Eine Ordensverleihung ist ja, neben der besonderen Ehre, die dem Träger erwiesen werden soll, immer auch eine Ermutigung. Lieber Heinrich August Winkler, Ihnen selbst war die Ermutigung Ihrer Leser – so glaube ich jedenfalls – immer ein besonderes Anliegen.
Bei der Lektüre Ihres bislang letzten Buches müssen wir uns allerdings in Geduld fassen, bis uns Aufmunterung zuteilwird. Dieses Buch, so warnt schon der erste Satz des Vorworts, handelt von einem krisenhaften Zustand. Es spricht von der Krise der Europäischen Union, der Vereinigten Staaten von Amerika und dem transatlantischen Westen insgesamt. Und damit beginnt dann eine mehr als 400 Seiten starke Analyse. Erst deren Ende hält ein – immerhin – ermutigendes Zeichen bereit.
Als ich das las, dachte ich bei mir: Das ist es, was den Historiker vom Politiker unterscheidet. Wohl kaum ein Politiker, noch dazu einer in Regierungsverantwortung, würde es sich erlauben, seinem Publikum gleich zu Beginn mit einer multiplen Krise aufzuwarten, um ihn dann über 400 Seiten warten zu lassen.
Wer unter dem Begriff Krise
den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung versteht, den müsste bei dieser Lektüre eigentlich ein Schwindel erfassen. Denn tatsächlich verhandelt dieses Buch Zerbricht der Westen?
nichts Geringeres als das mögliche Scheitern der Ordnung, in der wir leben. Es lässt uns eine Entwicklung nachvollziehen, in der die Krise immer dichter aufeinander folgen. Überhaupt: Das Wort Krise
scheint ja in den vergangenen Jahren im Vokabular der europäischen und internationalen Politik und derer, die darüber schreiben, von der Bezeichnung eines Ausnahmezustands eher zum Normalfall geworden zu sein.
Doch bei Heinrich August Winkler bleibt der Taumel aus. Man gerät in keinen verhängnisvollen Sog. Winklers Geschichte des Westens
, zu der auch dieses letzte Buch zählt, hat genau den gegenteiligen Effekt. Die Lektüre ernüchtert auf eine gute und – wie ich finde – notwendige Weise. Das Buch schafft Klarheit, ordnet und beurteilt. Nicht weil es dem Autor an Emphase mangelt – an seinem Lebensthema, seiner Haltung hat Heinrich August Winkler nie einen Zweifel gelassen –, sondern weil die Sache es erfordert.
Ich finde, dies ist eine intellektuelle Haltung, die wohltut in Zeiten, in denen sich düstere Untergangsszenarien und von Klickzahlen getriebene Empörungsarien ein publizistisches Rennen liefern. Auch in sogenannten Krisenzeiten
bleibt meines Erachtens eine nüchterne, aber wichtige Erkenntnis, die uns zuletzt vielleicht deutlicher vor Augen getreten ist als noch vor zehn oder 20 Jahren, nämlich: Weder das Scheitern noch das Gelingen unserer Gesellschaftsordnung ist schicksalhaft vorgezeichnet. Die Zukunft ist offen und sie ist ungewiss.
Und das bedeutet: Im normativen Modell des Westens
, dem Lebenswerk Heinrich August Winklers, liegt zuallererst und vor allem immer noch die Möglichkeit einer gelingenden Gesellschaft. Somit war für mich Heinrich August Winklers Werk immer auch ein Appell für politische Gestaltung – und Gestaltbarkeit!
Nichts in der Geschichte und kaum etwas im persönlichen Leben ist zwangsläufig. Aber Heinrich August Winkler kam auch nicht zufällig zu seiner Fragestellung. Geboren in Königsberg in der Zeit des Nationalsozialismus, mit dem nicht eben leichten Gepäck der Kindheitserinnerungen von Krieg und Zusammenbruch auf dem Rücken, begann er seinen intellektuellen Weg gemeinsam und verbunden mit der Bundesrepublik. Die Verortung und Selbstvergewisserung dieser zweiten Demokratie, die – das war das Credo seiner Generation – nicht das Schicksal der ersten erleiden sollte, liegt seiner wissenschaftlichen Arbeit bis heute auch lebensweltlich zugrunde. Nicht ganz zufällig also die intensive Erforschung der Weimarer Republik, ihrer Parteien, ihrer mittelständischen Schichten, ihrer Arbeiterbewegung. Nicht zufällig von der Weimarer Frage ausgehend die größere Frage, warum der Konstitutionalismus und die demokratische Revolution in Deutschland so lange auf sich warten ließen.
Die akademischen Auseinandersetzungen, die großen Kontroversen der Zunft, beginnend mit der Fischer-Kontroverse über die Schuld des wilhelminischen Kaiserreiches am Ersten Weltkrieg, über den Charakter der Revolution von 1918, über die Ursachen des NS-Regimes bis hin zum Historikerstreit der 1980er-Jahre und zur Frage der Normalität des deutschen Nationalstaates, diese Kontroversen waren bei Heinrich August Winkler immer mehr als nur kühle Wissenschaft. Es ging leidenschaftlich zu. Und das aus gutem Grund. In diesen Kontroversen wurde gewissermaßen um die Seele Deutschlands gerungen, oder, schlichter gesagt, um die Lehren aus einer katastrophalen Gewaltgeschichte.
Lieber Heinrich August Winkler, Ihre Stimme ist seit vielen Jahrzehnten in zahlreichen dieser Debatten klar vernehmbar. Die Kraft dieser Stimme liegt aber nicht nur darin begründet, dass Sie ein wirklich begnadeter Vortragsredner und Autor sind. Vor allem kommt darin die Autorität des methodisch arbeitenden und mit profunder Quellenkenntnis argumentierenden Historikers zum Ausdruck. Das Wissen sollte dem Werten vorausgehen. Daran zu erinnern, ist heute wieder besonders nötig. Und Sie, verehrter Herr Winkler, haben dieses Ethos immer verkörpert.
Dabei waren Sie nicht zuletzt einer der Innovatoren ihres Fachs, der immer wieder zahlreiche Schülerinnen und Schüler anregte. Das Lösen der Geschichtswissenschaft in Deutschland aus der Klammer einer apologetischen Nationalgeschichte, die Kenntnis Max Webers, die Einbeziehung der modernen Sozialwissenschaften mit ihrem Blick für soziale Gegensätze, die europäische, die internationale Horizonterweiterung, all das haben Sie vorangetrieben.
Auch in diesem geschichtswissenschaftlichen Paradigmenwechsel vollzog sich wohl das, was Jürgen Habermas in einem vielzitierten Satz so zusammengefasst hat: Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit.
Ich möchte hinzufügen: Diese intellektuelle Öffnung unseres Landes für Freiheit und Demokratie ist zu einem guten Teil auch die Leistung von Heinrich August Winkler.
Ralf Dahrendorf hat einmal die Kardinaltugenden der Freiheit wie folgt beschrieben: Um der Unfreiheit zu widerstehen, brauche man, neben gedanklicher Klarheit und Standhaftigkeit, die Disziplin des engagierten Beobachters, der sich nicht vereinnahmen lässt, und die leidenschaftliche Hingabe an die Vernunft als Instrument der Erkenntnis und des Handelns
.
Leser und Leserinnen Heinrich August Winklers schätzen eben diese thematische, gedankliche und moralische Klarheit. Sie macht seine Bücher zu einer prägenden Lektüre, für das breitere Publikum ebenso wie für Historiker und Politiker.
Den Außenpolitiker etwa lehrt Heinrich August Winkler, die Koordinaten seines Standortes genau zu bestimmen, denn auch die Selbst-Verortung ist wichtig in einer Welt, die – wir erleben es – ständig neu vermessen wird. In einer solchen Situation ist guter wissenschaftlicher Rat teuer, und ich war und bin da gerne Ihr Schüler gewesen.
Lieber Heinrich August Winkler, es war also kein Zufall, dass wir uns häufiger begegnet sind in den vergangenen Jahren. Zuletzt erst vor wenigen Monaten, als wir im Rahmen des Forums Bellevue zur Zukunft der Demokratie eine Frage diskutiert haben, die auch Ihre Frage ist: Welche Zukunft hat der Westen?
Eine dieser Begegnungen, im Februar 2015, ist mir besonders eindrücklich in Erinnerung geblieben. Sie stellten damals den vierten Band Ihrer Geschichte des Westens in der Berliner Nikolaikirche vor. Geplant war er als Abschluss Ihres Opus Magnum. Doch an diesem Februarabend in der Mitte Berlins hatten wir alle, Podium wie Publikum, und ich glaube auch Sie, das Gefühl: Diese Geschichte, die Geschichte des Westens, ist weit entfernt von einer Vollendung, von einem Abschluss. Sie ist im Fluss, und dieser Fluss ist kein ruhiger Strom.
Und schon bald nach unserem denkwürdigen Abend dort kamen noch ein paar Turbulenzen hinzu, über die wir zwar schon geredet haben, deren Ausgang wir aber noch nicht kannten: das Brexit-Referendum zum Beispiel, die Wahlerfolge rechtsnationaler, anti-europäischer Parteien in Europa, und ganz besonders das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in den USA.
Der Westen, so haben Sie an jenem Abend gesagt, präsentiere sich in der Gegenwart als ein zutiefst uneiniges Gebilde. Und ich finde, um die Gründe dieser Uneinigkeit zu verstehen, reicht es kaum, nur auf andere zu zeigen und sich beständig zu empören, über das, was zum Beispiel derzeit aus dem Weißen Haus dringt. Diejenigen, die jetzt in Deutschland mit einer gewissen kulturellen Hochnäsigkeit dem Bruch mit den USA das Wort reden, die frage ich, ob wir es in Europa nicht mit durchaus ähnlichen gesellschaftlichen Herausforderungen zu tun haben:
Die Verrohung in der politischen Sprache, besonders im Netz, gehört aus meiner Sicht dazu; auch die zunehmende Polarisierung und eine schwindende Bindekraft der politischen Mitte; das Auseinanderdriften von Lebenswelten, etwa zwischen urbanen Ballungsräumen und ländlichen Regionen.
Ich befürchte, die Entwicklung, die in Amerika schon tiefe und weithin sichtbare Gräben gerissen hat, die kann man auch bei uns bemerken. Es sind Risse, keine Gräben, aber sie sind auch nicht harmlos. Und gerade deshalb rate ich uns, unsere gewachsenen transatlantischen Kontakte und Gespräche eher zu vertiefen, statt sie über Bord zu werfen.
Denn, so endeten Sie damals, lieber Heinrich August Winkler, an jenem Abend im Februar 2015: Trotz aller Widersprüche, haben Sie gesagt, gebe es da etwas, das den Westen im Innersten zusammenhalte. Ja, das Paradox sei geradezu, dass der Westen an globaler, wirtschaftlicher und geopolitischer Bedeutung einbüße, zugleich aber an Anziehungskraft gewinne.
Was diese Gravitation gegen die Fliehkräfte der westlichen Gesellschaften auszurichten vermag, das genau ist und bleibt Ihr Thema. Um diesen Kern, um die Errungenschaften der Amerikanischen, der Französischen Revolution, um all das kreist Ihr Schaffen: um die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte, die Herrschaft des Rechts, die Souveränität des Volkes, Gewaltenteilung und repräsentative Demokratie.
Wir alle wissen, dieses von den Verfassungsvätern der USA und von den Europäern erstrittene und erkämpfte Modell des freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaats, dieses Modell hat Gegner. Nicht die äußeren Antipoden müssen uns dabei am meisten sorgen, sondern die im Inneren unserer Gesellschaften lauter werdenden Verächter von freien Medien, gewählten Politikern und von Parlamenten. Und deren stärkste Waffe ist das Misstrauen. Die von ihnen so deklarierte Glaubwürdigkeitskrise
richtet sich nicht nur gegen Medien, sie richtet sich gegen gesellschaftliche Eliten und Verantwortung insgesamt, gegen Vertreter des Staates ebenso wie gegen Vertreter der Wirtschaft und, Sie erleben es, auch gegen Repräsentanten der Wissenschaft.
Auch gegen die Geschichtswissenschaft. Kann man über die Vergangenheit eine glaubwürdige Aussage treffen? Ist nicht jedes Nachdenken über die Vergangenheit schon Deutung, also subjektiv, und jede Aussage über die Vergangenheit damit eher eine Erzählung? Wahrscheinlich würde Heinrich August Winkler, und vielleicht sagt er es gleich, sogar mit Ja
antworten. Die Frage ist nur, was folgt daraus, wenn man das bejaht? Dass jede Aussage über die Vergangenheit eine Erzählung ist, heißt ja deshalb noch nicht, dass sie frei erfunden ist.
Alle Urteile
– ich zitiere – zur Gegenwartsgeschichte stehen unter dem Vorbehalt des Vorläufigen und des Subjektiven
. Das hat Heinrich August Winkler an jenem Februarabend in der Berliner Nikolaikirche noch einmal ausdrücklich gesagt. Der Darstellung der jüngsten Vergangenheit deshalb auszuweichen, sei kein Ausweg aus dem Dilemma. Wir würden uns um unsere Urteilskraft bringen, sagt er, wenn wir darauf verzichteten. Und wir können und dürfen auch der Zukunft nicht ausweichen. Mit einer an Heinrich August Winkler geschärften Urteilskraft muss uns vor dieser Zukunft auch nicht bange sein.
Lieber Professor Winkler, deshalb bitten wir Sie auch künftig um Ihr Engagement, um Ihr kritisches Wort als Beobachter, als Analytiker und auch immer wieder als Ratgeber.
Herzlichen Dank.