Weniges wird in der kulturellen Welt als eine so große Katastrophe erlebt wie der Brand einer Bibliothek. Und so war es auch für jeden, der sich auch nur ein bisschen für Kultur interessiert, ein Schock, als am 2. September 2004 die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Flammen stand und wertvolle, einmalige Bestände für immer ein Raub des Feuers wurden. Den Schrecken dieser Brandnacht hat Michael Knoche in seinem Buch eindrucksvoll geschildert - es können einem noch beim Lesen die Tränen kommen, wie auch den Augenzeugen in jener Nacht.
Warum hat dieses Ereignis so viele Menschen so stark berührt? Weil Bibliotheken ganz besondere Orte sind. Dass die Menschen das immer noch wissen, auch im audiovisuellen und digitalen Zeitalter, das zeigte die große Trauer und die Bestürzung über den Brand und über den unrettbaren Verlust von Teilen unserer Kultur und Tradition, eine Trauer nicht nur hier in Weimar, und nicht nur in Thüringen, sondern in ganz Deutschland und weit darüber hinaus.
Wie viel Bedeutung und Wertschätzung die Menschen diesem besonderen Ort Bibliothek entgegenbringen, das zeigt auch die große Spendenbereitschaft zugunsten des Wiederaufbaus. Neben Bund, Land, Stiftungen und Unternehmen haben sich mehr als zwanzigtausend Bürger an der beispiellosen Hilfsaktion beteiligt. Dafür möchte ich allen sehr herzlich danken, den Großen wie den Kleinen. Diese gemeinsame Anstrengung ist ein überragendes und weithin leuchtendes Zeichen für das kulturelle Engagement in unserem Land. Darauf können wir alle stolz sein. Heute können wir die Herzogin Anna Amalia Bibliothek wieder eröffnen. Das ist, trotz der unwiederbringlichen Verluste, ein Freudentag für die Kulturnation Deutschland.
Ich will aber auch gleich hinzufügen: Wir haben heute erst ein erstes Etappenziel erreicht. Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek braucht weiterhin unsere Unterstützung, damit der Wiederaufbau des Buchbestandes so gut gelingt wie die Sanierung des Gebäudes. Das nächste Etappenziel - der Abschluss der Buchrestaurierung - soll 2015 erreicht werden. Wenn Sie einmal ein solch verkohltes und verklebtes Werk mit eigenen Augen gesehen haben, dann verstehen Sie, welche Mühe es bei jedem einzelnen Stück kostet, es wieder nutzbar zu machen. Ich wünsche mir sehr, dass das Engagement nicht nachlässt. Wir haben große Schätze zu bewahren und wiederzugewinnen. Und wir können weiter alle daran arbeiten.
Bibliotheken sind ganz besondere Orte. Vor Jahren gab es einmal einen Bestseller, in dem eine Bibliothek sozusagen die Hauptrolle spielte: "Der Name der Rose" von Umberto Eco. Die meisten hier werden das Buch kennen. Die Geschichte spielt im vierzehnten Jahrhundert in einem italienischen Kloster, dessen geheimes Kraftzentrum die Klosterbibliothek und das Skriptorium ist.
Von dieser Bibliothek geht eine Macht aus. Zum Guten und zum Bösen. Niemand außer dem jeweiligen Bibliothekar darf sie betreten. Von ihm heißt es: "Er widmet sein Leben dem fortwährenden Kampf gegen die Kräfte des Vergessens, des Feindes der Wahrheit."
Der Abt erklärt seinem Besucher William von Baskerville, warum die Bibliothek für das Kloster so wichtig ist: "Ein Kloster ohne Bücher ist wie ein Gemeinwesen ohne Habe, eine Festung ohne Truppen, eine Küche ohne Geschirr, ein Tisch ohne Speisen, ein Garten ohne Pflanzen, eine Wiese ohne Blumen, ein Baum ohne Blätter ..."
Was der Abt hier für die kleine Gemeinschaft eines mittelalterlichen Klosters zitiert, das gilt, so glaube ich, auch heute noch und für die Gesellschaft insgesamt: Ein Land ohne Bibliotheken ist wie ein Gemeinwesen ohne Habe, ein Garten ohne Pflanzen ... .
Woher kommt die große Wertschätzung der Bibliotheken und damit des Buches, das die Bibliotheken beherbergen? Ich denke, das hat damit zu tun, dass das Buch zur Metapher für Erkenntnis und Verstehen schlechthin geworden ist - und dass das Lesen eine Grundmetapher für Verstehen überhaupt ist. Was immer wir verstehen wollen, erscheint uns wie ein Buch, eine Schrift, die wir zu lesen oder zu entziffern lernen müssen.
Der Philosoph Hans Blumenberg hat einem Buch über dieses Phänomen den schönen Titel "Die Lesbarkeit der Welt" gegeben. Selbst für die exakten und auf Formeln und Abstraktion beruhenden Erkenntnisse der Naturwissenschaften benutzen wir die Metapher von Schrift und Buch, um diesen Erkenntnisprozess zu beschreiben: Die Wissenschaftler lesen im "Buch der Natur", und jetzt, auf der bisher letzten Stufe der fortschreitenden Erkenntnis, lesen sie den genetischen Code, also die Schrift, die jedem Lebewesen seine Form und Struktur "vorschreibt".
Auch von einem Menschen, den wir gut kennen, sagen wir: Wir können in ihm lesen wie in einem offenen Buch.
Die ganze Wirklichkeit als Schrift oder als Buch zu begreifen, also als sprachlich verfasst und durch Sprache erkennbar und aussprechbar, geht auf ganz alte Vorstellungen, vor allem der jüdischen und christlichen Überlieferung zurück.
Nach dem Buch Genesis hat Gott die Welt durch sein bloßes Wort erschaffen: Gott sprach: "Es werde ..." - und es wurde! Dem ganzen Kosmos ist also sozusagen eine sprachliche Struktur eingeschrieben. Diese jüdische Urüberzeugung greift das Christentum mit dem berühmten Anfang des Johannesevangeliums auf: "Am Anfang war das Wort ... Alles ist durch das Wort geworden und nichts, was geworden ist, ist ohne es geworden".
Eine Welt, deren Bauprinzip das Wort ist, ist eine Welt, die im Prinzip vernünftig ist. Das griechische Wort Logos, das Johannes verwendet, bedeutet ja "Wort" und gleichzeitig "Vernunft".
Nach Goethe, von dem hier in Weimar ja ruhig kurz die Rede sein kann, holt denjenigen, der dieses vernünftige Prinzip, diesen Vorrang des Wortes und der Sprache, nicht anerkennt, der Teufel: Faust macht sich daran, den Johannesprolog zu übersetzen. Erst formuliert er wie gewohnt: "Am Anfang war das Wort" - um aber dann zu sagen: "Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen ...". Nach einigem Probieren entscheidet er sich dann für die Version: "Am Anfang war die Tat." Genau danach erscheint ihm Mephisto, der Teufel, und "der Tragödie erster Teil" nimmt seinen Lauf ... .
Der Ort des Wortes ist das Buch. Das Buch ist der Ort, an dem die Welt - durch Zeichen und Schrift - der Vernunft zugänglich wird.
Und wie kostbar und mit unendlicher Sorgfalt und Kunstfertigkeit sind die uns noch überlieferten Handschriften oder Codices oft gefertigt.
Diese Sorgfalt ist nicht an die Handarbeit gebunden. Auch nach der Erfindung des Buchdrucks ist das Buch oft mit solcher handwerklichen Könnerschaft und Liebe hergestellt worden wie wenige andere Gebrauchsgegenstände. Vor wenigen Wochen konnte ich das Bibelmuseum in Münster besuchen und da - um nur ein Beispiel zu nennen - die so genannte "Waltonsche Polyglotte" bestaunen, einen Bibeldruck, der auf jeder Doppelseite den Bibeltext in lateinischen, syrischen, griechischen, koptischen und persischen Versionen bringt. Alle unterschiedlichen Schrifttypen im Bleisatz gesetzt und, wie die heutige Forschung zeigt: fehlerlos. Das Buch als solches ist ein Kunstwerk.
Bibliotheken sind besondere Orte. Das gilt für die Herzogin Anna Amalia Bibliothek natürlich schon einmal wegen ihrer wunderbaren Architektur, dem schönen Rokoko-Saal, aber auch wegen des reichen Bestandes an Büchern und Handschriften, Noten und Landkarten, Globen und Porträtbüsten, der zu unserem nationalen Kulturerbe gehört. Vieles davon ist einmalig.
Auch ihre Geschichte, Anna Amalias Geschichte, macht ihre Einmaligkeit aus. Die glanzvollste Periode der Bibliotheksgeschichte wurde von dem Weimarischen Staatsminister Johann Wolfgang Goethe bestimmt, der 35 Jahre lang auch der oberste Bibliothekar Weimars war. Unter Benutzung dieser Sammlung sind die herrlichsten Werke der deutschen Literatur entstanden. Wieland, Goethe, Herder und Schiller haben aus der Weimarer Bibliothek Bücher entliehen. Diese Bibliothek bildet das geistige Reservoir der Weimarer Autoren. Die meisten der von ihnen persönlich genutzten Bände sind heute noch vorhanden. Und ich freue mich, heute eines in die Hand zu bekommen.
Weimar und die Weimarer Bibliothek bedeuten vielen Menschen eine geistige Heimat. Die Bedrohung dieser inneren Heimat ist es gewesen, die die großartige Hilfsbereitschaft ausgelöst hat, und das ist doch das eigentlich Gute. In Weimar schlägt das kulturelle Herz Deutschlands. Von Thüringen und den ehemals anhaltinischen Gebieten ist so viel ausgegangen, womit Deutschland die Welt beschenkt hat. Luther, Bach, Goethe, das Bauhaus und vieles mehr. Hier hat sich in drei Jahrhunderten eine geistige Produktivität entfaltet, für die es in Europa kaum Parallelen gibt. Es ist Aufgabe unserer Generation, die Denkmäler und historischen Sammlungen von nationaler Bedeutung für die Zukunft zu sichern. Paul Raabe, der Doyen aller deutschen Bibliothekare, hat Recht, wenn er sagt: "Weimar ist als eine europäische Kulturstadt eine gesamtstaatliche Aufgabe."
Wenn Bibliotheken so beeindruckend schön sind wie die Herzogin Anna Amalia Bibliothek, dann ist es leicht, von ihnen zu schwärmen. Ich darf als Bundespräsident aber diesen Festtag nutzen, um wenigstens einen Seitenblick auf den bibliothekarischen Alltag in unserem Land zu werfen.
Zuerst die gute Nachricht: Es gibt noch Bibliotheken in Deutschland. Und dann die noch bessere Nachricht: Es gibt fantastische Bibliothekare in Deutschland. Ich hatte vor einigen Monaten ein ausführliches Gespräch mit vierzehn Bibliothekarinnen und Bibliothekaren aus ganz Deutschland und aus sehr unterschiedlichen Einrichtungen. Von der großen Zentral- und Landesbibliothek Berlin über die Universitätsbibliothek Bielefeld bis zur Stadtbücherei Chemnitz. Selten habe ich eine Gruppe von so engagierten Menschen erlebt, die mit Leib und Seele für ihre Sache arbeiten. Das hat mich sehr beeindruckt - und mich auch optimistisch gestimmt.
Ich habe von so vielen Ideen und Projekten erfahren, wie Bibliotheksarbeit mit Leben erfüllt werden kann, gerade im Hinblick auf Kinder und Jugendliche. Ich will hier nur den Sommerleseclub erwähnen, ursprünglich eine Initiative aus der Stadtbibliothek Brilon im Sauerland. Wenn Kinder nachweisen, dass sie in den Sommerferien drei Bücher gelesen haben, bekommen sie dafür ein Zeugnis und es wird auf die Zeugnisnote angerechnet. Diese Zusammenarbeit zwischen Schulen und Bibliotheken ist vorbildlich - inzwischen machen 150 Bibliotheken bei dieser Initiative mit. So etwas ist großartig und ich wünsche mir noch mehr Nachahmer.
Vorbildlich ist auch das ehrenamtliche Engagement von so vielen - vor allem Frauen - in der Büchereiarbeit. Für die Ergänzung der öffentlichen Bibliotheken spielt zum Beispiel das Netzwerk der 2.500 katholischen öffentlichen Büchereien des Borromäusvereins mit ihren 23.000 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine bedeutende Rolle.
Noch kann man sagen: Bibliotheken bilden in Deutschland ein flächendeckendes Netz. Und das ist gut: Bibliotheken fördern die Kompetenz, sich selbständig den Zugang zu Informationen in allen medialen Formen zu beschaffen. Bibliothekarinnen und Bibliothekare bieten Orientierung - in realen und virtuellen Medienwelten. Auch im unendlichen Meer des Internet sind Bibliothekare und Bibliotheken hilfreiche und kompetente Lotsen.
Die deutschen Bibliotheken - und zwar alle, von der hochspezialisierten Forschungsbibliothek bis zur kleinen Stadtteilbibliothek - sind ein unverzichtbares Fundament in unserer Wissens- und Informationsgesellschaft. Die öffentlichen Bibliotheken sind weder ein Luxus, auf den wir verzichten könnten, noch eine Last, die wir aus der Vergangenheit mitschleppen: sie sind ein Pfund, mit dem wir wuchern müssen.
Bei dem Gespräch mit den Bibliothekaren habe ich natürlich auch von den Versäumnissen gehört - und ich nutze diesen Festakt gern, um auch darauf einmal öffentlich hinzuweisen:
Auf dem Land ist das Netz öffentlicher Bibliotheken zum Teil ziemlich dünn - und in manchen Gegenden kann man von einem regelrechten Bibliothekssterben sprechen.
Nur etwa 15 Prozent der Schulen verfügen über eine eigene Bibliothek, und selbst diese Bibliotheken erfüllen nur selten bibliothekarische Mindeststandards.
In den Universitätsbibliotheken fehlen oft die notwendigen Mittel für ausreichende Neuanschaffungen. So müssen Zeitschriftenabonnements abbestellt werden oder Forschungsreihen können nicht weiter bezogen werden. Das entwertet oft den Bestand.
Trotz des wichtigen Beitrags der Bibliotheken für die Bildung und das selbstständige Lernen, fehlt in Deutschland - im Gegensatz zu den erfolgreichen PISA-Ländern - die strategische Verankerung der Bibliotheken als Teil unserer Bildungsinfrastruktur. Durchgängige bildungspolitische Zielsetzungen gemeinsam mit dem Bibliothekswesen sind heute weder auf Länderebene noch in der Politik des Bundes in ausreichendem Maße anzutreffen. Meine Meinung ist: Bibliotheken gehören deshalb in Deutschland auf die politische Tagesordnung.
Die Chance zur kulturellen Teilhabe, das heißt, der Zugang zu Kunst und Kultur, zur Geschichte und zu wissenschaftlichem Denken, ist das Recht eines jeden Heranwachsenden. Neben den Schulen sind die öffentlichen Bibliotheken entscheidende Bildungsorte. Entsprechend müssen wir sie ausstatten - und entsprechend müssen sie in der Lage sein, Freude und Lust an der Kultur, am Wissen, am Lernen zu vermitteln.
Bibliotheken sind das Gedächtnis der Menschheit. Wir müssen dieses Gedächtnis und dieses Wissen sichern - für die Benutzung in der Zukunft. Daher muss auch die kulturelle Überlieferung in gedruckter und digitaler Form langfristig gesichert werden. Die Bibliotheken entfalten hier schon große Aktivitäten, weil sie wissen, dass zu ihren Kernaufgaben die dauerhafte Aufbewahrung der wissenschaftlichen und kulturellen Überlieferung gehört.
Viele alte Bibliotheken in Deutschland sind heute noch nicht auf dem modernen Stand der Feuerschutztechnik - und die Bücher, die sie aufbewahren, sind, wie jemand sagte, "meist in guter Ordnung, aber in schlechter Verfassung". Dringender Handlungsbedarf besteht, wie ich gehört habe, zum Beispiel in der Notwendigkeit der Massenentsäuerung des holzhaltigen Papiers aus der Zeit zwischen 1830 und 1990. Kostbarste Noten und Manuskripte sind von den Schäden durch eisenhaltige Tinte bedroht. Alte Einbände müssen dringend gepflegt werden, denn ältere Literatur wird immer öfter ausgeliehen, seit sie in Computerkatalogen nachgewiesen ist. Eine ebenso große und derzeit besonders drängende Herausforderung ist die Langzeitspeicherung elektronischer Medien, sonst bleiben die zahlreichen Digitalisierungsprojekte in Bibliotheken ohne nachhaltige Wirkung.
In den vergangenen Jahren mussten auch die Bibliotheken, Archive und Museen Sparbeiträge leisten. Die Finanzausstattung vieler Institute liegt heute unter dem Notwendigen, die Personaldecke ist dünn geworden. Viele können ihre Aufgaben der Bewahrung und Erschließung nicht mehr in erforderlichem Umfang erfüllen. Hier hoffe ich auf eine Kurskorrektur.
Die kulturelle Überlieferung in Bibliotheken, Archiven und Museen ist eine geistige Heimat für die Nation. Wir brauchen sie, auch und gerade wenn wir nach vorne schauen und unseren Weg in die Zukunft gehen wollen.
Ich habe Ihnen jetzt ein wenig Schwarzbrot aus dem Alltag unserer öffentlichen Bibliotheken geboten. Das hatte ich den Bibliothekaren versprochen - und ich bemühe mich, meine Versprechungen zu halten -, und der heutige Anlass bietet vielleicht eine Chance dafür, dass diese Dinge gehört werden.
Um es noch einmal mit dem Abt aus dem Namen der Rose zu sagen: "Ein Land ohne Bibliotheken, wäre wie ein Garten ohne Pflanzen, eine Wiese ohne Blumen ...".
Hier in Weimar fängt es schon wieder prächtig zu blühen an. Vielen Dank.
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