60 Jahre Parlamentarische Gesellschaft sind ein sehr guter Grund zum Feiern. Ich gratuliere Ihnen herzlich zu diesem runden Geburtstag!
Von der Gründungsversammlung am 1. April 1951 berichtet Ihre erste Geschäftsführerin Gräfin Werthern: „Die Parteizugehörigkeit der Einzelnen war mir unbekannt. (…) Aber wie sympathisch, dass an diesem Abend die vielen Gäste, die alle Mitglieder des Bundestages waren, friedlich zusammensaßen, ohne auf die Parteizugehörigkeit zu achten. Man spürte es, dass hier, außerhalb der Arbeit im Bundeshaus, eine gemeinsame Basis gesucht wurde.“
Diese gemeinsame Basis unterscheidet die Deutsche Parlamentarische Gesellschaft von den Vorgängern, die es schon im Umfeld der Paulskirche gab. Denn jene waren politische Vereinigungen, Vorgänger der Fraktionen. 1951, bei der Gründung der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft, war die Zielsetzung aber eine andere. Die Pflege der menschlichen, sachlichen und politischen Beziehungen der Mitglieder der Parlamente, jenseits der parteipolitischen Grenzen - dieses Projekt ist gelungen und gelingt täglich von Neuem. Dieses Projekt ist in Berlin noch wichtiger als in Bonn, wo die Wege kurz und in dem alles überschaubar war. Die persönlichen Beziehungen, das Menschliche trägt dazu bei, dass Beleidigungen des politischen Gegners in unserer parlamentarischen Kultur eher selten sind, ihr körperliche Auseinandersetzungen gänzlich fremd sind. In der Parlamentarischen Gesellschaft sah man immer Abgeordnete aus allen Parteien. Politische Gegner diskutierten vertraulich miteinander, von Versöhnungsessen wird berichtet und langen Skatabenden. Und selbst Koalitionen wurden hier schon geschmiedet. In meiner Zeit als Ministerpräsident habe ich selbst einmal die Parlamentarische Gesellschaft genutzt und hier bis nachts um 2.00 Uhr die Ruhe gefunden, um mich wegen einer grundsätzlichen Differenz mit meinem Stellvertreter auszusprechen.
Zu dieser Atmosphäre trug der Club-Charakter nach britischem Vorbild bereits in Bonn im Sitz der Gesellschaft bei, der „legendären“ Villa Dahm in der Dahlmannstraße 7 – schon die Adresse hatte demokratisches Flair. Ihr heutiger Sitz ist ein nicht minder historischer Ort. Im Reichstagspräsidenten-Palais residierte lange Zeit Paul Löbe, der auch dem Gebäude, in dem wir jetzt feiern, seinen Namen gab. Er lud zu parlamentarischen Abenden, seine Gäste waren aber nicht nur Politiker aus dem In- und Ausland, sondern Schauspieler, Sänger und Künstler. Schon damals war das Haus das, was es als Sitz der Parlamentarischen Gesellschaft heute ist: ein Ort der Begegnung!
Heute ist sie aber auch ein Ort mit historischer Symbolkraft: Unmittelbar an der Grenze zwischen Ost und West gelegen. Blickte man von hier nach Westen, so sah man in die Freiheit, blickte man nach Osten, so schaute man in die Unfreiheit. Dieser symbolkräftige Ort erinnert immer wieder daran, was Heinz Galinski so ausgedrückt hat: „Demokratie kann man keiner Gesellschaft aufzwingen, sie ist auch kein Geschenk, das man ein für allemal in Besitz nehmen kann. Sie muss täglich erkämpft und verteidigt werden.“
Und es ist eine besonders schöne und emotionale Geste, dass an diesem Ort heute ein Pole als Präsident des Europäischen Parlaments des wiedervereinigten Europa unser Ehrengast ist. Die Polen haben für die Freiheit besonders gekämpft.
Die Errungenschaft der Demokratie setzt jenseits des sachlichen politischen Streits einen Grundkonsens voraus, den auch Sie in den Mittelpunkt Ihrer Vereinigung stellen: die Verpflichtung auf das Gemeinwohl und nicht nur die Vertretung partikularer Interessen. Dazu gehört der Gedankenaustausch, das Gespräch, die Diskussion. Diesen Ort bietet seit 60 Jahren die Deutsche Parlamentarische Gesellschaft – die „Welt“ hat es so ausgedrückt: „Eine Art politisch entmilitarisierte Zone mitten auf dem Hauptkampfplatz der Parteien.“ Oder um es mit dem großen Carlo Schmid auszudrücken: Die DPG sei der Ort, "an dem man sich begegnen kann als jener, der man ist (…) und wo Toleranz nicht bedeutet, daß man den anderen nur erträgt, sondern daß man ihn in seinem Anderssein bejaht und haben will."
Der 60. Geburtstag einer Parlamentarischen Gesellschaft ist aber nicht nur Anlass zum Feiern. Er ist auch eine Gelegenheit, über den Zustand unserer Demokratie – unseres repräsentativen Systems nachzudenken. Denn nach wie vor hat die „Politikverdrossenheit“ Konjunktur, nach 60 Jahren spricht manch einer von einer „Krise des repräsentativen Systems“, nicht nur in Deutschland und nicht nur in Europa: Die Zukunft der Demokratie war ein Thema, über das ich vorgestern mit Präsident Karsai und heute Morgen mit dem Präsidenten Uruguays gesprochen habe. Und ein Phänomen spielt in diesen Gesprächen immer eine Rolle, das wissenschaftlich mit dem Etikett der „Postdemokratie“ beschrieben wird: Die Institutionen existieren zwar formal, aber die Entscheidungen würden tatsächlich woanders getroffen.
Ist das alles übertrieben? Oder müssen wir die Kritik und die Symptome ernst nehmen?
Die Tendenz abnehmender Beteiligung an Landtags-, Bundestags- und Europawahlen ist vielfach beklagt worden. Andererseits wünschen viele Bürgerinnen und Bürger eine stärkere unmittelbare Beteiligung an Entscheidungen. Ein Anliegen, das sich immer häufiger auch in Demonstrationen und Widerstand gegen parlamentarisch getroffene Entscheidungen Bahn bricht. Viele Bürger möchten aktiv an politischen Entscheidungsprozessen mitwirken, möchten ihre Auffassungen und Ansichten in die Politik einbringen. In Frankreich wird gerade ein Präsidentschaftskandidat in für alle offenen Vorwahlen bestimmt. Unsere Parteien tun sich mit ähnlichen Experimenten schwer. Unser Wahlsystem lässt dem Wähler wenig Einfluss darauf, wer ihn letztlich im Bundestag oder im Europaparlament vertritt. Und ich frage mich: Woran liegt es, dass eine Partei, die kein vollständiges Programm hat und auch nach offen geäußertem Bekunden für viele gesellschaftspolitische Fragen erst noch nach Antworten suchen muss, bei einer Landtagswahl aus dem Stand heraus 9 Prozent der Stimmen gewinnt?
Ganz offensichtlich ist die Enttäuschung der Bürger über die Politik groß. Vielen Menschen reicht es nicht mehr, mit dem Stimmzettel in regelmäßigen Abständen ihre Repräsentanten zu wählen. Denn der Rückgang der Wahlbeteiligung steht in einem Gegensatz zum politischen Interesse und zu Möglichkeiten im digitalen Zeitalter: Bürgerbegehren und Bürgeranfragen nehmen zu, in über 70 Kommunen gibt es das noch junge Instrument des Bürgerhaushaltes. An einem von mir veranstalteten Bürgerforum in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Stiftung und der Nixdorf-Stiftung haben 10.000 Bürgerinnen und Bürger teilgenommen und über mehrere Monate hinweg politische Fragen im Internet und in Zusammenkünften diskutiert.
Mein Eindruck ist: Wir haben weniger Politikverdrossenheit, sondern unser Repräsentativsystem bedarf immer wieder der Revitalisierung.
Lassen Sie mich nur drei Fälle nennen, zu denen ich nicht wenige Bürgerbriefe erhalten habe:
Wenn sich in Fernsehumfragen Abgeordnete bei Abstimmungen zu ganz grundlegenden Fragen - wie zuletzt in der Frage der deutschen Beteiligung am Eurorettungsschirm - nicht ausreichend informiert zeigen: Welcher Eindruck entsteht dann im Land?
Ein solch – ich befürchte - fataler Eindruck entsteht auch, wenn Entscheidungen binnen kürzester Frist durch das Parlament gebracht werden. Demokratische Prozesse, in denen nur die Resultate von Entscheidungsverfahren abgestimmt werden, die anderswo – in Fachbruderschaften, Expertengremien, Arbeitskreisen, supranationalen oder multilateralen Gremien – abgelaufen sind, müssen jedenfalls solche Bürger und Bürgerinnen ernüchtern, die aktiv über ihre gewählten Parlamentarier mitgestalten wollen.
Und gibt die Politik im Parlament ein gutes Beispiel, wenn der Eindruck entsteht, dass in ganz grundsätzlichen Fragen Fraktionsdisziplin einen Vorrang vor der freien Entscheidung des gewählten Abgeordneten beansprucht?
Solche Entwicklungen enttäuschen nicht nur die Bürgerinnen und Bürger. In vielen Gesprächen mit Abgeordneten erfahre ich: Auch viele von Ihnen sind - zwischenzeitlich oder zumindest gelegentlich - politikverdrossen.
Um die Revitalisierung des repräsentativen Systems zu bewirken, gibt es vielfältige Vorschläge – von mehr plebiszitären Elementen über eine Bürgerbeteiligung bei der Kandidatenauswahl in den Parteien - wie jüngst in Frankreich - bis hin zu ganz neuen Entscheidungsverfahren bei Großprojekten oder Infrastrukturvorhaben.
Nicht nur ich frage mich: Brauchen wir wirklich nur weitere Verfahren, um die Symptome zu bekämpfen? Ist mehr direkte Demokratie auf allen Ebenen ein Allheilmittel? Brächten diese mehr Legitimation für Entscheidungen, gar bessere Entscheidungen unter Berücksichtigung aller Belange, gerade auch der von Minderheiten? Sind direktdemokratische Verfahren überhaupt geeignet, mehr Zustimmung zu erzeugen?
Und ich gebe zu bedenken: Auf Bundes- und Europaebene zu entscheiden, bedeutet, eine Interessenabwägung unter komplexen Bedingungen zu treffen. Der Bau einer Hochspannungsleitung etwa, die Strom von den Windparks der Nord- und Ostsee nach Süddeutschland transportieren soll, quert mehrere Länder, Landkreise und Kommunen. Viele Bürgerinnen und Bürger sind betroffen, unzählige Interessen, Natur- und Landschaftsschutz, Kosten und Wirtschaftlichkeit etwa, sind zu berücksichtigen - letzten Endes hängt am Ausgang der Abwägung die wirtschaftliche Zukunft ganzer Regionen. Und in einem vereinten Europa muss sich das Projekt auch noch in die europäische Gesamtplanung einfügen – alles unter der grundlegenden Prämisse des Gemeinwohls.
Ist es überhaupt vorstellbar, Fragestellungen solcher Komplexität durch Volksentscheide zu lösen? Ich bin sehr skeptisch. Zumal auch andere Aspekte unmittelbarer Demokratie einer ausführlichen Diskussion bedürfen, die noch zu führen ist: Wie lässt sich demagogischer Missbrauch verhindern? Wann sind Plebiszite hinreichend repräsentativ? Welche Auswirkungen haben sie möglicherweise auf tragende Grundsätze unserer Verfassung wie die Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und die Grundrechte?
Aber ich halte eine Diskussion über Formen von Bürgerbeteiligung an Sachentscheidungen für absolut notwendig. Vor allem geht das Argument der Komplexität ins Leere, wenn die Abgeordneten selber erkennen lassen, dass sie nicht nur die komplexen Sachverhalte nicht durchdrungen, sondern selbst allgemein zugängliche Eckdaten nicht zur Kenntnis genommen haben. Meine Erfahrung aus dem erwähnten Bürgerforum ist: Die modernen Möglichkeiten gerade des Internets können genutzt werden, das zeigen viele Beispiele auf kommunaler Ebene. Plebiszitäre Elemente sind - davon bin ich überzeugt - umso eher geeignet, als sie das unmittelbare Lebensumfeld der Bürger betreffen, also eher auf kommunaler, weniger auf Landesebene, am wenigsten auf Bundesebene.
Mit der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie sind wir außerordentlich gut gefahren.
Aufgabe der Politik ist, das Interesse des Gemeinwohls zu wahren, Modernisierungsbedarf zu erkennen, Lösungsvorschläge zu erarbeiten und die entstehenden Belastungen auszugleichen. Die gefundenen Lösungsalternativen müssen aber – und in dieser Frage besteht das entscheidende Defizit – erklärt werden. Wenn wir den politischen Prozess vitalisieren wollen, muss für die Problemlösungen geworben, um Zustimmung gerungen werden. Dazu bedarf es einer frühzeitigen und offenen Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und den Entscheidungsträgern andererseits. Schon jetzt könnten die Bürger von Anfang an am Entscheidungsprozess beteiligt werden, wenn man es möchte. Es bedarf eines stärkeren Zugehens der Politiker auf die Bürger, eines täglichen neuen, unermüdlichen Ringens. Und die fortschreitende Digitalisierung und die erweiterten Möglichkeiten der Information und Kommunikation werden die Politik nachhaltig verändern. Trotzdem: Demokratie ist anstrengend. Wer wüsste das besser als Sie, die Abgeordneten, die außerhalb der Sitzungswochen im Lande, in ihren Wahlkreisen unermüdlich unterwegs sind? Die öffentliche Auseinandersetzung, die Diskussion, auch der Streit gehören nicht nur zur Demokratie, sie sind das Salz in der Suppe.
Jubiläen sind nicht nur Stunden fröhlicher Rückbesinnung. Unser Blick sollte sich in solchen Stunden auch in die Zukunft richten, in die Zukunft unserer Demokratie, die uns allen ein Herzensanliegen ist. Und wenn nicht in der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft, wo wäre dann der Ort, kritische Zukunftsfragen des Parlamentarismus parteiübergreifend anzusprechen, die die Grundbedingungen unserer Demokratie betreffen.
Sie alle – meine Damen und Herren Abgeordneten – haben eine wichtige, verantwortungsvolle Aufgabe. Sie haben ein Mandat, das zeitraubend ist, oft auch mühsam - und oft nicht anerkannt wird. Und trotzdem nehmen Sie diese Verantwortung wahr und setzen sich für das Gemeinwohl ein. Dafür gebührt Ihnen - den aktiven wie den ehemaligen Mitgliedern der Gesellschaft – herzlicher Dank und volle Anerkennung.
Der Parlamentarischen Gesellschaft wünsche ich eine gute, diskussionsfreudige Zukunft! In diesem Sinne: Ad multos annos!