Das ist ein schöner Termin und eine Premiere für mich. Nicht, dass ich das erste Mal in Saarbrücken wäre. Ich war oft hier.
Aber das, was ich jetzt gemeinsam mit Ihnen vorhabe, ist für mich eine Premiere. Ich habe mich gefreut zu hören, dass mit der Aufnahme in die Staatsbürgerschaft gelegentlich eine Feier verbunden ist. Wir Deutsche mussten in den letzten Jahrzehnten mühsam wieder lernen, unser eigenes Staatswesen mit einer gewissen Freude, Dankbarkeit, gelegentlich auch mit Anflügen von berechtigtem Stolz zu begleiten. Mit Freude an der wunderbaren Geschichte dieses Landes. Mit dem Bewusstsein des Wiederaufstehens nach diesem schrecklichen Fall, der nicht nur unser Land, sondern halb Europa verwüstet hat.
Und weil ich ein älterer Deutscher bin, bewegt es mich natürlich auch, an einem solchen festlichen Akt teilzunehmen und die Freude von Menschen zu teilen, die Bürgerinnen oder Bürger dieses Landes sein wollen. Es sind ganz junge und ältere, aus den unterschiedlichsten Ländern stammend, der Arbeit wegen oder der Liebe wegen hierhergezogen. Die einen suchten Zuflucht. Die anderen vollziehen etwas nach, was sie schon früher hätten tun können, denn sie sind schon lange hier. Manche von Ihnen, das ist mir wohl bewusst, sind schon viel länger Bürger der Bundesrepublik Deutschland als ich, Ihr Präsident – denn stellen Sie sich vor, ich bin doch erst 1990 dazugestoßen!
Vorher war ich sozusagen ein Doppelstaatler. Ich hatte eine Staatsbürgerschaft, die mir zugeteilt worden war, die der DDR. Aber wie viele Menschen, die in der DDR lebten, fühlten wir uns politisch, geistig im Westen zu Hause. Wir waren schon Deutsche, ohne dass wir einen Pass hatten. Wir kannten oft sämtliche Mitglieder der Bundeskabinette, weil wir täglich über Fernsehen und Hörfunk mit dem verbunden waren, was hier im Westen geschah. In einer doppelten Beziehung zu leben zu einem Land, das haben manche von Ihnen, liebe Neubürgerinnen und Neubürger ja auch erlebt. Eingebunden in Traditionen, die Ihnen niemand streitig macht. Andererseits sich fragend, mit den Familien, mit den Freunden und mit den Arbeitskollegen: "Wie sehr bin ich eigentlich was?"
So haben wir vielleicht alle gemeinsam, dass das ein Prozess ist: die Aneignung dieser neuen Staatsbürgerschaft. Vielleicht ist es für diejenigen, die hier geboren wurden und die nie darüber nachdenken mussten, Bürger eines Landes zu sein, vielleicht ist es für Sie etwas ganz Besonderes, nun unserer Verfassung und dem Grundgesetz zu begegnen. Unsere Schülerinnen und Schüler werden damit auch konfrontiert im Laufe ihrer Schulzeit. Aber es ist für sie Teil einer Selbstverständlichkeit. Und mancher von Ihnen kommt aus einem Land, in dem viele davon träumen, Werte und Inhalte in ihrer Verfassung zu haben, wie wir sie in Deutschland haben. Und auch in Deutschland – ich habe von meiner Geschichte erzählt – gibt es Menschen, die lange davon träumten, einmal so ein Grundgesetz zu haben, wie wir es haben. Zu dieser Gemeinschaft wollen Sie jetzt dazugehören – eine Gemeinschaft, die gebildet wird durch den Bezug auf unser Grundgesetz. Es ist eine Gemeinschaft der Verschiedenen. Wir kommen zueinander trotz unserer Unterschiede, weil wir uns gemeinsam auf diese Werte beziehen, die unser Grundgesetz uns garantiert. Die wollen wir leben.
Wir verbinden als Staatsbürger mit unserem Grundgesetz nicht nur Pflichten, sondern auch Freiheiten. Es sind Möglichkeiten. Vor allem die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen. Nicht erst, wenn wir ein Amt haben, sondern schon als Bürger. Diese Bürgerverantwortung, die steht Ihnen, die wir heute einbürgern, nun in vollem Ausmaße zu. Wir sind in einem Wahljahr, und ich finde es wunderbar, dass Sie sich nun beteiligen können. Sie entscheiden, wer aus unserer Mitte auf Zeit Macht in die Hand gelegt bekommt. Sie entscheiden durch Ihre Wahl mit, welche Koalitionen zustande kommen, welche Politiker gepuscht und welche gebremst werden. Ich möchte, dass jeder von Ihnen auch voller Freude in diesem Jahr am Urnengang teilnimmt. Ich brauche Sie als Unterstützer, denn ich stehe dauernd in den unterschiedlichen Regionen vor einer Bevölkerung, die manchmal so tut, als wären Wahlen nebensächlich. Ich habe mir letztens einige Oberbürgermeisterwahlen angeschaut. Da ist es doch relativ einfach zu wählen. Ein bekanntes Gesicht konkurriert mit einem anderen, leicht zu entscheiden. Und was stellen wir fest: Oft ist es weniger als die Hälfte der Bevölkerung, die sich daran beteiligt. Schauen wir die Landtagswahlen an und die Bundestagswahlen. Fragen wir uns einmal, wie es nur möglich ist, dass ein hohes Gut, nämlich das Recht, in freien, gleichen und geheimen Wahlen zu wählen, ein Recht, von dem Menschen in vielen Teilen der Welt nur träumen können, wie ein solches Gut so leichtfertig aus der Hand gegeben werden kann? Und deshalb habe ich mir vorgenommen, Sie um Ihre Unterstützung zu bitten, liebe Neubürger und Neubürgerinnen.
Ich bin selber 50 Jahre alt gewesen, als ich das erste Mal wählen durfte. 50 Jahre. Vorher gab es sogenannte Wahlen. Wie in einigen Ländern, aus denen Sie vielleicht herkommen. Da stand oben drüber "Wahl", aber du hattest keine wirkliche Entscheidung. Und danach, da konnte ich dann tatsächlich Bürger werden und das ist das Schöne, dass wir Bürger nicht nur dann sind, wenn uns bestimmte Einkünfte zustehen oder Rechte, sondern wenn wir die Chance haben, eigene Verantwortung zu übernehmen.
Wenn Sie jetzt heute in diesem Land "ja" sagen zur deutschen Staatsbürgerschaft, dann ist es etwas völlig anderes als damals nach dem Krieg, als viele Menschen sich vor dem Begriff "Deutschland" fürchteten. Wir haben nach der von mir vorhin schon angesprochenen Katastrophe, die Deutsche über Europa gebracht haben, Jahrzehnte nicht nur eines wirtschaftlichen Aufschwungs, sondern auch einer neuen Grundlegung unseres Gemeinwesens erlebt. Wir haben zu einem bewussten "ja" zur Freiheit gefunden. Zu einem bewussten "ja" zum Prinzip der Demokratie. Zu einem bewussten "ja" zur Rechtsstaatlichkeit. Und wir haben gelernt, dass es dann Spaß macht, Freude macht, Bürger zu sein, wenn wir Verantwortung leben können. Wir sind mündige Bürger in dem Moment, in dem wir Verantwortung übernehmen, und das beginnt bei der angesprochenen Berechtigung zu wählen und bei der Teilhabe.
In diesem Sinne und in diesem Deutschland können wir unsere Zukunft angehen mit Selbstbewusstsein, mit Offenheit und Zuversicht. Mit Ihrer Entscheidung, sich einbürgern zu lassen, haben Sie noch einmal bekräftigt: Sie sind Teil dieser gemeinsamen Zukunft, die wir miteinander gestalten! Die Botschaft, die mir dabei am meisten am Herzen liegt, lautet: Dieses Land, das hat nicht nur Zuneigung verdient, sondern dieses Land verdient unser Zutun! Und nicht unsere Distanz! Bestimmt, das wissen wir alle, können sich die Verhältnisse in diesem Land noch an vielen Stellen verbessern. Und es gibt auch jedem von uns die Möglichkeit, etwas zu erreichen, etwas zu gestalten, für uns und für andere. So wollen wir jedem, egal woher er stammt, sagen: Wir haben Institutionen, die wir achten können, wir haben Regeln, die wir demokratisch verabredet haben, und in diesem Rahmen ergeben sich nun die Chancen, die der Bürgergesellschaft, die nicht in Institutionen verankert ist, gegeben sind.
Deutschland braucht seine Zuwanderer auf allen verschiedenen Gebieten: als bewusste Staatsbürger, als Menschen, die in unser Wirtschaftsleben integriert werden müssen, um uns zu helfen. Und wir brauchen sie auch, weil wir wissen, wir müssen unser Land und seine Werte auch gelegentlich verteidigen. Und wenn man weiß, dass Demokratie und Freiheit nicht selbstverständlich sind, verteidigt man lieber, was man gerade ganz bewusst angenommen hat.
Wer – wie Sie, liebe Neubürger – schon länger hier lebt oder sogar hier geboren wurde, braucht kein "Herzlich willkommen". Was er oder sie braucht, ist eine selbstverständliche Akzeptanz. Aber diese Akzeptanz ist nicht in allen Teilen der Bevölkerung selbstverständlich. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten! Und Sie und ich und die saarländische Regierung und alle Verantwortlichen arbeiten daran.
Vor allem denen, die neu zu uns kommen, sollten wir in besonderer Weise mit Zuwendung begegnen – und zwar im Alltag, auf den Ämtern, als Nachbarn wie als Arbeitgeber. Dafür gibt es ja schon viele gute Ansätze: Wenn Kommunen zum Beispiel Informationsabende für neu zugezogene ausländische Mitbürger organisieren oder wenn Ausländerbehörden ihre Mitarbeiter interkulturell schulen. Jeder kann mithelfen, dass sich dieses Gefühl des Willkommen-Seins tatsächlich einstellt. Manche tun dies mit ganz besonderem Engagement, einige von ihnen sind heute unter uns und ich freue mich, dass Sie da sind. Ganz besonders danke ich denen, die als staatliche "Paten" über bürokratische Hürden hinweghelfen oder Zuwanderer-Kindern den Start in die neue Sprache oder in die Schule erleichtern!
Unser Land, so wissen wir alle, hat sich verändert durch Zuwanderung. Und dieser Prozess hält weiter an. Es ist vielfältiger, damit aber auch unübersichtlicher geworden. Manche Bürger empfinden Angst deswegen. Aber Angst bringt uns nie weiter, weder im Politischen noch im Menschlichen. Angst lähmt. Was uns weiterbringt, sind Respekt und Neugier. Die Anerkennung, dass es selbstverständlich und gut ist und schon immer so war, dass in unserem Land Verschiedene leben. Schauen wir, wie viel schon gelungen ist im Zusammenleben. Und reden wir, wo nötig, offen, aber auch vorurteilsfrei darüber, was wir voneinander erwarten, ob Deutsche oder Nicht-Deutsche, egal welcher Herkunft.
Wir müssen voneinander erwarten können, dass sich jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten anstrengt, etwas aus dem eigenen Leben zu machen und dabei auch das allgemeine Wohl im Blick zu behalten. Wir wollen dabei auch nicht verschweigen, wo sich in diesem Land noch Strukturen verändern müssen. Zum Beispiel, um auch den Kindern gute Startchancen zu geben, deren Eltern das nicht tun oder nicht tun können, eben weil sie schlecht Deutsch sprechen oder weil sie sich im hiesigen Bildungssystem nicht orientieren können, oder weil ihnen finanzielle oder andere Ressourcen fehlen.
Meine Damen und Herren, kürzlich hat mir eine junge, türkischstämmige Frau, Mitglied der Jungen Islamkonferenz, die ich im Schloss Bellevue in Berlin empfangen habe, etwas eingeprägt. Sie hat mich aufgefordert: "Erklären Sie allen, dass dieses Land sich wandelt und dass es dadurch nicht beliebiger wird, sondern selbstbewusster, wenn es sich im Spiegel betrachtet und irgendwann die Vielfalt als etwas typisch Deutsches anerkennt." Diesen Satz habe ich mir eingeprägt und ich möchte in dieser historischen Stunde für Sie, liebe Neubürgerinnen und Neubürger, daran anknüpfen. Irgendwann werden wir die Vielfalt als etwas typisch Deutsches begreifen. Und vielleicht, Frau Ministerpräsidentin, ist dies eine Region unseres gemeinsamen Heimatlandes, wo das am ehesten gelingt.
Ob Sie etwas an sich kennen, was man ansonsten landläufig als "typisch deutsch" bezeichnet, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die heute dazukommen, das weiß ich nicht. Ich kann mir aber denken, dass es für einige von Ihnen ein längerer Prozess war, bis Sie hierher kamen, in diesen Saal, zu dieser Zeremonie. Manche sind vielleicht auch ein wenig aufgeregt: Wie wird es sein, wie bei den Behördengängen damals – oder ist es etwas netter? Ich weiß nicht, ob alle Deutschen, die hier Eingeborene sind, diesen Einbürgerungstest eigentlich bestehen würden. Aber ich will dieser Frage nicht intensiver nachgehen. Ich bin auch bei der Beherrschung der deutschen Sprache nicht sicher, ob wir da nicht bei manchem Eingeborenen nachhelfen müssten. Ist ja doch eine schwierige Sprache und ich habe Verständnis für jeden, der längere Zeit braucht, um sich dieser Sprache wirklich vertieft anzunähern.
Auch wenn ich das jetzt ein bisschen ins Lustige gezogen habe – wir wollen nicht vergessen, dass es für manche ein Prozess war, in dem es auch Schmerzen gibt. Ich lasse etwas hinter mir und gehe auf etwas Neues zu. Das ist nicht immer nur fröhlich. Das ist manchmal schwer und manchmal denkt man auch, dass man etwas hinter sich lassen muss, was man ruhig behalten soll. Eine kulturelle Prägung, vielleicht einen Glauben, ein Netzwerk. Heimat, das sind nicht nur Bäume, Städte und Steine, das sind auch Menschen, die da noch sind, wo ich jetzt nicht mehr bin. Und all das nehmen Sie ja mit und Sie sollen nicht das Gefühl haben, dass Sie all das, was Sie einmal kulturell geprägt und zu dem Menschen gemacht hat, der Sie sind, dass Sie all das einfach wegschmeißen müssen. Dann würden wir uns ja von einem Teil unseres Herzens trennen müssen. Von Emotionen, die uns ausmachen – und das alles wollen wir nicht. Sie wollen uns ja bereichern mit Ihren Prägungen.
Und nun nehmen wir Sie gerne in die deutsche Staatsbürgerschaft auf. Wir fühlen uns bereichert dadurch, dass Sie zu uns kommen wollen.
Noch ein Wort zu den Saarländern. Wenn es darum geht, dass wir Verschiedenheit als Wert anschauen, dann dürfen natürlich auch die unterschiedlichen Länder der Bundesrepublik Deutschland sich ihrer Verschiedenheit nicht schämen, sondern sie müssen einbringen, was sie an besonderer Prägung haben. Und darum ist es mir hier wichtig, dass mit dieser engen deutsch-französischen Verbindung, die es auf ökonomischer, kultureller und politischer Ebene gibt, dass da eine saarländische Besonderheit existiert, die gerade auch hilfreich ist für Integrationsprogramme.
Wenn wir über Saarländer, die anderen Deutschen, über Europäer und über Zuwanderer sprechen, merken wir, dass wir eigentlich – wenn wir genau hinschauen –, niemals nur eine Identität haben. Kein Mensch ist nur das Eine, sondern er ist auch etwas Anderes. Identitäten, so lernen wir in den letzten Jahrzehnten intensiver als vorher, Identitäten sind vielfältig, sie wandeln sich auch und sie überschneiden sich.
Was ich mir wünsche, ist, dass Sie sagen können: Ich nehme die deutsche Staatsbürgerschaft mit Freude an, und ich bin stolz auf dieses Land. Und wenn Sie das sagen können, dann sind Sie in einer Weise mit uns verbunden, dass immer mehr Deutsche auch sagen können, wir sind stolz auf die, die unsere Neubürger sein wollen. Wir lieben dieses Land ja nicht deshalb – und da unterscheiden wir uns nicht – weil es so absolut vollkommen wäre, sondern wir lieben und wir achten es, wir geben ihm unser Zutrauen und unser Zutun, weil es uns die Möglichkeit gibt, mitzutun, mitzugestalten und mitzuverantworten. Es lässt uns Bürger sein.