Es ist nicht ohne Hintersinn, dass meine erste Einladung an Sie alle uns in das Bundesland Sachsen führt. Sie haben eben gespürt, dass ein Selbstbewusstsein hier im Raum schwebte, das einige von uns ihr Leben lang nicht erlangen werden. Das ist aber völlig normal, das gehört zum sächsischen Wesen. Also, es begegnet uns heute nicht nur kultivierte Küche und Sie sind nicht nur umgeben von Kunst, sondern Sie begegnen einem besonderen Menschenschlag der Deutschen. Dieses Selbstbewusstsein, von dem ich gerade rede und das Sie erlebt haben, das ist nicht selbstverständlich für den Osten Deutschlands.
Ich zum Beispiel komme aus Mecklenburg-Vorpommern. Das ist eine Gegend, die sehr schön am Meer gelegen ist, aber sehr dünn besiedelt. Weshalb seit Jahrzehnten Heerscharen von Sachsen ab und zu an die Ostsee kommen.
Diese Menschen dort sind anders geprägt. Sie haben eine Mentalität der norddeutschen Tiefebene und keine Mittelgebirgsmentalität wie die Menschen hier. Ich stelle mir einmal vor, ich hätte nicht über 40 Jahre lang diesen Teil Deutschlands in einer kommunistischen Zwangsherrschaft gesehen, sondern das Land hätte sich dynamisch weiterentwickeln können. Vom Beginn des
20. Jahrhunderts bis jetzt.
Wenn Sie sich das einen Moment vorstellen, dann würde Ihnen hier eine Industrie- und Mittelstandsgesellschaft begegnen, eine blühende Landschaft der Handwerksbetriebe. Nicht nur vereinzelte Leuchttürme, sondern so ein Land wie etwa Baden-Württemberg und Bayern, die heute als die großen ökonomischen Motoren dargestellt werden. Nicht nur ökonomisch, auch wissenschaftlich ist eine Menge los. Viele Deutsche bewundern dieses Bundesland. Und es wäre völlig auf Augenhöhe, wenn wir uns vorstellen, dass diese Entwicklung, dieses Auslöschen einer ganzen Industrie- und Verantwortungstradition nicht gewesen wäre. Denn es sind ja nicht nur Industriestrukturen, die man zerstört, wenn man den Mittelstand löscht. Es sind ja auch Haltungen, nämlich die Haltung, eigenverantwortlich ins Leben einzugreifen. Und dieses beständige Training von Eigenverantwortung, das erzeugt dann Bürgergesellschaften. Es erzeugt lebenswerte Räume, nicht nur, weil die Regierungen und die Institutionen gut sind, sondern weil die Menschen aktiv sind.
Wenn man sich nun vorstellt, dass Sachsen wie ganz Ostdeutschland diese Entwicklung hat nicht mitmachen dürfen, zu mehr Eigenständigkeit, zu mehr Selbstverantwortung, zu mehr bürgerschaftlichem Engagement, dann bewundern wir umso mehr all die Dinge, die hier entstanden sind. Ich finde es völlig richtig, dass der Herr Ministerpräsident auf die großen Traditionen Sachsens verwiesen hat. Aber ich bin in der Tat noch mehr beeindruckt davon, dass aus diesem Landstrich die friedliche Revolution mit dem großartigen „Wir sind das Volk“ herausgebrochen ist. Das konnte nirgendwo anders zuerst geschehen als hier in Sachsen mit dem, trotz sehr langer Zeit von Diktatur, immer noch vorhandenen Selbstbewusstsein der Menschen, die hier leben.
So können wir uns das auch erklären, dass es eine Selbstsicherheit der Bürger gibt. Ich habe mir aufschreiben lassen: Der Schriftsteller Umberto Eco hätte geschrieben, dass hier in Dresden die Bürger mit Recht stolz sind auf ihre Stadt. Sie erklärten es einem pausenlos, bevor man es selber begreift.
Besonders stolz sind sie, dass eben vieles, was hier einmal zerstört war, wieder aufgebaut wurde. Wenn wir die Stadt besuchen, wissen wir von dem furchtbaren Ende dieser einst so schönen Stadt im Krieg, den Deutschland angezettelt hatte.
Nun sehen wir, wie sehr Stadt und Land und darüber hinaus viele helfende Hände in ganz Deutschland sich bemühen, die Schönheit Dresdens wieder herzustellen. Ich bin sicher, meine Damen und Herren Botschafter, dass mancher von Ihnen hier schon in einem der berühmten Museen war oder in der Semperoper.
Aber wenn wir nachher zur Frauenkirche hinübergehen, kriegen wir noch einmal einen Eindruck davon, wie intensiv aus der Mitte der Bürgerschaft um die Wiedererrichtung dieser Kirche gerungen worden ist. Für die Kirche, die Evangelische Landeskirche, war die Vorstellung, diese Ruine wieder zu errichten, irgendwie verwegen. So verwegen konnten sie nicht mehr denken und glauben. Für die Stadtväter war das auch ein Problem und für das Land sicher auch, wo sollte das ganze Geld herkommen? Geht das überhaupt? Und ist nicht diese Ruine als Mahnmal auch schon mit den Dresdnern zusammen in die Jahre gekommen? Gehört sie als Mahnmal nicht zur Kultur dieses Landes? Zur Kultur eines Landes gehört ja auch, was es an Ungutem, an Bösem ins Land gebracht hat. Und wir haben diesen Krieg über Europa und die Welt gebracht und sind dann fürchterlich bestraft worden. Würde Erinnerung schwinden, wenn man eine solche Gedenkstätte löscht und wieder einen schönen Kirchenbau daraus macht?
Aus der Mitte der Bürgerschaft heraus ist dann eine Dynamik entstanden, die ansteckend gewirkt hat. Es war für mich schön zu sehen, dass Bürger, Künstler, Menschen aus Stadt und Kirche, dann schließlich Unternehmungen zusammengestanden haben und mit viel Phantasie und im Netzwerk nationaler und internationaler Freunde diesen großartigen, schönen Bau wieder errichtet haben. Und die Dresdner haben nicht skeptisch beiseite gestanden, sondern sie haben dieses schöne Gebäude in ihr Herz geschlossen, sie haben es freudig begrüßt, als es wieder errichtet war. Das Haus, die Kirche lebt.
Wir werden heute Sankt Afra, eines der herausragenden Gymnasien Sachsens, besuchen. Und sicher sind unter uns viele Menschen, die voller Respekt auf die Leistungen schauen, die die Sachsen im Bereich Bildung erlangt haben.
Ich habe, als ich mich auf den Besuch vorbereitete, gelesen, dass der Freistaat Sachsen sehr viele Landeskinder verloren hat, die wahrscheinlich dorthin gegangen sind, wo die Arbeit war. Auch das ist übrigens ein sehr interessantes Zeichen für Mobilität, dass man nicht im Straßengraben sitzt und den Mond anheult, wenn es dunkel wird. Sondern dass man schaut, wo finden wir Licht, wo finden wir Arbeit, wo finden wir Zukunft.
Viele kommen zurück, wenn sich hier Möglichkeiten ergeben, wieder als Sachse unter seinesgleichen zu leben. Aber ich sprach eben davon, dass wir die Bildung würdigen, in dem wir die Schule Sankt Afra aufsuchen. Es erfüllt mich mit einem großen Respekt, dass Sachsen, anders als andere Länder, gerade auf diesem Gebiet nicht, oder ich sage mal richtiger, kaum spart. Dass es den Sachsen gelungen ist, hier mit wirklich etablierten Ländern des Bundes in einem Wettbewerb zu stehen und den sogar zu gewinnen. Das zeugt von diesem Selbstbewusstsein.
Sie wissen, dass wir irgendwohin müssen mit der Innovationskraft und mit den Potenzialen, die in den Menschen stecken. Und das ist ein Signal für die ganze Region, wenn Bildung für das Wichtigste gehalten wird. Deshalb gehört der Besuch der Schule ganz unmittelbar damit zusammen, dass wir hier Kultur würdigen und dass wir die Industrie und die industriellen Potenziale würdigen.
Ich habe schon daran erinnert, dass 1989 die friedliche Revolution in der DDR von den Straßen Sachsens ausging. Wir sind daran gewöhnt, an Leipzig zu denken, aber das revolutionäre Potenzial war in Dresden genauso groß. Für viele Menschen in der DDR war es sehr wichtig, angeschlossen zu sein an dem Informationskreislauf. Hier in Dresden konnte man das Westfernsehen nicht gucken, aber es ist nicht so, dass es deswegen hier besonders wenig Oppositionelle gab. Hier gab es sogar eine besonders brutale Attacke der Staatsmacht auf Bürgerinnen und Bürger, die sich anstellten, um zu sehen, wie ihre Landsleute von Prag aus über die DDR in den Westen gefahren wurden. Da hätte die friedliche Revolution leicht unfriedlich sein können.
Ich habe mich gefreut, als ich kürzlich gelesen habe, dass eine alte Tradition möglicherweise wieder aufwachen kann hier in Sachsen. Und zwar der Bergbau. Sie haben von den Silberschätzen einstiger Zeiten gesprochen, die für den Reichtum verantwortlich waren. Jetzt, angesichts der Knappheit von Rohstoffen, von Erzen, seltenen Erden, gibt es neue Explorationen, die uns erwarten lassen, dass irgendwann wieder im Erzgebirge Bergbau betrieben wird.
Es ist eine wirklich eigentümliche Mischung von sehr vielen recht überzeugten Protestanten, einer städtisch säkularen Gesellschaft, einigen wenigen interessanten katholischen Einsprengseln, einer Hochkultur, verbunden mit sehr viel Volkstümlichkeit und allerlei Gesang und Dialekt, den man im Norden immer nur schwer versteht. All das verbindet sich zu einer Melange, die ein ganz eigenes Lebensgefühl erzeugt. Und mit Recht sind die Sachsen darauf stolz.
So, liebe Botschafterinnen und Botschafter, Sie merken schon: Es ist mir eine besondere Freude, dass unsere erste gemeinsame Reise hierher nach Sachsen geht. Denn ich möchte ein Präsident sein, der Menschen ermutigt, die eigenen Potenziale zu entdecken, der Angst den Abschied zu geben und aus der Ermutigung Gestaltungskräfte heraus zu entwickeln. Und darum passt mein Ansatz zu dem Lebensgefühl, das Ihnen der Herr Ministerpräsident gerade geschildert hat. Deshalb sehe ich in den aktuellen Krisen, die Europa hat, auch nicht nur ein Faktum, das uns in die Flucht schlagen könnte, uns Angst machen kann. Wenn ich ängstlich werden würde, was nicht besonders wahrscheinlich ist, dann würde ich zur Auffrischung meiner Gemütslage hier in Sachsen einkehren. Weil dann ganz bestimmt Kleinmut wieder gewandelt wird. Gerade in Zeiten, wo wir in Europa kritisch sind gegenüber unseren eigenen Wünschen und Träumen, nämlich mehr Europa zu wagen, gerade in diesen Zeiten freue ich mich, dass alle, die es nötig haben, hier eine Auffrischung des Gemütes erfahren, eine Abkehr von Kleinmut und eine Hinwendung zu den großen Möglichkeiten, die immer noch in uns leben.
Ich werde mich also, wenn nötig, vom Mut der Sachsen anstecken lassen, ich weiß nicht, ob Sie es auch nötig haben, meine Damen und Herren, ich würde es mir niemals erlauben, anzunehmen, dass es Spitzendiplomaten gibt außerhalb Deutschlands, denen es an Mut mangelt. Es ist ja vielleicht auch nicht die erste Tugend, die man von einem Diplomaten erwartet. Vielleicht Analysefähigkeit, taktisches Geschick, sorgsame Wahl der Worte, Zurückhaltung, all das, aber im politischen Raum geht es nie ohne Mut, wenn neue Ziele erreicht werden sollen.
Und deshalb ist der Besuch in Sachsen für uns alle etwas Schönes. Wer das nun heute nicht mitkriegt, wovon ich spreche, darf gerne als Privatmann wiederkommen, als Opern- oder Kunstliebhaber, als Bergsteiger in der Sächsischen Schweiz. Er muss sich nicht fürchten, er ist hier gut aufgehoben.
Jetzt freue ich mich auf die sächsische Küche, von der war heute noch nicht die Rede. Aber das war wohl bewusst so, wir lassen uns überraschen. Und ich freue mich auf einen langen und schönen Nachmittag bis heute Abend auf Schloss Wackerbarth.
Herzlichen Dank!