Unterwegs zum Miteinander
, das steht über dem Thementag, den wir uns für diesen Tag vorgenommen hatten. Jetzt treffen wir uns hier am Abend eines für mich und für viele von Ihnen ereignisreichen Tages im Schloss Bellevue. Seien Sie alle miteinander besonders herzlich willkommen.
Es ist ein Abend der vielen Wirklichkeiten, die uns alltäglich in diesem Land begegnen. Und für mich ist das ein schöner Abschluss für einen Tag im Einwanderungsland Deutschland.
Ich bin in der Vorbereitung dieses Tages vielen Zahlen und Statistiken begegnet. Aber heute bin ich vor allen Dingen Menschen begegnet. Menschen, die mit ihren unterschiedlichen Lebensgeschichten hier etwas tun, das dieses Land prägt, das dieses Land zusammenhält und zu dem Besonderen macht, was es ist. Darum will ich Ihnen das emotionale Ergebnis dieser Begegnungen gern darstellen.
Sie wissen alle, dass ich über 70 bin. Morgens kommt man schwer in Gang. Und als ich heute Morgen ins Auto stieg und wusste, ich habe einen themenschweren Tag vor mir, da war ich zwar bundespräsidial gefasst, aber eigentlich hätte ich ein Glas Sekt gebraucht.
Dann hatten wir die erste Begegnung. Ich war sehr gespannt, denn es waren Stadtteilmütter – von ihnen hatte ich schon in der Zeitung gelesen. Aber jetzt sah ich diese Frauen und hörte von den Organisatoren, wie lange das Projekt schon läuft und wie vorbildlich es ist. Eine der Frauen sagte schließlich, sie habe fünf Kinder, und eine andere sagte, sie habe sieben Kinder und sie könne diese oder jene Sprache und es sei nicht einfach, diese oder jene Türen zu öffnen. Und fortwährend schaute sie dabei und lächelte. Sie jammerte nicht. Keine dieser Frauen hat ein einziges Wort der Klage vorgebracht. Und das, obwohl wir doch in problematischen Zeiten leben und sie über eine Arbeit in problematischen Milieus sprachen! Aber sie schauten mich an, voller Esprit und voller Tatkraft, und augenblicklich dachte ich nicht mehr an meinen Sekt, denn ich hatte so etwas wie eine Infusion bekommen – und zwar eine Infusion von Freude und Kraft am Dasein. Freude an der eigenen Kraft – und das in Verhältnissen, die alles andere als freundlich sind. Da habe ich gesagt: mehr davon!
Die nächste Station lag im Wedding. Ich lebe in einem sehr vornehmen Stadtteil von Berlin. Ich habe mir den nicht selbst ausgesucht. Das Haus, in dem Bundespräsidenten wohnen, steht dort, also wohne ich dort. Aber als Präsident bin ich ja auch Präsident der Weddinger. Also bin ich dahin. Ich wusste, es ist eine interessante Lesung von einem jungen Mann, dessen Eltern aus Polen zugewandert sind, Paul Bokowski. Er weiß über den Wedding zu schreiben, als würde er ganz locker eine Verliebtheit beschreiben. Verliebt ist er in seinen Wohnort und er kann ganz genau all die Differenzen sehen. Und er kann trotzdem eine Liebeserklärung machen, freilich nicht an die Friedrichshainer und Prenzlauer Berger, die mag er nicht so. Er mag seine Weddinger und außerdem war es noch lustig.
Dann ging es weiter: Wir haben in Kreuzberg im Café Kotti junge Leute getroffen, die in Vereinen aktiv sind. Wieder habe ich gesagt: Oh, Kreuzberg, problematische Zusammensetzung
, und es gab auch etwas Folklore
, wie man sie aus Kreuzberg kennt. Dann bin ich den jungen Leuten aus unterschiedlichen Vereinen begegnet, die miteinander besprechen, was Deutschsein und Zugewandert sein ausmacht, die das vor allen Dingen leben und die mich wieder anschauten, als hätten sie hier keine Probleme. Weil sie so stark und motiviert waren! Da habe ich mir gedacht: mehr davon in die Bundesregierung, mehr davon ins Parlament, super, diese Kraft und Energie, diese Zuversicht!
Einer hat mich schockiert, ein ganz junger Mann, der sagte: Bei unserer Arbeit und bei unserem Lernen, dass wir alle zueinander gehören, die Verschiedenen, da braucht man Geduld.
Und plötzlich überkam mich eine Erleuchtung. Ich habe mir den Mann angeschaut und dachte, das ist doch Weisheit, die gerade zu mir spricht – denkt man eigentlich nicht, dass aus so jungen Gesichtern die Weisheit spricht. Und aus anderen sprach Freude und Kraft und die sichere Zuversicht, dass wir dieses Land verändern können, zu diesem positiven Miteinander, von dem alle träumen.
Da konnte auch jeder etwas erzählen, was nicht so klappt. Wir wussten genau, wo wir sind: In einer unperfekten Gesellschaft. Aber wir wussten auch, dass wir es miteinander schaffen können, dass dieses Land in zehn Jahren noch freundlicher aussieht, noch aufnahmebereiter, noch fähiger, ja
zu sagen zu dem, was uns wegen Fremdheit oder Andersartigkeit auch Zurückhaltung auferlegen kann oder gar Angst macht. Von alldem war nichts zu spüren. Ich habe zugehört und ich war viel stärker geworden, zum dritten Mal. Wie schafft man es, dass möglichst viele Menschen solche Begegnungen haben?
Einige, die mich heute stark gemacht haben, die begrüße ich ganz besonders herzlich hier im Raum. Liebe Stadtteilmütter und liebe Vereinsmitglieder aus Kreuzberg, ein besonders herzliches Willkommen!
Klar haben wir heute auch von Dingen gehört, die es schwer machen, dieses Miteinander. Wie schwer es für einen ist, der nicht deutsch spricht, das deutsche Schulsystem zu durchschauen. Und wie hilfreich das ist, wenn jemand an die Tür klopft, bekleidet mit dem roten Schal der Stadtteilmütter, und sagt: Ach weißt du, ich kenne deine Geschichte. Ich sage dir mal, was ich gemacht habe.
Und wie gut, wenn dieses Stück Ermutigung, was jetzt angewachsen ist in diesen Frauen, weitergegeben werden kann. Viele sprechen von ihrer eigenen Berufserfahrung, auch darüber, wie sie mit Vorurteilen umgegangen sind, die uns ja immer wieder begegnen. Wie es ihnen aber trotzdem gelungen ist, sich als Teil einer Gesellschaft zu begreifen.
Diese vielen jungen Leute, über die ich eben gesprochen habe, die in den Vereinen sind, haben mir gezeigt, dass es eine Sache ist, theoretisch über Vielfalt zu arbeiten, über das, was eine Gesellschaft verbindet, über unseren Common Ground
, den wir immer wieder definieren müssen, damit sich die Verschiedenen in diesem Land dazugehörig fühlen. Alle diese Debatten kenne ich natürlich. Aber es ist etwas anderes, Debatten zu kennen und Menschen zu begegnen! Menschen, die – ohne besonders theoriefähig zu sein – einfach tun, wovon wir träumen: das Miteinander der Verschiedenen freundlich zu gestalten.
Natürlich habe ich bei dieser Gelegenheit zurückgeschaut auf mein Leben, auf meine Lernprozesse. Stellen Sie sich vor, wo ich herkomme: Nordosten Deutschlands, Mecklenburg. Da ist man sich ziemlich ähnlich gewesen, über viele Jahrzehnte. Und ich merkte, dass man in wenigen Jahren sein Weltbild so verändern kann, dass man sich nicht mehr fürchten muss, wenn jemand anders ausschaut. Und welche kolossale Bereicherung das ist. Und immer, wenn ich in eins dieser Gesichter schaute, der Vereinsmitglieder, dann hat mich das gestärkt.
Und jetzt wollen wir uns heute Abend hier treffen, ohne theorielastig zu werden. Wir wollen die Verschiedenheit erleben und feiern. Miteinander werden wir erleben, wie Menschen aus unterschiedlichen Gegenden Europas und der Welt einander etwas zu geben haben. Es hängt mit Kunst zusammen. Hängt mit Freude zusammen. Mit Freude am Dasein. Und mit Freude daran, zu merken: Wir sind unterschiedlich und wir schauen doch in dieselbe Richtung, wir mögen einander, wenn wir wach genug sind, einander wirklich wahrzunehmen, als die, die wir sind – wenn wir wach genug sind, uns von Stereotypen zu verabschieden und in Menschengesichter zu schauen und die menschlichen Potenziale zu sehen, die in jedem stecken.
Und wenn der Abend zu Ende sein wird, dann werden wir wunderschöne künstlerische Erlebnisse gehabt haben. Aber ich wünsche mir vor allem eins: dass uns gelingen mag und gelingen möge, wovon wir alle träumen. Dass dieses Land einen gemeinsamen Grund für die vielen verschiedenen Begabungen und Herkünfte darstellt. Und Sie alle, die ich heute eingeladen habe und die Sie heute am Tag mitgewirkt haben, Sie alle wirken dabei mit mir zusammen.