Am Abend des 9. November 2014, gut zwei Monate ist das nun her, stiegen in dieser Stadt 8.000 Ballons auf. Zuvor hatten sie – leuchtend nebeneinander in einer Reihe aufgestellt – den Verlauf der Berliner Mauer markiert. Menschen aus ganz Deutschland und aus vielen Ländern der Welt gingen an jenem Abend, 25 Jahre nach der Öffnung der Mauer, staunend an diese Lichtgrenze, zum ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße und zum früheren Checkpoint Charlie, zum Kreuzberger Engelbecken und zum Brandenburger Tor. Der Moment, da die Ballons in den Abendhimmel aufstiegen, war ein besonderer Augenblick in einem besonderen Jahr des Gedenkens. Einige Ballons schafften es bis nach Polen, einer gelangte bis nach Lettland. Ein schönes Sinnbild für das miteinander verbundene Europa, in dem wir heute leben dürfen.
Die verschiedenen bewegenden Anlässe des Jahres 2014 führten uns in die dunkelsten wie in einige der hellsten Stunden des vergangenen Jahrhunderts. Wir haben uns den Beginn zweier furchtbarer Weltkriege in Erinnerung gerufen – wir haben der Friedlichen Revolution des Jahres 1989 gedacht, dieses Triumphes der Freiheit und des menschlichen Mutes.
Vor uns liegt nun ein Jahr, in dem das Gedenken erneut eine wichtige Rolle spielen wird. So werden wir am 3. Oktober diesen Jahres die Vollendung der Deutschen Einheit feiern, die dann schon ein Vierteljahrhundert Geschichte sein wird. Eine wichtige Erkenntnis hat in all den Jahren ihre Bedeutung nicht verloren: Wir Deutschen konnten Einheit in Freiheit nur mit der Hilfe unserer Nachbarn und unserer Partner zurückgewinnen, und zwar nicht ohne sie und nicht gegen sie. 25 Jahre deutsche Einheit, das heißt auch: 25 Jahre Zwei-plus-Vier-Abkommen. Es wurde zwischen den einstigen Gegnern des Kalten Krieges verhandelt und von ihnen unterzeichnet. Was für ein Erfolg für internationale Diplomatie! Auch diese Sternstunde der Diplomatie wollen wir nicht vergessen.
Doch das neue Jahr, es hat mit Ereignissen begonnen, die uns alle zutiefst schockieren. Während der ersten Januartage ermordete die Terrororganisation Boko Haram hunderte Menschen in Nigeria. Und in der vergangenen Woche erlebten die Bürgerinnen und Bürger Frankreichs – und mit ihnen alle empfindsamen Menschen, alle Europäer und darüber hinaus – einen grausamen Anschlag auf die Presse- und Meinungsfreiheit, auf die Demokratie, auf das Recht auf Leben. 17 Menschen starben in Paris durch die Hand islamistischer Terroristen. Es waren mehrere Millionen Franzosen und Freunde aus aller Welt, die am vergangenen Sonntag mit Schweigemärschen der Opfer gedachten. Auf den Straßen und Plätzen von Paris wehten die Flaggen vieler Nationen, ja, die Stadt wurde für einen Tag – in den Worten des französischen Präsidenten François Hollande – die Hauptstadt der Welt
. All die Menschen, die demonstrierten, in Frankreich, bei uns in Deutschland und anderswo, sie haben ein Zeichen gesetzt – und zwar ein gemeinsames Zeichen: Wir stehen zusammen gegen Hass und Intoleranz. Zusammen verteidigen wir die Freiheit.
Eindrücklich bezeugten dies in dieser Woche auch tausende von Menschen, die sich auf Einladung der muslimischen Verbände vor der französischen Botschaft in Berlin, vor dem Brandenburger Tor, versammelten. Gemeinsam mit den Spitzen von Staat und Gesellschaft gaben Muslime, Christen, Juden ein Bekenntnis ab gegen Ausgrenzung und Terror – und zu den universellen Werten, die uns ein Leben in Freiheit, Frieden, Respekt und Würde ermöglichen.
Heute sehen wir also sehr klar: Wir waren vor einem Vierteljahrhundert keineswegs am Ende der Geschichte
angelangt, weder in Deutschland noch irgendwo anders in Europa oder gar in der Welt. Zwar war der Kalte Krieg – und damit die Konfrontation zwischen hochgerüsteten Militärblöcken – vorüber. Aber die Welt wurde zugleich komplizierter, die Bedrohungen und Risiken wurden diffuser.
Wohl ist die Europäische Union gerade als Friedensprojekt eine Erfolgsgeschichte. Doch nicht überall in Europa prägt friedliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen das Bild. Wir Europäer sind seit dem vergangenen Jahr selber Zeugen militärischer Auseinandersetzungen und Angriffe geworden.
Viel stärker, als wir es bei Anbruch des vergangenen Jahres ahnen konnten, stehen wir zu Beginn des Jahres 2015 schweren internationalen Krisen gegenüber. Wir werden mit Fragen konfrontiert, auf die wir noch keine ausreichenden Antworten haben.
Die Konflikte in Syrien und im Irak haben sich im letzten Jahr auch weiter verschärft. Sie haben unvorstellbares Leid über Menschen gebracht, und das Leiden geht weiter, jeden Tag. So kommt es, dass verzweifelte Menschen, die um das eigene Leben und das Leben ihrer Familien fürchten, alles tun, um zu fliehen und nach Europa gelangen. Was bei uns in dieser Situation gefragt ist, ist Mitgefühl, ist Hilfsbereitschaft. Hierbei geht es um den Kern unserer Werte.
Wir können nicht wissen, was uns im neuen Jahr wirklich erwartet. Und doch sehen wir schon jetzt einige Meilensteine der internationalen Politik auf uns zukommen, die sehr viel mit Ihnen, meine Damen und Herren, zu tun haben, die Sie heute hier alle bei mir zu Gast bei diesem Neujahrsempfang sind. Ich spreche die Diplomaten und ihre Aufgaben an. Ja, Diplomatie ist aufwendig. Ja, multilaterale Verhandlungsprozesse sind mühsam. Doch wie wichtig es ist, dass es sie gibt! Wir können froh sein, dass wir uns auf erprobte Mechanismen in der Diplomatie stützen können, wenn es um die großen Zukunftsfragen der Menschheit geht.
Und ja, wir dürfen uns in diesem Jahr konkrete Ergebnisse in wichtigen Bereichen erhoffen. Dabei setzen wir auf jene, die sich auf die hohe Kunst der Diplomatie verstehen – also auf Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen.
Das Jahr 2015 wird – so oder so – einen Einschnitt bedeuten. Denn: Die entwicklungspolitischen Jahrtausendziele laufen aus, und dann wird Bilanz gezogen. Wir sehen natürlich Erfolge, aber auch manches, das wir besser machen könnten. Wir wollen daraus lernen. Mit der Post-2015-Agenda ist die Weltgemeinschaft auf dem Weg zu neuen, globalen Zielen, die etwas ganz Wesentliches in den Blick nehmen: Nachhaltige Entwicklung ist im Interesse aller Länder. Ich wünsche mir sehr, dass der Gipfel im September positive Ergebnisse bringen wird.
Dasselbe wünsche ich mir für die laufenden Klimaschutzverhandlungen. Auch der Klimawandel – und damit der Klimaschutz – betrifft uns doch alle: Er unterscheidet nicht zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern, und er macht schon gar nicht Halt an Ländergrenzen. Wenn beim Weltklimagipfel der Vereinten Nationen in Paris am Ende des Jahres ein Klimaabkommen stehen soll, das tatsächlich neue Maßstäbe setzt, dann ist von allen Seiten noch mehr Bereitschaft zu Verbindlichkeit und Kompromiss erforderlich.
Gerade in der Klimapolitik kann Deutschland einen wichtigen Beitrag leisten, und zwar politisch genauso wie technologisch und ökonomisch. Dass Deutschland globale Mitverantwortung trägt und zu tragen bereit ist, wird im kommenden Jahr besonders deutlich werden. Denn die Bundesrepublik hat seit Juni 2014 die G7-Präsidentschaft inne. Dort sind Fragen von Entwicklung und Klimawandel zentrale Themen.
Erstmals – im Jahr des 70. Geburtstages der Vereinten Nationen – übernimmt Deutschland 2015 zudem den Vorsitz im UN-Menschenrechtsrat. Der Einsatz für die unveräußerlichen Menschenrechte ist eines unserer wichtigsten, unserer höchsten Ziele. Da ist es gut, dass wir immer wieder beflügelt werden von Menschen, die bereit sind, alles für diese Rechte zu tun. Eine mutige, junge Frau aus Pakistan mit dem Namen Malala ist – mit ihrem Optimismus und ihrem Einsatz – ein solch inspirierendes Beispiel für uns alle. Ich möchte aus ihren Wünschen, aus Malalas Wünschen für das Jahr 2015 zitieren, die sie, die Friedensnobelpreisträgerin, in einem Brief an die Staatsoberhäupter dieser Welt gesandt hat:
Es kann das Jahr sein, in dem wir alle das letzte Kind sehen, das keine Schule besucht, das letzte Kind, das in die Sklaverei gezwungen wird, und das letzte Kind, das aufgrund des drohenden Klimawandels aus seiner Heimat flüchten muss.
Exzellenzen, meine Damen und Herren, wir werden diese Ziele vermutlich nicht schon innerhalb dieses Jahres erreichen. Aber ich bitte Sie: Lassen Sie uns gemeinsam und in diesem Geist daran arbeiten, ihnen näherzukommen und die Welt so zu einem besseren Ort zu machen.
Ihnen und Ihren Familien wünsche ich nun ein glückliches und friedvolles, schönes Jahr 2015!