Bundespräsident Joachim Gauck hat am 5. März der griechischen Tageszeitung "Kathimerini" im Vorfeld des Staatsbesuchs in der Hellenischen Republik ein Interview gegeben.
Sie sind ein überzeugter Europäer und Urheber eines leidenschaftlichen Appells für mehr Europa
. In einer wichtigen Rede haben Sie gesagt, Deutschland dürfe dem Rest Europas nicht seinen Willen aufzwingen. Griechenland hat in den vergangenen Jahren ja viel gelitten unter der Schuldenkrise – glauben Sie, dass Deutschland erwägen sollte, entweder mit einem Wachstumspaket
oder einem großzügigen Schuldenerlass zu helfen?
Viele Griechen müssen enorme persönliche Belastungen aushalten, zum Beispiel wenn Familien zerrissen werden, weil ein Elternteil nur in hunderten von Kilometern Entfernung eine Anstellung findet – falls überhaupt. Oder wenn junge Menschen keine Arbeit finden und keine persönlichen Perspektiven mehr sehen. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Menschen verzweifeln, wenn das Geld zum Kauf von Medikamenten oder zur Bezahlung der Stromrechnung fehlt.
Die griechische Gesellschaft leistet viel, die Menschen entbehren viel. Umso mehr freue ich mich darüber, dass sich erste zaghafte wirtschaftliche Erfolge abzeichnen. Die EU prognostiziert zum ersten Mal seit langem wieder ein Wachstum für Griechenland. Solche positiven Signale geben Mut und Kraft für die anstehenden großen Herausforderungen. Und um diese zu meistern, bedarf es Zuversicht und Willensstärke zu Reformen und strukturellen Veränderungen. Ich möchte alle Griechen ermutigen, diesen schwierigen Weg weiter zu gehen – und zwar nicht, um Europa zu Willen zu sein, sondern im ureigenen griechischen Interesse.
Wir sehen an anderen europäischen Ländern, dass eine Gesundung von Staat und Wirtschaft gelingen kann, wenn tiefgreifende Reformen tatsächlich in Angriff genommen und umgesetzt werden. Und ich bin sicher, dass Deutschland und andere europäische Länder Griechenland in diesem Fall auch weiter unterstützen werden.
In Ihrer Rede vom Februar 2013 haben Sie gesagt: Aus tiefer innerer Überzeugung kann ich sagen: Mehr Europa heißt nicht: deutsches Europa. Mehr Europa heißt für uns: europäisches Deutschland!
Ist die Art, wie Deutschland die Krise in der Eurozone handhabt, mit Ihrer Zukunftsvision vereinbar?
Die in der Schuldenkrise getroffenen Maßnahmen beruhen auf gemeinsamen Beschlüssen aller Partner in der Eurozone beziehungsweise der Europäischen Union. Vor zehn Jahren standen wir selbst vor immensen Herausforderungen – Deutschland galt als der kranke Mann von Europa. Damals ermahnten uns unsere europäischen Partner, aus der Selbstlähmung heraus zu finden und beherzte Schritte zu gehen. Die Maßnahmen zur Ankurbelung von Wirtschaft und Beschäftigung waren schmerzhaft und sind es für einen Teil der Bürger immer noch. Aber diese Reformen haben uns gestärkt für die Krisen der vergangenen Jahre.
Es gibt zwar keine Reform-Blaupause
. Wir wissen, dass in jedem Land andere Ausgangsbedingungen und Belastungsgrenzen gelten, dass unterschiedliche ökonomische Konzepte existieren und nicht nur ein Weg zum Ziel führt. Aber Erfahrungen anderer können trotzdem hilfreich sein. Und dort, wo wir deutsche Erfahrung sinnvoll einbringen können, helfen wir und das sehr gerne. Die europäischen Partnerländer unterstützen Griechenland auf seinem Weg in vielfältiger Weise. Ich komme nach Griechenland, um auch über den Deutsch-Griechischen Zukunftsfonds zu sprechen. Und ich freue mich, dass es nun ein Deutsch-Griechisches Jugendwerk geben wird. Die Bundesregierung hat ihre Unterstützung nicht nur in Form von Kreditzusagen geleistet, sondern auch Hilfe bei den Strukturreformen angeboten. Das deutsche Gesundheitssystem gilt zum Beispiel bei Experten als leistungsstark und effizient. Deshalb arbeiten unsere beiden Länder hier eng zusammen. Auch in anderen Bereichen, in denen es gute Erfahrungen gibt, haben die griechischen Partner unser Beratungsangebot aufgegriffen. Ich freue mich, dass ich im Rahmen meiner Reise ein Pilotprojekt zur Stärkung der beruflichen Bildung kennenlernen kann. Auch auf kommunaler und zivilgesellschaftlicher Ebene werden wir weiterhin zusammenarbeiten.
Sicher ist Ihnen nicht entgangen, dass in Griechenland und anderen Ländern, die von Sparmaßnahmen und der Schuldenkrise betroffen sind, der Extremismus auf dem Vormarsch ist. Antideutsche und antieuropäische Gefühle haben ebenfalls Konjunktur. Macht Ihnen dieser Trend und sein Einfluss auf die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai Sorgen?
Natürlich machen mir antideutsche und antieuropäische Tendenzen Sorge. Am besten entziehen wir diesen den Boden, indem wir gemeinsam immer wieder deutlich machen: Europa, ein gemeinsames Europa – und nicht die Rückkehr zu nationalstaatlichem Handeln – bietet die besten Möglichkeiten zur Entwicklung und Entfaltung all unserer Staaten: Die EU kann einzelnen Ländern bei der Überwindung von Krisen beistehen. Und die europäische Staatengemeinschaft kann weit besser, als einzelne Nationalstaaten dies jemals könnten, Antworten auf die großen aktuellen Herausforderungen finden – im Bereich der Umwelt ebenso wie bei der Flüchtlingsfrage, der Entwicklung von mehr eigener europäischer Sicherheit im digitalen Bereich und vielen anderen Bereichen.
Zudem dürfen wir nicht vergessen: Das europäische Projekt ist weit mehr ist als ein großer Markt mit einer gemeinsamen Währung: Europa ist die Grundlage für unser Leben in Frieden und Sicherheit, Arbeit und Wohlstand. In der EU leben wir in einer weltweit einzigartigen politischen und kulturellen Wertegemeinschaft. Ich hoffe, dass so viele Europäerinnen und Europäer wie möglich Ende Mai von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen werden. Wer Europa mitgestalten will, muss an die Urne gehen.
Deutschland wird vom Alptraum der Erinnerung an die Nazizeit verfolgt. Griechenland scheint mit einem ähnlichen Phänomen konfrontiert zu sein. Wie denken Sie darüber, und wie sollten Ihrer Meinung nach Griechenland und Europa auf den Vormarsch des Neonazi-Extremismus reagieren?
Ich registriere mit Unbehagen, dass alte Vorurteile wieder aufleben, die wir eigentlich für überwunden hielten. Die Art und Weise, in der einige deutsche und griechische Medien in den vergangenen Jahren über unsere beiden Länder berichtet haben, bedaure ich sehr. Für die Problemlösung hilft es nicht, Ressentiments zu schüren und Völker gegeneinander auszuspielen. Es ist zwar verführerisch, die Ursache für Probleme nach außen zu verlagern – dann allerdings wird eine selbstkritische Reflexion erschwert oder umgangen.
Wir dürfen die Probleme nicht schönreden, sondern müssen sie offen benennen und gleichzeitig geduldig für Lösungen werben, die mit unseren europäischen Werten in Einklang stehen – auch und besonders im Umgang mit Flüchtlingen und Minderheiten.
Sie haben sich in Ostdeutschland aktiv gegen den Kommunismus engagiert und eine entscheidende Rolle im Zusammenhang mit den Stasi-Unterlagen gespielt. Wie beurteilen Sie den möglichen Wahlsieg einer links gerichteten Partei in Griechenland, der zahlreiche Altkommunisten angehören und die eine scharfe Rhetorik gegenüber Deutschland pflegt?
Ich möchte die Politik einzelner Parteien nicht kommentieren. Ich bin in einem System von Planwirtschaft und Diktatur aufgewachsen. Deswegen schätze ich eine Demokratie, die keiner Ideologie verpflichtet ist und keinem Populismus frönt. Und ich schätze das System der Sozialen Marktwirtschaft, wie wir es in der Bundesrepublik Deutschland haben. Sie verbindet wirtschaftliche Freiheit mit sozialer Verantwortung. Das ist eine wertvolle Verbindung zweier wichtiger Prinzipien. In der Sozialen Marktwirtschaft hat jeder Einzelne Freiraum für die Entfaltung seiner Talente und Fähigkeiten. Er muss sich hierfür engagieren, erfährt aber gleichzeitig den Schutz der Solidargemeinschaft.
Viele politische Parteien beharren darauf, dass Griechenland starke Argumente für deutsche Reparationszahlungen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg hat. Halten Sie diese Ansprüche für berechtigt, und hätte es Aussicht auf Erfolg, wenn Griechenland diesen Kurs weiter verfolgt?
Griechenland hat im Zweiten Weltkrieg eine besonders brutale deutsche Okkupation erlebt. Dieser Krieg hat in Griechenland tiefe Wunden hinterlassen. Griechische Juden wurden systematisch umgebracht, auch nicht-jüdische Griechen erschossen, gehängt, auf bestialische Weise getötet, viele Griechen kamen in der Hungersnot um.
Der begangene Zivilisationsbruch verpflichtet uns Deutsche zu einer besonderen Verantwortung. Deutschland ist sich dessen bewusst, und wir wissen, dass unsere Zukunft in der friedlichen Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn und Freunden liegt. Die rechtliche Frage bezüglich der Reparationen möchte ich hier nicht erörtern, aber lassen Sie mich sagen: Die moralische Schuld wollen wir weder leugnen noch relativieren.
In diesem Jahr erinnern wir uns an den Anfang des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren, den das nationalsozialistische Deutschland begonnen hat. Ich möchte mich bei meinem Staatsbesuch vor den Opfern verneigen, die von Deutschen ermordet wurden. Gemeinsam mit Präsident Papoulias werde ich nach Lingiades reisen, um dort der Opfer eines grausamen Massakers zu gedenken. Ich bin Ihrem Präsidenten dankbar, dass er mit mir diesen Ort des Schreckens besuchen wird. Ich werde auch mit Angehörigen der jüdischen Gemeinde von Ioannina sprechen, um an die Deportation und Ermordung der griechischen Juden zu erinnern. Deutschland bedauert die Opfer des Krieges zutiefst.
Aber während viele Deutsche von den Verbrechen in anderen Ländern wissen, sind ihnen die Geschehnisse in Griechenland weitgehend unbekannt. Hier besteht ein deutlicher Nachholbedarf in Deutschland. Wissen über die damaligen Kriegsgräuel und die Verfolgung der Griechen zu schaffen, ist meines Erachtens die wichtigste Aufgabe in der nächsten Zukunft – durch Ausstellungen, geschichtswissenschaftlichen Austausch, durch ein Zeitzeugenarchiv der Unterdrückten und Widerständler – wozu auch das Wissen über jene Deutsche zählt, die auf der Seite des griechischen Widerstands aktiv waren.
Viele Griechen fühlen sich von Deutschland so behandelt, wie Deutschland von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs behandelt wurde, und glauben, Griechenland könne sich in eine zweite Weimarer Republik
verwandeln. Sie argumentieren, Deutschland müsse sich gegenüber Griechenland den aufgeklärteren und positiveren Ansatz zu eigen machen, den die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgten. Was denken Sie darüber?
Vielleicht denken Sie daran, dass eine Nation, der Regelungen auferlegt werden, die sie als ungerecht empfindet, in eine oftmals heftige Abwehr zu verfallen droht. Eine direkte Parallele kann ich hier aber nicht erkennen. Vergessen wir nicht: Deutschland wurde 1919 für seine Kriegspolitik bestraft. Griechenland wird heute aufgefordert, Regeln einzuhalten, zu denen es sich mit dem Eintritt in die Europäische Gemeinschaft und den Euroraum selbst verpflichtet hat.
Meines Erachtens erfolgt die Solidarität, die Europa heute Griechenland leistet, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen durchaus in einem ähnlichen Geiste wie die Wiederaufbauhilfe, mit der die Alliierten Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf die Beine halfen. Wir alle in Europa wollen ein wettbewerbsfähiges, wohlhabendes, selbstbewusstes Griechenland, das in und mit der Europäischen Union seine Chance sieht.
Europa ist für uns keine Option unter mehreren: Es ist die Lehre aus unserer Geschichte und die beste Zukunft, die wir haben.
Die Fragen stellte Xenia Kounalaki