Heute feiern wir etwas Kostbares – das Bundessozialgericht, einen bedeutenden Teil unseres demokratischen Gemeinwesens. Deshalb Ihnen und uns allen: Herzlichen Glückwunsch!
Die Idee des deutschen Sozialstaats ist allerdings deutlich älter als 60 Jahre. Sie geht sogar noch weiter zurück als bis auf Otto von Bismarck und seine Sozialgesetzgebung. Kernelemente finden sich schon in der Vormärzbewegung und bei den Demokraten von 1848. Die soziale Frage wurde in Deutschland sehr früh und sehr nachdrücklich gestellt. Und die institutionalisierte Antwort in Form der Sozialversicherungen – gegen Wechselfälle des Lebens wie Alter, Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit – sie überdauerte sämtliche Regierungs- und Systemwechsel, vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus, die DDR-Diktatur bis hin zur Bundesrepublik. Das Versprechen der Solidarität, das in den Sozialversicherungen zum Ausdruck kommt, hat heute wie damals für unser politisches Selbstverständnis eine besonders hohe Bedeutung.
Was wir an unserem sozialen Rechtsstaat schätzen: Die Verbindung von Freiheit, individuellen Grundrechten und Verantwortung ist keine Option, sondern eine Verpflichtung.
Für mich persönlich war diese Form von Sozialstaat in der Demokratie das lange Zeit nur aus der Ferne bekannte Alternativmodell zu jener Fürsorgediktatur
, die es in der DDR gab. Vor Ihnen steht jemand, der erst 1990 Bundesbürger wurde und in der ersten Hälfte seines Lebens ein autoritär-paternalistisches System kennengelernt hat, in dem jede Fürsorge irgendwie auch mit Bevormundung verbunden war. Auf jedes Schutzversprechen konnte eine Repression folgen.
Die Menschen in der DDR lebten einen Alltag defizitären beziehungsweise beschädigten Rechts. Es gab unter anderem kein Verfassungsgericht, ebenso wenig eine autonome Sozial- oder Verwaltungsgerichtsbarkeit. Ich erinnere mich noch sehr gut, dass in bestimmten Konfliktsituationen des Lebens der Eingabeweg beschritten werden musste. Wie in alter Zeit, als man den Fürsten noch ansprach auf seine Gutherzigkeit, Mildtätigkeit oder Rechtstreue. Aber der Eingabemensch war ein Bürger. Der sozialistische Sozialstaat
, wie es in der Ära Ulbrichts hieß, hatte durchaus eine gesetzförmige Form - er war eingekleidet in gesetzförmige Begrifflichkeit. Und wenn wir den gesamten Ablauf der DDR betrachten, sehen wir sogar eine gewisse Tendenz zur Verrechtlichung, vor allem dort, wo diese Verrechtlichung im ideologischen Wettlauf mit dem westlichen Lager Überlegenheit demonstrieren sollte. Ich nehme mal das Recht auf Arbeit, Artikel 24 der DDR-Verfassung, das ist ein besonders bekanntes Beispiel. Viele in der Planwirtschaft sozialisierte Menschen können noch heute das Vorzeigeargument der sicheren Arbeitsplätze zitieren. Aber der Vorteil der Beschäftigung aller war eben verbunden mit der beständigen Überforderung des Staatshaushalts und begünstigte das ökonomische Scheitern der DDR-Wirtschaft.
Zurück zu dem, was in der DDR sozialer Sozialstaat
genannt wurde. Auf dem Papier existierten zwar gewisse Klagemöglichkeiten – es gab auch ein Familiengesetzbuch seit den 1960er Jahren und ein Zivilgesetzbuch, das in den 1970er Jahren folgte. Aber in der herrschenden Praxis hatte die SED-Führung Durchgriff auf alles, eigentlich auf sämtliche Instanzen. In den Unterlagen der Staatssicherheit findet man tausendfach Belege dafür. Das Recht folgte einfach dem Interesse der Mächtigen, nicht dem Interesse der Bürgerinnen und Bürger oder gar dem Gleichheitsprinzip.
Gerade weil ich das Fehlen unabhängiger Rechtsprechung so schmerzlich in Erinnerung habe, bedeutet mir die Unabhängigkeit unserer Gerichte und damit auch die des Bundessozialgerichtes so viel: In diesem Land existiert für jede und jeden der Anspruch auf rechtliches Gehör, steht also der Rechtsweg offen – unabhängig von Wohlverhalten und allein an Gesetz und Recht orientiert und an unser Grundgesetz gebunden.
Dort, in den Artikeln 20 und 28, wurde 1949 das Sozialstaatsprinzip verankert, unter anderem in der bemerkenswerten Formulierung sozialer Rechtsstaat
. Lassen Sie mich sagen, als Liebhaber sowohl der Literatur als auch der Demokratie empfinde ich diesen Begriff gleichzeitig verwegen und schön. Verwegen, weil er eigentlich etwas zusammenbringt, was traditionell nicht zusammen gedacht wurde. Schön deshalb, weil er aus unserem demokratischen Gemeinwesen etwas macht, was die Zuneigung, nicht nur die Zustimmung, Vieler zum demokratischen Gemeinwesen evozieren kann. Bemerkenswert ist dieser Begriff, weil eben im internationalen Vergleich der Verfassungstexte unüblich und bemerkenswert auch deshalb, weil dieser Begriff trotz seiner materiellen Unbestimmtheit in frappierender Kürze eine Verfassungsnorm definierte – die Pflicht des Staates, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen.
Daraus erwuchs dann ein Gestaltungsauftrag an diejenigen Verfassungsorgane – allen voran der parlamentarische Gesetzgeber –, die für die Umsetzung gesellschaftspolitischer Aufgaben zuständig sind. Soziale Fürsorge, die Schaffung soziale
r Sicherungssysteme, die Herstellung von Chancengleichheit – all das lässt sich ableiten, weil sozial
im Grundgesetz nicht nur als eine Tugend verstanden wird, nicht als Barmherzigkeit oder Kann-Bestimmung. Es hat verbindlich Platz im Normenkatalog. Ob jemand verschuldet oder unverschuldet in eine Notlage gerät: Staatliche Hilfe für alle Bedürftigen ist ein geltendes Grundprinzip. Es geht also um ein Anrecht und nicht um ein Almosen. Der über weite Strecken liberale Charakter unseres Grundgesetzes hat damit doch eine wirklich entscheidende Ergänzung und Revolution erfahren. Neben der formalen Gerechtigkeit, die sich im Rechtsstaatsprinzip widerspiegelt, findet sich mit dem sozialen Rechtsstaat
auch eine verbindliche Komponente materieller Gerechtigkeit.
Die Ausgestaltung im Detail schlägt sich bekanntlich in Bundes-, Landes- und Kommunalgesetzen und -ordnungen nieder, sie ist permanent Thema im gesellschaftlichen Diskurs, in Fraktionen, aber auch in Familien und an Stammtischen. Strittige Auslegungen darüber, was zu tun ist und was zu leisten ist, finden ihren Weg von den Sozialgerichten über die Landessozialgerichte bis hierher zum Bundessozialgericht.
Mit der fachlichen Spezialisierung der Sozialgerichtsbarkeit nimmt Deutschland eine Sonderstellung ein. Noch vor zehn Jahren – zum 50. Jubiläum – waren nicht wenige Stimmen zu hören, die eine Zusammenlegung der Sozial- und Verwaltungsgerichte forderten. Dazu ist hier ja deutlich etwas gesagt worden. Und wenig später, wenn wir auf Ihre Aufgabenbereiche schauen, nach dieser Debatte, kamen neue Aufgabenbereiche hinzu: das Asylbewerberleistungsgesetz und die fallzahlenreichen Gebiete SGB II und XII, umgangssprachlich auch als Hartz-IV-Gesetze bekannt. Ich habe den Eindruck, gerade im Lichte dessen, wie Sie, meine Damen und Herren, diesen Zuwachs seit 2005 bewältigt haben, kann heute gesagt werden: Die eigenständige Sozialgerichtsbarkeit in unserem Lande hat sich bewährt!
Das sage ich nicht nur, weil das Bundessozialgericht trotz außerordentlich hoher Eingangszahlen die kürzesten Verfahrensdauern hat.
Das Tempo und die Komplexität der Rechtsänderungen in Ihrem Fachgebiet sind für einen Außenstehenden völlig beeindruckend – und für jeden Soziologen sind sie so etwas wie ein Eldorado! Mit der Chronik des Bundessozialgerichts lässt sich gesellschaftlicher Wandel wie im Zeitraffer erleben. Seit 1954 wurden hier beispielsweise die Auswirkungen neuer Arbeits- und Familienmodelle überprüft, denken wir nur an die Berufstätigkeit der Frau. Auch die Rentenreformen und der Generationenvertrag, die Einführung der Pflegeversicherung und die Integration der damals sogenannten Gastarbeiter, nicht zuletzt das Problem des demografischen Wandels, all das spiegelt sich in Ihren Urteilen. Folgenreiche und großrahmige Verschiebungen nicht zu vergessen: Da gibt es noch die Europäisierung, die Globalisierung und jüngst auch Konsequenzen des Völkerrechts. Allein mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wird man in Ihrem Haus wohl noch ganze Aktenregale füllen können.
Lassen Sie mich an dieser Stelle, auch wenn der Dank üblicherweise erst zum Schluss kommt, Herr Präsident, inmitten der Fülle der Themen, meine große Anerkennung für die hier geleistete Arbeit zum Ausdruck bringen. Was die Richterinnen und Richter am Bundessozialgericht und auch Ihre Kolleginnen und Kollegen in den Vorinstanzen bewältigen, das ist herausragend!
Und es ist mir eine große Freude, so viele ehrenamtliche Richterinnen und Richter unter Ihnen zu wissen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Die Erfolgsbilanz, die dieses Jubiläum sichtbar macht, ist auch Ihr persönlicher Verdienst!
Nach einer Bilanz darf nun der Ausblick nicht fehlen.
Die Denkschrift zum heutigen Jubiläum – ich bekomme sie zwar erst nachher, aber mir wurde bereits darüber berichtet – trägt das Wort Herausforderungen
schon im Titel. Ich habe auch gehört, sie sei 800 Seiten stark. Das heißt also, unheimlich viel Lernstoff, eine Einladung zur Reflexion und zum Austausch. Und sie soll auch zum interdisziplinären Diskurs einladen, denn unzählige Fragestellungen zum Thema Sozialstaat werden sich dort finden. Schön wäre es, wenn der Bundespräsident jetzt eine alles abrundende, möglicherweise tragende Elemente in der Denkschrift einbeziehende Conclusio vortragen würde. Aber das kann ich nicht – sagen wir es mal so: Ich bin noch am Denken. Und ich freue mich im Übrigen darüber, dass eine Festschrift auch eine Denkschrift sein kann. Und wenn ich hier sage, ich bin noch am Denken, heißt das: Natürlich will ich mich mit den wichtigen Thesen und Themen befassen und ich weiß auch, dass das erforderlich ist, denn die Weiterentwicklung des Sozialstaats erfolgt keineswegs immer so ganz leicht. Sie ist auch verbunden mit Konflikten, das wissen wir. Oft ist es die Balance von Fordern und Fördern, die uns Probleme macht. Und der Staat muss immer wieder neu definieren, ob er ein aktivierender oder ein vorsorgender Staat ist. Diese Balance ist nicht immer leicht zu finden. Das zeigen uns auch Debatten in anderen Ländern, etwa in Skandinavien. Für mich gilt in dieser Frage: Es gibt kein Entweder-Oder. Beides muss doch gelingen: Es muss ganz sicher sein, dass es eine Abfederung sozialer Härten gibt. Aber es darf auch nicht daran fehlen, dass es Ermächtigung im der Einzelnen gibt, ein Leben aus eigener Kraft zu führen und zu gestalten.
Was fehlt, sind oft die richtigen Impulse auf der persönlichen Ebene. Ein Beispiel: Am vergangenen Wochenende fand wieder das Bürgerfest bei mir im Schloss Bellevue in Berlin statt, ein Treffen vieler Ehrenamtlicher aus der ganzen Bundesrepublik. Wir hatten über 4.000 Ehrenamtliche und andere Gäste dort im Park des Schlosses Bellevue. Alles Menschen, die sich freiwillig engagieren – aus ganz Deutschland. Ich habe dabei auch Aktive getroffen, die sich für junge Menschen aus bildungsfernen Milieus stark machen oder für solche, die aus Migrantenfamilien kommen. Sie tun das mit Lesepatenschaften oder als Teilnehmer an Mentorenprogrammen, in der Studien- und Berufsberatung. Und in allem, was mir erzählt wurde, war der Tenor immer der gleiche: Es fehlt nicht an Informationsbroschüren zum Stipendium, auch nicht am Zugang zu einer Bibliothek oder Hochschule. Aber es fehlt oft an ermutigenden Signalen aus dem Umfeld – und von klein auf: Du schaffst das, wenn Du auf Leistung setzt, wenn Du Deine Potentiale erkennst, wenn das Ringen um Anerkennung und Aufstieg kein Traum bleibt, sondern wenn Du Dein Bestes versuchst, wenn Du nicht schon aufgibst, bevor Du es begonnen hat. So mit jungen Menschen zu sprechen, schadet ihnen nicht, es stärkt sie.
Das heißt für mich: Sozialpolitik wird nicht nur vom Geld, sondern auch vom gesellschaftlichen Klima bestimmt. Ich weiß nun, dass dies hier kein juristisches Fachthema ist. Aber ich bin mir doch auch bewusst, dass in diesem Saal Menschen sitzen, die weit über den Tellerrand ihrer juristischen Fachdisziplin hinausblicken.
Über den Tellerrand hinaus, das sollte in mehrfacher Hinsicht gelten: Unser Sozialstaat wird längst nicht mehr nur national gestaltet. Zahlreiche externe Faktoren sind zu berücksichtigen, denken wir nur an die Binnenwanderung in der EU mit den sie begleitenden Problemen, denken wir an die Migrationsbewegungen. Und es wird in den nächsten Jahren wahrscheinlich so sein, dass dieses Problem an Bedeutung stark zunimmt. Eine Herausforderung nicht nur für die Politik, sondern für die Bürgergesellschaft – und wie wir aus der Vergangenheit leicht ableiten können, auch für Sie und für die Menschen, die auf den verschiedenen Ebenen der Sozialgerichte tätig sind. Allein der Blick auf diese Problemfelder und die höchst unterschiedlichen Sozialstaatsausprägungen, die es in der Europäischen Union gibt, lassen uns erahnen, wie groß nicht nur die intellektuell-juristischen, sondern auch die politischen Herausforderungen sind, die im kommenden Jahrzehnt vor uns stehen werden.
Mit Besorgnis habe ich gelesen, dass Sie, lieber Herr Masuch, im August-Heft der Zeitschrift Sozialgerichtsbarkeit
einen spürbaren Bedeutungsverlust sozialpolitischer Forschung beklagen. Während der Richterwoche soll sogar von einem Zeitalter der Sozialreform im Blindflug
die Rede gewesen sein. Das möchte ich am liebsten gar nicht hören, aber irgendeiner muss es ja bedeutungsvoll gefunden haben, diese zugespitzte Formulierung zu wählen. Es liegt mir nun fern, mich in die Wissenschaftspolitik von Bund und Ländern einzumischen, das steht mir wahrlich nicht zu, aber ich würde gern erfahren, wo genau aus Ihrer Sicht die Defizite liegen und welche Schritte man zur Verbesserung der Situation gehen könnte. Wenn Sie möchten, Herr Präsident, lade ich Sie und andere Fachleute gerne ein, mich im Schloss Bellevue zu besuchen und im Kreis einiger Experten über diese Thematik zu sprechen. Betrachten Sie das jetzt mal als eine Gegeneinladung, mündlicher Antrag.
Machen wir uns zum Schluss noch einmal bewusst, welch‘ ein Glück es für uns ist, heute einen konstitutiven und hoch spezialisierten Teil unseres Sozialstaats feiern zu können. Ich wünsche dem Bundessozialgericht, dass es bleibt, was es ist, indem es sich im Takt der Geschehnisse weiterhin täglich bewährt und – wo nötig – bewusst verändert: dynamisch, anspruchsvoll und unabhängig.