirft und – ebenso wie Boko Haram in Afrika – im Namen der Religion Menschen versklavt, foltert und tötet. In Afrika wütet zudem die schlimmste Ebola-Epidemie, die es je gegeben hat. Und: Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht wie zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg.
Insgesamt ist die Weltordnung fragiler geworden, auch dadurch, dass die geopolitische Konkurrenz unter den Großmächten, alten wie neuen, zunimmt. Terrorszenarien und asymmetrische Kriege zwingen Staaten wie Zivilgesellschaft, ihr Engagement für das globale Gemeinwohl – für Sicherheit, Stabilität und Frieden – zu verstärken.
Aber das Drama, das sich 2014 entfaltete und sich im neuen Jahr noch einmal verschärft hat, die Wucht und die Gleichzeitigkeit der Ereignisse – das alles hat Menschen fast überall auf der Welt tief beunruhigt, auch mich, und zugleich hat es das Bewusstsein der Öffentlichkeit geschärft, dass sich gerade Grundlegendes ändern könnte.
Nehmen wir nur zwei Ereignisse aus den vergangenen Monaten, die klar machen, worum es geht, auch für uns Deutsche: Am 17. Juli vergangenen Jahres bestiegen 298 Menschen in Amsterdam ein Flugzeug. Niemand, wir wissen es alle, sollte je das Ziel erreichen. Die Nummer des über der Ostukraine abgeschossenen Flugzeugs – MH 17 – ist zur Chiffre geworden für den tragischen Tod Unschuldiger. Plötzlich erreichte die Trauer über die Opfer der militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine Familien in Asien wie in Westeuropa – in den Niederlanden und auch in Deutschland.
Und vor wenigen Wochen verübten drei Männer blutige Terroranschläge in der französischen Hauptstadt. Dieser Anschlag wirkt sich überall in Europa aus, auch bei uns in Deutschland.
Schon diese beiden furchtbaren Beispiele zeigen auf schmerzhafte Weise: Die Krisen an der Peripherie Europas und in der ganzen Welt rücken näher an uns heran – und machen viele Menschen zu Flüchtlingen, zu Betroffenen, zu Beteiligten. In einer zusammenrückenden Welt bleiben die Krisen jedenfalls nicht zwangsläufig dort, wo sie begonnen haben. Auch unser Land ist keineswegs bewahrt und geschützt vor den Verwerfungen der Zeit. Es kann sich nicht abschotten, es kann sich nicht einigeln, selbst wenn es das wollte.
Deshalb ist es gut, heute sagen zu können: Deutschland hat reagiert. Deutschland reagiert. Deutschland übernimmt Verantwortung, und zwar in unterschiedlicher Form, je nach Problem- und Interessenlage, und – natürlich – auch entsprechend seinen Möglichkeiten. In der Krise um die Ukraine engagiert sich die Bundesrepublik intensiv für eine politische Lösung – durch Verhandlungen, auch durch Wirtschaftssanktionen. Neuland betrat die deutsche Politik, indem sie Waffen an die Peschmerga lieferte, die sich im Irak gegen die selbsternannten Gotteskrieger vom Islamischen Staat wehren. Und während der Ebola-Krise baute Deutschland eine Luftbrücke auf und schaffte ein Spezialflugzeug an, damit freiwillige Helfer nun notfalls ausgeflogen werden können. Übrigens gehört zum deutschen Engagement auch jede Aktivität, die die Zivilgesellschaft in den verschiedensten Organisationen, auch in Vereinen, weltweit leistet.
Die Bundesrepublik hat im vergangenen Jahr wichtige Schritte unternommen und verstärkt mitgeholfen, das System internationaler Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten, um Menschen in Not beizustehen. Und auch in solch unsicheren Zeiten gilt: Deutschland handelt stets gemeinsam mit Partnern, mit seinen Partnern – weltweit und besonders mit anderen Ländern der Europäischen Union. Es handelt im Rahmen von Bündnissen und nach Maßgabe der Europäischen Verträge und des Völkerrechts.
Die internationale Ordnung, von der die Bundesrepublik als überdurchschnittlich globalisiertes Land bisher besonders stark profitiert hat, sie ist stärker bedroht, als wir es vor etwa 20 Jahren noch erwarten konnten und erwartet haben. Die andauernden Konflikte in der Ukraine und Syrien machen deutlich, wie schwer es der Weltgemeinschaft heute fällt, Krisen mit den vorhandenen internationalen Normen und Institutionen wirkungsvoll zu begegnen.
Aus diesen Gründen hat es im vergangenen Jahr eine so intensive Debatte über Außen- und Sicherheitspolitik in Deutschland gegeben wie wohl seit dem Zerfall Jugoslawiens nicht mehr. Es ging und geht auch darum, welche Rolle Deutschland – angesichts seiner Werte, aber auch angesichts seiner Erfahrungen, seiner Interessen und seiner internationalen Bedeutung – in der Welt spielen soll. Der offene Diskurs darüber ist eine der wesentlichen Stärken unserer freiheitlichen Gesellschaft. Deshalb freue ich mich über diese ernsthafte Debatte – jedenfalls dort, wo sie ernsthaft geführt wird.
In der weiteren Debatte sollten wir nicht übersehen: Erstens trägt auch der Verantwortung, der abseits steht. Und zweitens gibt es im Spektrum zwischen Nichtstun und dem Einsatz militärischer Mittel als ultima ratio vielfältige Formen von Engagement und Eingreifen. Dazu zählen Analysefähigkeit, Vermittlung, Verhandlung, übrigens auch Anreiz und Druck und nicht zuletzt: gezielte Friedensmissionen.
Um Menschenleben zu retten, Frieden zu bewahren oder wiederherzustellen, verfügt die Außen- und Sicherheitspolitik über eine Vielzahl von Instrumenten. Es gibt allerdings keine immer und überall gültige Anleitung zur Konfliktlösung, die wir einfach aus der Schublade ziehen könnten. Jede Situation ist für sich zu analysieren und zu bewerten. Für jede Situation gilt es nun, die jeweils passenden Instrumente zu wählen, sie zum Teil neu zu entwickeln und passende Bündnispartner zu gewinnen – auch vor Ort. Das muss eine der wichtigen Maximen kluger, angemessener und vorausschauender Politik sein.
Als im Westen verankerter Bündnispartner stehen wir auch Erwartungen gegenüber, Erwartungen, die von außen an uns herangetragen werden – unter Umständen werden wir auch an Bündnisverpflichtungen erinnert. Gerade dann ist es angezeigt, nicht nur über das zu sprechen, was wir sollen, was wir tun sollen, sondern auch über das, was wir wollen und natürlich auch darüber nachzudenken, was wir überhaupt können mit unseren Gegebenheiten und Potenzialen. Es liegt in unserer Hand, von unserer eigenen Verantwortung auszugehen und sie im festen Bekenntnis zu den universellen Werten und zum Völkerrecht zu definieren. Was möchten wir erreichen, was möchten wir beitragen? Und was können wir selbst tun, um dieser internationalen Verantwortung nachzukommen – und damit dem Auftrag gerecht zu werden, den uns ja nicht irgendjemand, sondern die Präambel unseres Grundgesetzes mitgibt: dem Frieden in der Welt zu dienen
?
Beiträge zur internationalen Sicherheit brauchen Kenntnisse und Fähigkeiten. Deutschland besitzt besondere Expertise im zivilen Krisenmanagement und hat zudem seine Anstrengungen in der Krisenprävention deutlich und kontinuierlich gesteigert. Das wird weltweit anerkannt. Und Deutschland engagiert sich auf vielfältige Weise im internationalen Krisenmanagement, sowohl bilateral als auch multilateral, durch die Vereinten Nationen und im Rahmen von EU und der OSZE sowie mit der NATO. Dieses besondere Engagement der Bundesrepublik ist jedoch in unserer Öffentlichkeit nicht immer sichtbar oder jedenfalls nicht genug sichtbar. Das ist auch verständlich: Denn die öffentlichen Debatten, die heftigeren Debatten finden immer dann statt, wenn der Bundestag ein Auslandsmandat der Bundeswehr beschließt, das erfährt dann die größere Aufmerksamkeit, weil es da eben in der Regel kontroverser zugeht, als wenn über die vielen laufenden zivilen Einsätze gesprochen wird.
Wir haben gelernt: Konfliktlösung braucht Geduld, denn es geht im Kern darum, anderen dabei zu helfen, Normen und Institutionen einer Gesellschaft wieder aufzubauen, neu aufzubauen oder fortzuentwickeln, um eine friedliche Regelung von Konflikten erst zu ermöglichen.
Stabile staatliche Strukturen sind dafür unabdingbar, aber sie existieren eben nicht überall. Schwache Staaten können gefährlichen Entwicklungen in ihrem Innern keinen Einhalt gebieten. Wir haben weltweit unzählige Beispiele dafür, was in Regionen geschieht, wo wir von Failed states
– von gescheiterten Staaten
– sprechen. Ja, dort ist eben Friedenstiften und die Beendigung von Konflikten unendlich viel schwerer als dort, wo wenigstens eine gewisse Form von Staatlichkeit existiert. Wenn wir etwa in die Zeiten des Kalten Krieges zurückschauen, dann sehen wir eine Situation, in der die Staaten sich fürchteten vor der Stärke anderer Staaten. Heute muss uns eine Erosion von Staatlichkeit besorgen, die in sehr vielen Teilen der Welt zu beobachten ist – auch dies ist eine äußerst besorgniserregende Veränderung der internationalen Ordnung. Auch Deutschland ist gefordert, diesem Trend entgegenzuwirken.
Es ist gut, dass wir zur Konfliktlösung heute über ein breites Spektrum erprobter Instrumente verfügen und Zivilisten, Polizisten und Soldaten dabei vertrauensvoll zusammenarbeiten. Die Abstimmung zwischen diesen unterschiedlichen Bereichen wird durch die wachsende Erfahrung immer besser, so dass am Ende eine erfolgreiche Kooperation stehen kann. Und ich bin mir sicher: Gerade durch die vielfältigen Erfahrungen der zivilen Experten vor Ort kann diese Vernetzung weitere wichtige Impulse erhalten.
Für die besondere Rolle Deutschlands in der Prävention und Bearbeitung von Konflikten stehen uns zahlreiche Organisationen und Institutionen mit all ihren spezifischen Fähigkeiten und mit ihrem großen Engagement zur Verfügung. Ob mit privater oder staatlicher Finanzierung, sie machen alle miteinander die zivile Expertise Deutschlands international wirksam. Das Spektrum ist groß – ich nenne nur Konfliktprävention und Entwicklungszusammenarbeit, Bekämpfung von Hunger und Krankheiten, Krisenvorsorge und -nachsorge durch Medizin und Technik. Als ich kürzlich während meiner Reise nach Tansania das Parlament der Ostafrikanischen Gemeinschaft besuchte – da hörte ich plötzlich, wie unsere Helfer aus dem Bereich der technischen Entwicklung, von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, aufgerufen wurden. Sie wurden als wunderbares Beispiel von Kooperation und Hilfsbereitschaft genannt. Ganz unerwartet begegnet einem so die hohe Achtung, die unseren zivilen Helfern draußen in der Welt zuteil wird.
Entscheidend für unsere gelungenen internationalen Einsätze ist auch die sehr intensive konzeptionelle und wissenschaftliche Arbeit und Unterstützung zu Hause. Es gilt eben auch – und vielleicht müssen wir das nachhaltiger deutlich machen – strategiefähig zu sein. Und das muss man nicht einfach beklagen, wenn wir spüren, es wird nicht genügend vorausgedacht. Das kann man organisieren. Dazu kann man auch Institutionen schaffen, Geld dort bereitstellen, wo Forschung und Praktiker zueinanderfinden, verbunden mit den Menschen, die in der Politik Verantwortung tragen. Aus diesem Grunde gehören zu meinen Gästen heute auch Wissenschaftler von Forschungsinstituten, Expertinnen von Think Tanks, Vertreter von Stiftungen und andere engagierte Mitbürger. Stellvertretend für all jene in Deutschland, die im weitesten Sinne in der Welt zu erfolgreicher Prävention und zur Lösung von Konflikten beitragen, habe ich heute das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze besucht. Ich habe einen Einblick erhalten, wie intensiv und kompetent dort Experten auf ihre Arbeit vorbereitet werden.
Lassen Sie es mich einmal mit dem Blick des Präsidenten sagen: Einmal mehr habe ich Menschen meines Landes getroffen, die mich durch ihre Bildung und ihr Engagement begeistert haben. Sie haben bei meinem Besuch dazu beigetragen, dass mir mein Amt als Präsident besondere Freude macht. Und das hängt damit zusammen, was Sie Segensreiches tun in anderen Ländern und damit, was Sie in Ihren Arbeitsfeldern leisten. Ich habe eine hohe Achtung vor Ihnen.
Ihnen allen, die Sie als zivile Experten wichtige Arbeit unter oft so schwierigen Bedingungen leisten, möchte ich heute sehr herzlich Dank sagen.
Wo Sie im Ausland arbeiten, sind Sie so etwas wie ein Repräsentant Deutschlands. Denn unser Botschafter kann nur selten da sein, der Präsident noch seltener und die eigene Regierung auch nur gelegentlich. Aber Sie sind da. Sie sind dort Repräsentanten unseres Landes. Sie sind Botschafter des Friedens, und Sie sind Botschafter unserer Demokratie. Dies gilt für alle, die draußen tätig sind. Nicht nur für Sie, die ich hier heute einladen konnte. Alle Experten, alle Aktiven der deutschen Stiftungen, auch der politischen Stiftungen, die ich gerne in diesem Zusammenhang erwähnen will, weil sie demokratische Werte in der ganzen Welt zu implementieren und zu stärken helfen. Und für alle gilt: Wenn wir in anderen Ländern arbeiten und uns einsetzen, dann bringen wir auch etwas zurück in dieses Land – Welterfahrung. Deshalb möchte ich Sie ermutigen: Geben Sie Ihre vor Ort gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen auch weiter. Übrigens brauchen wir das, weil wir auch die nächsten Generationen begeistern wollen: für dieses Engagement vor dem eigenen Gartenzaun und über die eigenen Interessen hinaus.
Wenn wir uns heute hier versammeln, dann wollen wir uns bewusst machen, dass es ein fortlaufender Prozess ist, die Herausforderungen vor unserer Haustür auch anzunehmen. Wir sind bereit, das zu tun, auch wenn es uns große Lasten auferlegt. Und vielleicht sollten wir uns bei dieser Gelegenheit fragen: Wie lässt sich beispielsweise die Arbeit ziviler Experten in Friedenseinsätzen besser sichtbar machen? Oder: Welche konzeptionellen Fragen stellen sich beim Ansatz der vernetzten Sicherheit? Oder, wenn wir aus den verschiedenen Bereichen und verschiedenen Ministerien, die hier unterstützend tätig sind, kommen: Kann die ressortübergreifende Zusammenarbeit weiter verbessert werden?
Darüber und über viele andere Dinge wollen wir gemeinsam diskutieren und darüber, wie wir Deutschlands zivilen Beitrag zu Frieden und Sicherheit in der Welt auch unter schwieriger werdenden Bedingungen gestalten können!
Ich danke Ihnen!